Читать книгу Kojas Haus der Sehnsucht - Alois Theodor Sonnleitner - Страница 7
Unentwegt
ОглавлениеGenau nach drei Stunden Schlafes erwachte Agi, wie sie sich’s vorgenommen hatte. Ehe noch die fünf dumpfen Stundenschläge der Turmuhr verhallt waren, stand sie fröstelnd in ihren Filzschuhen, kleidete sich notdürftig an und ging leise in die Küche. — Die kalte Morgenwaschung machte ihr die Augen klar. Im Frösteln wich die Verschlafenheit von ihr. Das gelbliche Licht der Gaslampe täuschte ihr vor, dass die kleine Küche nun wärmer sei. Rasch noch die Kaffeekanne auf den Gasherd gestellt, und dann an die Arbeit.
Erst wollte die Häkelnadel den vor Kälte steifen Fingern nicht gehorchen, sie spiesste den ohnehin locker gedrehten Faden der schwarzglänzenden Mohair-Wolle; als aber Agi, mit beiden Händen den heissen Kaffeetopf umklammernd, ein paar Schluck vom herben Zichorienabsud ohne Milch und Zucker geschlürft hatte, wurden die Finger geschmeidig und hetzten die Nadel von Masche zu Masche. Bald löste das Gefühl für den Rhythmus der wiederkehrenden Bewegungen das Zählen der Maschen ab; ohne irre zu werden, überlegte die Arbeitende die Notwendigkeiten der Gegenwart und der nächsten Zukunft. — Das Vorhaben, ihre und der Mutter Heimarbeit vor dem Vater geheim zu halten, verwarf sie als unhaltbar. Nur wenn sie schon einen Verdienst hatte, konnte sie des Vaters Vorschlag abwehren. Sie wollte keinen Verdienst ausser Haus; sie wollte bei der Mutter bleiben! Sie rechnete genau aus, wie sie bei weitgehender Einschränkung die Familie doch vor dem Verhungern bewahren könnte, wenn sie von den hundertzwölf Kreuzern Tagesverdienst dem Vater fünfzig Kreuzer Wegzehrung gäbe, damit er seiner Arbeitsuche mit weniger Verdrossenheit nachgehe. So hoffte sie, ihn zu gewinnen. Erst im Laufe des Vormittags, als die Mutter mit ihrem indessen ausgeschlafenen und ernüchterten Manne unter vier Augen in Kojas Kammer gesprochen hatte, fand Agi Gelegenheit, dem Vater von ihrem Verdienste zu erzählen, den sie mit ihm teilen wollte. „’s wird nit lang nötig sein,“ gab er ihr zur Antwort. „Ich bin als Verschieber auf dem Aspang-Bahnhof vorgemerkt. Dort krieg’ ich dreissig Gulden Monatslohn. Und komm’ ich wieder zum Fahrdienst, gibt’s wieder Kilometergelder.“ — Agi war froh, dass der Vater mit keinem Wort auf seinen gestrigen Plan zurückkam. Dass er wieder Aussicht hatte, im Eisenbahndienst unterzukommen, verminderte ihre Sorge nur wenig. Die Trinkgelder konnten wieder sein Unglück werden.
Als der Vater ausgegangen war, rückten Mutter und Agi mit ihrer Arbeit eng zueinander. Heller, als am Vortage fiel das Licht durchs Fenster und liess ahnen, dass der höchste Teil der Hausmauer im Sonnenscheine lag. Schweigend arbeiteten die beiden. Ein liebes Behagen, ein zages Frohsein hatte sich bei ihnen eingestellt. Wieder einmal waren sie aus dem Ärgsten heraus; es ging unzweifelhaft vorwärts und würde noch besser kommen. Agi gedachte der Pöchlarner Zeit. Das Herausarbeiten aus der Not im Prokophause kam ihr so schön vor. Oh, wie lieb war das Hahnenkrähen gewesen, das Schnurren des Katers, das Bienensummen im blühenden Garten! Dann musste sie der tapferen Fischersfrau Walmot gedenken in Jensens Roman „Die Runensteine“; — und dann gedachte sie ihres begonnenen und jäh unterbrochenen Studiums. Wie weit lag das jetzt hinter ihr! Sie sehnte sich darnach, und sie zweifelte nicht, dass sie es wieder aufnehmen werde; später, vielleicht erst nach Jahren; — jetzt ging’s nicht. Durchhalten, den Bruder nicht sinken lassen; der Mutter bessere Nahrung schaffen, dass sie wieder zu Kräften komme. Und dem Koja wollte sie wöchentlich mehr schicken, als nur den versprochenen Gulden. Dass er noch immer nicht geschrieben hatte, dafür hatte sie nur eine Erklärung. Das wenige Geld, was sie ihm gab, langte nicht zur Sättigung; da blieb ihm nichts — aufs Briefporto. Wenn sie jetzt nur gewusst hätte, wo den Zins hernehmen! Plötzlich fuhr sie aus ihrem Sinnen auf. Hatte nicht die Türglocke geklungen? — Wirklich. Der Briefträger war da, und Agi hielt einen dicken Brief in der Hand. — „Von Koja!“ jubelte sie. Mit der Häkelnadel riss sie den Umschlag auf und entfaltete mit vor Aufregung bebenden Händen den grossen Papierbogen, der mit verschieden farbiger Tinte, ja, zum Teil mit dem Bleistift bekritzelt war, als hätte der Schreiber den Brief zu verschiedenen Zeiten geschrieben. Sie las laut, während die Mutter mit offenem Munde lauschte:
„Liebe Agi!
Küss’ die Mutter für mich recht herzhaft, denn mir geht es gut. Nur die ersten Tage waren bitter, da hab’ ich noch keinen Freitisch gehabt. Am Freitag war ich mit dem Brot, das Du mir mitgegeben hattest, fertig geworden; Geld hatte ich auch keines mehr. Da ging ich zur Nachtmahlzeit spazieren. Die Meisterin sollte nicht merken, dass ich Hunger hätte, sie ist eine gute Frau, aber geben könnte sie mir doch nichts, weil ihre fünf Kinder immer noch mehr haben möchten. Und als ich um halb neun Uhr in die Werkstatt kam, wo ich meinen Tisch und meinen Strohsack hab’, waren schon alle schlafen gegangen. Nur Herr Federl, der Gesell, ist noch bei der Lampe gesessen und hat gelesen. Er sagt, bevor er ein gutes Buch bindet, muss er’s gelesen haben. Ich hab’ mich zu ihm gesetzt und wollte lernen. Aber es ist nicht gegangen, weil ich Schmerzen im Magen gehabt hab’. Dann bin ich doch lieber zu Bett gegangen. Aber das Ungeziefer hat mich nicht schlafen lassen, weil die Werkstatt nur alle heiligen Zeiten einmal gekehrt wird. Gegen Mitternacht hat sich der Federl auf sein Sofa gelegt und hat gleich angefangen, zu schnarchen; aber dann hat er aus dem Schlaf geredet; vielleicht hat ihn auch was gebissen. Und der Hunger hat mich gepeinigt; ich hab’ in die Polster hineingeweint. Da ist der Flocki zu mir gekommen, der auch in der Werkstatt schläft wegen der Diebe, und hat mir die Hand geleckt, ich sollt’ nicht weinen. Und dann ist die Katz’ gekommen, die auch in der Werkstatt übernachtet wegen der Mäus’. Sie hat auf meiner Bettdecke herumgetreten und hat sich ein Nesterl gemacht; dann hat sie geschnurrt. Da war mir leichter. Ich hab’ müssen an unsern Dummerl denken und an den Dschogg. Dann hab’ ich an Euch, an die Übleisin und an die alte Weningerin in Zelkinga) denken müssen. Damals hat mir aber der Hunger nicht so weh getan wie diesmal. Und in der Früh war mir übel vor lauter Hunger. Da bin ich mit dem Häferlb) von der Mutter (das so schön rotbraun gefladert ist wie Kirschholz) zur Greisslerinc) gegangen, wo ich schon dreimal Milch zum Frühstück gekauft hab’. Die Greisslerin ist eine gute Frau, sie kocht mir die Milch ab und schenkt mir’s heiss ein. Sie hat schon auf mich gewartet. Ich hab’ mir die Milch einschenken lassen und ein recht grosses Schusterlaiberld) ausgesucht und dann — ich hab’ eine Angst gehabt, dass sie mir was anmerkt — greif’ ich in den Hosensack: Bitt’ um Entschuldigung, ich hab’ mein Börsel nicht bei mir.“ — „Aber das macht nichts, Herr Student,“ sagt sie und lacht dazu, „zahlen’s halt ein andresmal.“ — Ich kann Euch nicht sagen, wie’s mir zuhaus geschmeckt hat. Das Brot hab’ ich eingebrockt und hab’s herausgelöffelt. Und da war mir gleich besser. Und wie ich dann mittags von der Schul’ komm’, find’ ich schon den Laib Brot und den beigepackten Brief von Euch, samt dem Guldenzettel. Da hab’ ich mich geschämt, dass ich gestern geweint hab’. — In der Werkstatt ist der Gesell zu mir recht gut. Erst hab’ ich beim Heften nur zureichen dürfen und jetzt darf ich schon selber an der Lad’ arbeiten. Der Gesell ist ein Lesenarr wie der Lambrecht beim Berger in Melk. Er borgt mir Jules Vernes Bände, die ich noch nicht kenn’, und andere Bücher, die noch spannender sind.
Die Meisterin hat bei ein paar feinen Kundschaften für mich um Kosttage gebeten, und keiner hat ihr’s abgeschlagen. Da ess ich jeden Tag wo anders zu Mittag, überall mit den Leuten bei Tische und bekomm’ auch eine Serviette. Nur bei Lüttelmeyers haben sie mir in der Küche zu essen gegeben mit dem Dienstmädchen; und die Kinder haben sich um mich gestellt, und haben mir in den Mund geschaut. Da hat’s mir die Kehle zugeschnürt, dass ich nicht hab’ schlucken können. Ich wollt’ nicht, dass mich die Kinder weinen sehen, und bin weggelaufen. Ein Stück Brot von Euch war mein Mittagmahl. Der Meisterin hab’ ich’s erzählt. Da hat sie mir einen andern Kosttag verschafft. Am liebsten geh’ ich am Donnerstag in das kleine Haus an der Promenade, das ist ganz mit grauer Ölfarb’ gestrichen, und die Dame ist immer in grauer Seide. Sie ist sehr schön, aber sie ist meist traurig. Sie legt mir gern zweimal vor. Sie hat mir gesagt, ihr Franzi wär’ jetzt in meinem Alter, wenn er nicht voriges Jahr gestorben wär’, und er war so blond wie ich. Und ihr Mann ist immer im Rollstuhl, weil er im Kreuz gelähmt ist. Und weil ich keinen Überzieher angehabt hab’, wie’s vorige Woche so kalt war, hat sie den von ihrem Sohn aus dem Kasten geholt und hat mir ihn geschenkt. Ich hab’ ihr nicht gesagt, dass ich den Wettermantel von Dir hab’; denn der Überzieher ist sehr schön; er ist mit Seide gefüttert. Die Mitschüler haben mich ganz gern, weil ich den Miksch so geboxt hab’, den sie alle fürchten. Der hat mich gleich am ersten Tag in der Zwischenstund’ gefordert und hat mich so geboxt, dass mir die Rippen wehgetan haben. Da hab’ ich mir aus einem alten Zeichenblockdeckel einen Panzer gemacht und hab’ ihn unterm Hemd vor den Magen gebunden. Dann hab’ ich ihn gefordert und hab’ ihn so verboxt, dass er jetzt Ruh’ gibt. Jetzt brauch’ ich keinen Panzer mehr. Ich kann schon gut boxen.
Die Guttmannstals (die haben eine Wechselstube), die sind auch sehr lieb zu mir; die Frau gibt mir immer von der Mehlspeis’ etwas mit, damit ich was zur Jause hab’. Und der Sohn, der bei uns in die Fünfte geht, komponiert schöne Sachen fürs Klavier, die sind bei meinem Meister in der Auslage. Und der Professor Kaim ist ein Dichter, der macht mit ihm Operetten. — Aber beim Doktor Müller hab’ ich einen überzähligen Freitisch, den zahlt er mir in der Bahnhofrestauration. Der ist Advokat und Junggeselle und spielt im Hochamt die Cello-Soli. Und weil ich schon alle Mittage hab’, ess’ ich erst mit ihm am Sonntag abend in der Bahnhofrestauration, da kann ich mir nach dem Speiszettel aussuchen. Und da lass ich mir einen Kalbsbraten mit Reis geben und Zellersalat, ein Glas Pilsner Bier und zwei Salzstangel. — Ich bin nur froh, dass es Euch auch gut geht, weil der Vater die Anstellung beim Stellwagen hat. Liebe Agi, geh’, sobald du kannst, ins Hofmuseum, in der alten Burg neben der Hofbibliothek, wo sie den japanischen Riesensalamander haben und ins Vivarium im Prater, wo die jungen Bären Schlitten fahren. Und wenn Du in den Wurstelprater kommst, geh’ zum Schwarzkünstler Kratky Baschik, der kann eine Uhr im Mörser zerstampfen und dann macht er sie wieder ganz. Der Schott hat mir das erzählt. Agi, warst Du schon im Burgtheater, das soll sehr schön sein, wenn’s den Tell spielen, und in Schönbrunn, wo die Giraffen sind und die Löwen; auch einen Gorilla sollen die dort haben, aber das glaub’ ich nicht; der Schott schneidet so viel auf,e) er singt immer: „Es gibt nur a Kaiserstadt, es gibt nur a Wean.“ Und die Burgmusik soll auch so schön sein, wenn’s die Wach’ ablösen. Wenn Du kannst, liebe Agi, schick’ mir bald mehr Geld; im Mai machen wir einen Klassenausflug nach Melk; und da möcht’ ich gern mitfahren. Die Konviktisten sollen sehen, was ich jetzt für einen neuen Überzieher hab’. Ich schliesse und bitte den Vater, wenn der Agent kommt, soll er mir den Carus Sterne abonnieren „Die Wunder der Natur“.
Es küsst Euch Euer
Koja.
P.S. Und ich danke Euch schön dafür, was Ihr geschickt habt.“
Die Tränen der Mutter waren versiegt. „Koja verhungert nicht.“ — „Er scheint auch nur ans Essen zu denken,“ warf Agi ein. „Das ist auch vorläufig die Hauptsache,“ verteidigte ihn die Mutter. Beide nahmen ihre Akkordarbeit mit erhöhtem Eifer auf. Und während die Mutter im Nachgenuss der guten Nachrichten jede einzelne Stelle des Briefes wieder besprach, ging Agi häkelnd im Zimmer auf und ab. Sie war sehr erregt. In ihr kämpfte die Freude mit ernsten Sorgen. Sie begann sich den Brief zurechtzulegen, den sie dem Bruder schreiben wollte.
Aber erst am andern Tage, als sie ihr Tuch fertig gehäkelt, der Mutter beim Nähen der letzten zwei Säcke geholfen, die Arbeit abgeliefert und neue gebracht hatte, schrieb sie mit ihren festen Zügen:
„Unser lieber Koja!
Mutter hat über Deinen Brief vor Mitleid und Mitfreude geweint. Ich aber sage Dir: Meine Sorge um Dich ist gross. Du gefällst mir nicht. Ich fürchte, Du studierst mit weniger Eifer, als Du issest und trinkst. Sei froh, dass Du ein wenig Hunger gelitten hast, desto dankbarer bist Du jetzt den guten Menschen, die Dir die reichliche Kost geben. Halt’ Dir vor Augen, dass Du ihnen am Ende des Semesters mit einem schönen Zeugnis Freude machen sollst. Wenn Du nach der Schule in der Werkstatt arbeitest, musst Du doch abends lernen; der Versuchung zum Geschichtenlesen musst Du jetzt widerstehen, sonst fällst Du durch. — Ich wollte Dir verheimlichen, dass der Vater wieder stellenlos ist; aber es ist besser, Du weisst die Wahrheit, damit Du den Ernst zum Lernen bekommst, von dem in Deinem Briefe noch keine Spur ist. — Ich gehe nicht ins Burgtheater, nicht nach Schönbrunn, nicht in den Wurstelprater, ich habe, seit wir in Wien sind, noch kein Weilchen zum Lesen gehabt, ich muss häkeln und die Mutter muss Säcke nähen, sonst würden wir verhungern. Wenn ich mir den Rudi anschau, für den die Mutter nicht genug Milch in der Brust hat, ist mir zum Weinen. Die Mutter kann sich nicht satt essen, woher soll sie die Milch nehmen für den Kleinen? Und wenn wir am ersten Mai die Miete nicht zahlen können, werden wir delogiert. Weisst Du, was das heisst? — Die Möbel werden einfach auf die Strasse gestellt — und dann ist man obdachlos. — Wenn ich daran denke, packt mich die Angst. Aber ich weine nicht; ich denke recht scharf nach, was ich unternehmen könnte. Zu Mutter und Vater mag ich von meinen Sorgen und Plänen nicht reden, bis ich einen Ausweg weiss. Wenn auch ich ein Hunderl hätt’ oder ein Katzerl, so wie Du, wär’ mir leichter. Aber wir haben selber nicht genug zu essen. Dass ich jetzt nicht Geschichten lesen kann, ist schade, vielleicht wär’ da für mich ein Rat, wie es andre gemacht haben. Und dass ich jetzt nicht weiterstudieren kann, ist mir bitter leid; wenn ich schon Lehrerin wäre, könnte ich Euch doch besser helfen. Aber es muss auch anders gehen. Du mach’ Dir keinen Kummer, Du sollst es beim Lernen gut haben. Den Laib Brot und den Gulden werde ich Dir jede Woche schicken, weil Du doch etwas zum Frühstück, zur Jause und zum Nachtmahl haben musst. Aber teil’ Dir alles gut ein, schneid’ nur dünne Brotschnitten; satt werden musst Du dabei nicht, weil Du ja zu Mittag genug bekommst. Für den Ausflug kann ich Dir kein Geld schicken. Ob die Konviktisten in Melk Deinen geschenkten Überzieher sehen oder nicht, ist Nebensache. Die Hauptsache ist, dass wir jetzt alle die schwere Zeit überleben, dass uns nicht der kleine Rudi, oder gar unsere gute Mutter wegstirbt; es wäre entsetzlich, das kannst Du Dir gar nicht ausdenken. Wenn Du in der Früh aufstehst und bevor Du abends einschläfst, denk’ an die Mutter, die für Dich betet, denk’ auch an mich, die ich Dir helfen will, dass Du Doktor werden kannst, denk’ an unser Haus der Sehnsucht, wo wir es den Eltern wollen recht gut gehen lassen, wenn sie einmal alt sind. Wenn Du betest, so sprich mit Gott, der ja überall ist, auch in Dir, sprich mit ihm, dass er Dir einen starken Willen geben soll und einen hellen Kopf, damit Du immer tuest, was recht ist und unterlassest, was die Mutter weinen machen könnte. Dazu ist notwendig, dass Du Dich gut ausschlafest. Damit Du ruhiger schlafen kannst in der Nacht, bitte die Meisterin, dass sie Dir erlaubt, die Werkstatt täglich nach Feierabend auszukehren. — Dann umwickel’ den Besen mit einem nassen Tuch und wisch’ feucht auf, auch unter den Möbeln, damit die Floh-Eier, die im Staub sind, zugrund gehen. Und trink’ ja kein Bier mehr, damit es Dir nicht geht, wie unserm armen Vater, der nüchtern ein guter Mensch ist und bös sein kann, wenn er getrunken hat. Du musst immer gut sein, immer! Und klug musst sein, und einen starken Willen musst Du haben. Lieber Koja, unter den Geschichten, die wir in Pöchlarn gelesen haben, war auch ein Reclam-Büchel „Benjamin Franklins Leben“, von ihm selbst erzählt, das schick’ ich Dir, sobald ich’s auf dem Boden finde, wo ich die Bücher hinter den Trambalken versteckt hab’, damit sie der Vater nicht beim Trödler verkauft. Der verwaiste Benjamin hat vom zehnten Jahr an nicht mehr in die Schule gehen dürfen, da hat er selber gelernt, er war Lehrbub in der Druckerei. Und wie er vierzehn Jahre alt war, da hat er in den Strassen ein Heldengedicht verkauft, das er selbst gedichtet, selbst gesetzt und selbst gedruckt hatte. Später ist er Redakteur geworden. Und wie er von einem Trunkenbold, der Druckereibesitzer war, das Geschäft übernommen hat, da hat er selber seine Werkstatt ausgekehrt, ohne Gehilfen alles gesetzt und gedruckt, selber alle Hausknechtarbeit gemacht; hat fleissig studiert und physikalische Experimente gemacht, Du weisst doch, dass er den Blitzableiter erfunden hat. Er hat selber lehrhafte Geschichten gedichtet und gedruckt, auch Kalender mit Ratschlägen für die Farmer. Und wenn er auch mit dem Schiebkarren liefern gefahren war, alle Mitbürger haben ihn verehrt und haben getan, was er geraten hat, die Kleefelder haben sie gegipst, Blitzableiter auf die Häuser gesetzt, die Strassen reguliert und beleuchtet, die Sicherheitswache, die Feuerwehr eingeführt, alles, wie er’s geraten hat. Und mit Washington zusammen hat er die Vereinigten Staaten Nordamerikas von Englands Tyrannei frei gemacht. — Ist das nicht herrlich! — Mein Koja! Solch ein Besonderer musst Du auch werden, solch ein Mann, der andre anführt zum Guten; das kannst Du am besten erreichen, wenn Du Doktor wirst. — Und weil ich das von Dir hoffe, darum ist mir nicht leid, dass ich meine jungen Jahre in Arbeit verbringe, Tag und Nacht, dass ich gar kein Vergnügen habe, nicht einmal das bisschen Geschichtenlesen, damit nur Du Dich zu einem rechten Manne auswachsen kannst; Koja, mein Koja, lass meinen guten Willen in Dir sein!
Es küsst Dich Deine
treue Schwester und die Mutter.
P.S. Der Vater ist jetzt nicht zu Hause, sonst würde er Dich auch grüssen. Er hat Dich ja auch gern; weisst Du noch, wie er Dir den Martin gekauft hat und das Aquarium? Wenn Du uns wieder schreibst, grüss’ auch den Vater. Deinen Brief kann ich ihm nicht zeigen; er wäre zornig, weil Du ihn nicht gegrüsst hast; er ist unglücklich, weil er nicht so leicht entbehren kann wie die Mutter und ich. — Dafür kann er aber nicht, dass er so schwach ist. Das hat mir die Mutter erklärt. Dem Vater sind doch die Eltern gestorben, wie er zehn Jahre alt war. Er ist bei einem gewissenlosen Vormund unterm Gesinde aufgewachsen und hat sich dort das Trinken angewohnt. Das hat ihn so schwach gemacht. Drum sag’ ich Dir noch einmal so eindringlich, als ich kann: Trinke kein geistiges Getränk, damit Dein Wille stark und Dein Kopf immer klar sei zum Überlegen. Noch etwas will ich Dir schreiben, weil es sonst für Dich verloren wär’: In dem Jahrgang der Gartenlaube, den der Vater beim Trödler verkauft hat, war die Lebensgeschichte des englischen Eisenbahningenieurs George Stephenson: Der hat als Bub im Bergwerk die Stollentürln auf- und zugemacht, wenn die Kohlenhunde durchgeschoben wurden. Erst in der Sonntagsschule hat er lesen gelernt, ist Maschinenputzer geworden, hat sich mit Schuhflicken und Uhrenausbessern, später mit Maschinenreparaturen Geld auf Bücher verdient. Dann hat er die fahrende Lokomotive mit einer selbsttätigen Steuerung am Dampfzylinder erfunden, die erste Eisenschienenbahn gebaut und ist in England und den Niederlanden königlicher Ingenieur geworden. Und dann hat er mit Königen an einer Tafel gespeist. So weit hat es der einst so arme Bergwerks-Hilfsarbeiter gebracht. Koja, Du hast es besser, als er’s gehabt hat. Du kannst leicht Doktor werden. Mach’ die Prophezeiung der Schwammerliesel wahr! — Dass in Dir ein guter Kern ist, weiss niemand besser als wir.“ —
Die nächsten Tage waren für Agi freudenvolle. Durch Ausnützung jeder Minute steigerte sie den Tagesverdienst auf einen Gulden achtzig Kreuzer. Jetzt konnte die Mutier etwas besser genährt werden, und auch die Wochensendungen für Koja waren gesichert.
Lorents Anstellung bei der Aspang-Bahn liess auf sich warten. Dennoch waren Mutter und Agi voll Zuversicht. Vor ihren Fenstern im Hofe begannen ja die verstaubten und verrussten Sträucher schüchtern zu grünen. Unterm Fenster im ersten Stock, vor dem die Hausfrau ihre überwinterten Geranien im grünumgitterten Fenstergärtchen stehen hatte, hing ein Käfig im Freien. Darinnen liess ein rotbrüstiger Edelfink sein lautes Frühlingslied erschallen, und das Gezwitscher der Sperlinge wurde lauter von Tag zu Tag. Mit viel Gezänk und Wichtigtuerei bauten sie hoch oben unterm Dachgesims ihre zausigen Nester, von denen der Wind manchmal ganze Büschel Haare, Strohhalme und Wollfäden hinunterfegte in den Hof, wo die Luft stille stand. Die von keinem Sonnenstrahl beschienene Wohnung hatte bisher geheizt werden müssen, so dass die von Pöchlarn mitübersiedelten Kohlen- und Holzvorräte bedrohlich schwanden; jetzt wurde sie auch ohne Heizen erträglich, wenn auch das Schuhzeug im Waschkasten schimmelte. — Der Frühling, dessen Fortschreiten Agi bei ihren Liefergängen am Blühen der gelben Forsythien in den Parkanlagen wahrnahm, besonders aber die Stimmen der Amseln, die in den Baumkronen des alten Schmelzer Friedhofes flöteten, machten sie ganz froh. Aber mit jedem Tag rückte der erste Mai unerbittlich näher, der Zahltag für den Vierteljahreszins. Noch war es ihr nicht gelungen, auch nur einen Gulden auf den Zins zurückzulegen. Bei der eintönigen Arbeit dachte sie daran, was sie in der Pöchlarner Zeit neben Charles Dickens ergreifenden Schilderungen des Londoner Grossstadtelendes und der Schuldgefängnisse in Zeitungsberichten vom „Delogieren“ armer Wiener Mieter gelesen hatte. Sie konnte in den Nächten nicht schlafen, wann sie sich vorstellte, dass ihre Lieben aus der Wohnung gewiesen, ihr Stubengerät auf die Gasse gestellt würde, wenn sie den Mietzins nicht rechtzeitig zahlen könnten. Würde dies die noch immer schwache Mutter samt dem kleinen Rudi überleben? Agi hatte von Massenquartieren gelesen, wo fünfzig und mehr Personen in einer von Ungeziefer wimmelnden Wohnung nächtigten, vom überfüllten Asyl für Obdachlose, wo die von Bettelsuppen hungrigen Ärmsten der Armen nur schwer eine Unterkunft erhielten. So weit durften ihre Lieben nicht sinken. Was würde denn aus Koja werden, wenn es ihr nicht gelänge, der Verelendung der Familie vorzubeugen? Da blieb kein anderer Ausweg, als die für Koja hergerichtete Kammer an einen Zimmerherrn zu vermieten. Und Agi hatte Angst davor, dass ein Fremder den ohnehin schwer errungenen, immer gefährdeten Frieden des Heims ganz zerstören könnte. Mit ihm konnte die Gemeinheit, Unehrlichkeit, Unsauberkeit über die Schwelle kommen. Es gab aber kein Ausweichen; Armut macht unfrei. Mit schwerem Herzen und geringer Hoffnung schrieb Agi den Ankündigungszettel, um ihn aussen neben drei andere ans Tor zu hängen. Um ihrem Zettel vor den anderen die Beachtung zu sichern, welche des Erfolges erste Bedingung ist, schrieb sie zierlich und doch kräftig: „Ein freundliches Stübchen ist an einen gebildeten Herrn zu vermieten. — Ebenerdig Türe 7“, und umrandete die Schrift mit einem Blütenzweig, dessen einfache Formen sie den Schlingmustern entnommen und kräftig mit Rot und Blau gefärbelt hatte. Als sie liefern ging, hängte sie den Zettel über die andern — und gab ihm den Augensegen. Und als sie zurückkam — war der Zettel weg! — Als sie daheim über die Schwelle trat, wehte ihr der Duft wirklichen Kaffees entgegen. Die Mutter begrüsste sie mit einem leisen und dennoch ausdrucksvollen „Gott sei Dank!“ und führte sie an der Hand ins Zimmer bis zu ihrem Nähtisch. Da lagen neben dem ausgefüllten Meldezettel vier Zehner-Banknoten und fünf Silbergulden. Agi machte grosse Augen: „Ja, ja, wie ist denn das nur möglich?“ — Da schmunzelte die Mutter: „Ich hab ihm’s g’sagt, wie’s wahr ist: wir vermieten, damit wir den Zins zahlen können; und geholfen wär’ uns nur mit vierteljährlicher Vorauszahlung. Da hat er sich die Kammer angesehen und ist geblieben. An demselben Nagel, wo Kojas Geige gehangen hatte, hängt jetzt seine Laute.“ Agi strich sich mit der Rechten über die Stirne, als wischte sie etwas Lästiges weg, das dort gehaftet hatte. Die Mutter aber schob ihr den Meldezettel zu: „Lies doch, wer unser Zimmerherr ist. Er ist kein Fremder.“ Und Agi las: „Peter Urban, Studierender an der Hochschule für Bodenkultur. 21 Jahre alt, gebürtig aus Nierding in Steiermark.“ — Sie hob die Augen fragend zur Mutter: „Ist das der Melker Student, der mit Hans Paul bei uns in der Neuda eingekehrt war?“ — „Er ist’s und hat mich gleich erkannt.“ Da griff Agi nach ihrer Häkelei und begann in freudiger Erregung im Zimmer auf und ab zu gehen. Zufall oder Fügung?
Als Peter Urban kam, war Agi betroffen von seiner Erscheinung. Sie hatte ihn anders im Gedächtnis. Aus dem schmächtigen Burschen war ein stattlicher junger Mann geworden, dessen treuherzige braune Augen mit dem kastanienfarbenen Haar und dem etwas lichteren flaumigen Vollbart gut zusammenstimmten. Was ihm in wenigen Tagen das volle Zutrauen der Mutter und Agis gewann, war die Verehrung, die er für seine eigene Mutter betätigte. Das Bildnis der einfachen Bäurin, deren Scheitel schon silberig schimmerte, stand in der Mitte des Arbeitstisches, so dass die Augen des Studierenden darauf ruhten, wenn er vom Buch aufblickte. Aus Trinkgläsern ragten vor und neben dem Bilde bunte Sträusslein von Frühlingsblumen, wie er sie aus den forst- und landwirtschaftlichen Versuchsgärten in Mariabrunn und Hütteldorf eingetragen hatte. Ein Mann, der das Bild der Mutter mit Blumen umgab, konnte nur ein guter, zartfühlender Mensch sein. — Die Abende verbrachte er anfangs allein in seinem Stübchen bei emsiger Vorbereitung auf die nächste Prüfung. Nur selten stimmte er seine Laute, dann aber sang und spielte er ein Lied ums andere. Einmal in der Woche, am Samstag abend, hatte er drei Freunde bei sich. Es kam Hans Paul, der Dichter, der an der Universität Philosophie studierte, und die beiden Kunstakademiker Leo Kainradl und Dolo Karpellus. Bei Saitenklang, Liedern und fröhlichem Plaudern blieben sie bis Mitternacht beisammen. Und am Sonntag früh wandelten sie alle vier ins Grüne. — Während Urban mit dem Vater Lorent nur beim Begegnen einen kurzen Gruss wechselte und auch Agi anfangs kaum zu beachten schien, wurde er der Mutter gegenüber, die ihn betreute und die er als „Frau Mutter“ anzureden pflegte, bald mitteilsam, zu ihr sprach er von seiner eigenen Mutter; als Witwe verwaltete sie den grossen Hof „Am Kulm“ inmitten ausgedehnter Waldungen. Den Hof sollte er nach Vollendung der Studien übernehmen. Agis stilles, zurückgezogenes Wesen, ihre liebevolle Art, für die Mutter und das Brüderchen zu sorgen, entgingen dem Studenten nicht. Ohne sich in ein Gespräch mit ihr einzulassen, bezeugte er ihr durch ein lebhafteres Aufleuchten der Augen beim Grüssen, dass sie ihm nicht gleichgültig war.
Als Agi am 1. Mai zum Hausherrn den Mietzins zahlen ging, kehrte sie mit einem Korb voll Flickwäsche zurück.
Von diesem Tage an hatte sie samt der Mutter besseren Verdienst; denn sie wurden als gewissenhafte Flickerinnen von Kunde zu Kunde weiterempfohlen. Die schlecht bezahlte Akkordarbeit konnten sie nun aufgeben. Es ging wieder vorwärts. Die Mutter wurde besser genährt und der kleine Rudi nahm zu. Im warmen Mai empfand Agi eine unwiderstehliche Sehnsucht nach Luft und Sonne. Aber nicht die Parkanlagen suchte sie auf, deren Bänke mit Ammen, Soldaten und hüstelnden Alten besetzt waren, sondern sie ging mit ihrem Pack Flickwäsche durch die Allee der blühenden Robinien in den verwilderten, seit Jahrzehnten nicht mehr belegten, menschenleeren Schmelzer Friedhof, dessen halbverfallene Gräber von duftendem Thymian überwuchert waren. Vorüber am Obelisken der Märzgefallenenf) schritt sie zwischen uralten Zypressen, Blutbuchen, Linden und Trauerweiden dahin und machte eine von Holunder und Rankrosensträuchern laubenartig umwucherte Steinplatte, die ein vergessenes Familiengrab deckte, zu ihrer Werkbank. Kaum vernehmbar drang fernher der schwache Hall fahrender Wagen in diesen lieblichen, weltentrückten Winkel; desto inniger aber klang aus dem Schattendunkel blühender Jasminsträucher das halblaute Plaudern eines Schwarzblättchenpaares. Während Agis Hand die Nadel führte, war ein Freuen in ihr, dass sie am liebsten gesungen hätte. Sie fühlte in sich ein stilles, zaghaftes Sehnen nach eigenem Glück; noch wagte sie keinem Hoffen bestimmte Gestalt zu geben. Sie war ja ein armes Mädchen, das nur für die Ihrigen lebte und arbeitete.
An einem regnerischen Sonntagabend geschah es, dass Hans Paul seinen Überrock in der Küche an einen Wandnagel hängte, bevor er sich in Urbans Stübchen begab. Agi, die in ihrer mädchenhaften Verehrung des Dichters sich dessen Rock betrachtete, entdeckte mit Staunen, dass das Satin-Futter unter der Brusttasche durchgerieben war. — Flugs suchte sie in der Flecklade nach einem geeigneten Stoff, schnitt die schadhafte Stelle heraus und setzte den neuen Fleck dafür ein. Mit klopfendem Herzen, als hätte sie etwas getan, wofür sie sich schämen müsste, hängte sie den Rock wieder an seine Stelle.
Zwei Tage später brachte ihr der Postbote einen Brief, in dem nur ein Gedicht lag:
Das Heinzelfräulein
Im alten Sorgenstuhl Grossmütterlein
Erzählte mir vom Heinzelmännchen oft,
Wie es die Arbeit, ehe man’s gehofft,
Zustande brachte, still und schnell und fein.
Vom Heinzelfräulein hat sie nichts erzählt,
Das nachts gar fleissigstill und mitleidsvoll
Mit Wanderers zerriss’nem Kamisol
Die müden Finger sich noch müder quält.
Schon lange lese ich kein Märchenbuch,
Und nun hab ich es selber gar erlebt,
Wie’s märchenhaft zur Geisterstunde webt
Um meines Rocks zerfetztes Futtertuch!
Ja, Poesie und Märchen stirbt nicht aus,
Ich glaub aus vollem Herzen wieder dran!
Dem Heinzelfräulein, das dies Werk getan,
Fliegt dies Gedicht als kleiner Dank ins Haus.
Der dankbare „Wanderer“
Hans Paul.g)