Читать книгу Elly - Unschuldig - Alva Furisto - Страница 7
Kapitel 3
ОглавлениеAufgewühlt sah Elly vom Bildschirm auf. Ihr Blick fiel auf das Bild von Winnie an der Wand. Es zeigte ihn, wie er vor seiner Seifenkiste stand, lachend. Das Lachen eines unversehrten Kindes. Kurz darauf hatte ein Säureunfall sein Gesicht zerstört und seiner Familie und ihm die Möglichkeit genommen, ein normales Leben zu führen. Er tat so, als habe er gelernt, damit umzugehen, dass die Menschen ihn anstarrten, hinter seinem Rücken tuschelten und ihn ein Monster nannten. Je näher sie ihn kennenlernte, desto mehr spürte Elly jedoch seine Unsicherheit und Verzweiflung. Winnie klammerte sich an sie wie ein Kind an ein Spielzeug, das es für unerreichbar gehalten hatte. Und sie? Sie empfand ehrliches Mitleid für ihn. Sie fand ihn nicht abstoßend, vielmehr hatte sie seine Qualitäten als Liebhaber zu schätzen gelernt. Aber Liebe? Was war Liebe? Hatte sie dieses Gefühl denn wirklich jemals empfunden?
Elly dachte an Bryan und seine ersten Berührungen, und plötzlich fühlte sie eine Hitze in sich aufsteigen, die die Erinnerungen an das Erlebnis hinter der Bühne in ihr ausgelöst hatten und die nun nicht versiegen wollte.
Die Emotionen kochten in Elly hoch. Sie wurde zornig. Sie wusste, dass es keine Liebe war, was sie damals für Bryan empfunden hatte. Doch wie hätte sie das wissen können?
Ihr Dad hatte ihr beigebracht, dass es Liebe war. Er hatte sie auf dieselbe Weise geliebt. Wenige Sekunden ließ sie die Erinnerungen an die Zärtlichkeiten ihres Dads zu, doch dann schob Elly die Bilder beiseite. Daran wollte sie nicht mehr zurückdenken. Sie wollte sich an nichts mehr erinnern.
Tränen der Wut rollten über ihre Wangen. Sie stand auf und rannte ins Schlafzimmer. In Windeseile kramte sie einen aufreizenden Bikini hervor, schlüpfte hinein und zog ein dünnes weißes Kleid darüber.
Vor dem Spiegel des Schlafzimmerschrankes betrachtete sie sich nachdenklich. Ihr Teint schimmerte, als habe sie gerade ein Sonnenbad genommen, und ihre vollen Lippen glänzten feucht, als habe sie Lippenstift aufgetragen. Mit ein paar Handgriffen versuchte sie – wie immer vergeblich – ihr langes, lockiges Haar zu bändigen. Dann schaute sie in ihre Augen. Elly wich dem leidenden Blick ihres Spiegelbildes aus und biss sich auf die Lippe. Der Drang, sich Luft zu verschaffen, wurde immer stärker. In diesen vier Wänden eingesperrt zu sein, trieb sie in den Wahnsinn. Sie wusste, was ihr helfen würde. Es hatte ihr immer geholfen. Und ihr Dad hätte es gehasst. Die Erinnerung daran, dass er ihr das Tanzen hatte verbieten wollen, bestärkte Elly in ihrem Vorhaben und zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen.
Mit einem Taxi ließ sie sich zur Bar zehn Meilen vor Ramblewood fahren und verweilte eine ganze Zeit in der Nähe des Eingangs. Ihre Entschlossenheit war ins Wanken geraten. Sie hatte Winnie versprochen, mit dem Tanzen aufzuhören, aber sie hinterging ihn. Elly war schon etliche Male hier gewesen, seit sie bei ihm wohnte. Beschämt von ihrem unstillbaren Verlangen presste sie ihre Lippen aufeinander. Letztes Mal war es ihr misslungen, Erlösung im Tanz zu finden. Vielleicht hatte sie diesen Zugang zum Glück nun auch verloren.
Ihr Blick glitt von den Bäumen auf der anderen Straßenseite wieder hinüber zum Eingang des Klubs. Die schwere Luft der Bar schien bis zu ihr herüberzuwehen, und sie hörte Musik. Die Empfindungen, die die Klänge in ihr auslösten, waren wie eine Droge. Was auch immer geschehen würde – sie musste da hinein. Und wenn sie sich nur genug ihrem Tanz hingab, würde es ihr heute vielleicht gelingen, wenigstens für ein paar Minuten einfach alles zu vergessen.
Es war erst Mittag, doch als sie den Klub betrat, entdeckte sie einige Männer am Tresen.
Jim, der Chef, kam zu ihr und runzelte verwundert die Stirn, während er ihren Körper wohlwollend musterte. »Elly. Der Laden ist fast leer. Ich kann dich nicht bezahlen, wenn du jetzt tanzt.«
»Ist mir egal«, erwiderte Elly und schlug seine Bedenken in den Wind.
»Wenn du am Abend kommen würdest? Nur einmal in der Woche.« Jim wischte mit einem Tuch über den Tresen und sah sie dabei bittend an.
»Das geht nicht. Kann ich jetzt tanzen?« Nervös trippelte sie auf ihren Highheels hin und her und zog einen verführerischen Schmollmund.
»Kannst du, wenn dir das Trinkgeld ausreicht!« Lächelnd wedelte er mit dem Tuch in Richtung des Garderobeneingangs.
Eilig nickte sie ihm zu und lief zu einer der Poledancestangen. Den Umkleideraum brauchte sie nicht. Nur die Luft und die Musik in diesem Raum. Der Rest war ihr gleichgültig.
Voller Vorfreude zog sie sich das Kleid über den Kopf. Den Kopf gesenkt, mit dem Rücken vor der Stange kniend, wartete sie.
Das Intro von Evanescences Bring me to life ertönte.
Elly stellte sich auf, reckte die Arme in die Höhe und umfasste die Stange über ihrem Kopf, während sie ihren Oberkörper nach vorn beugte.
Bei Wake me up umklammerte sie das Metall und hob sich vom Boden ab. Die Beine im Spagat gestreckt umkreiste sie den Stab.
Die wenigen Gäste begannen ihr aufmunternd zuzurufen. Elly war bereits so erregt, dass sie ihren Zuschauern keine Beachtung schenkte.
Wie in Trance glitt sie an der Stange entlang. Als Bilder von Bryan und ihrem Dad vor ihren Augen auftauchten, verscheuchte Elly sie wie lästige Fliegen.
Sie reckte die Beine in die Höhe und schlang sie um den Stab. Kopfüber hing sie daran und glitt mit den Händen, so weit es ging, an dem glatten Metall hinunter. Diese Bewegung wiederholte sie mehrfach, dann ließ sie sich plötzlich hinunterrutschen, als habe sie den Halt verloren.
Kurz vor dem Boden bremste sie ab, die Beine im Spagat. Elegant stellte sie sich auf die Füße, ließ die Stange los und bog ihren Oberkörper nach oben. Ihre Locken tanzten um ihren Kopf. Abermals ergriff sie das Metall und wirbelte mit ausgestrecktem Arm um die Stange herum. Die Worte Bring me to life ertönten und kündigten das Ende des Songs an. Elly bebte noch von der Anstrengung, doch langsam besann sie sich und warf einen Blick auf ihre vier Zuschauer. Verwundert darüber, dass eine Frau vor ihr stand, ging Elly in die Hocke.
Die anderen drei Gäste ließen es sich nicht nehmen, ihr ein paar Dollar in den Bikini zu stecken. Die Frau jedoch hielt ihr das weiße Kleid entgegen.
Nachdem Elly die Geldscheine aus dem Bund ihres Slips gezogen hatte, ergriff sie das Kleid und sah forschend in die grünen Augen ihrer Zuschauerin.
»Danke.« Elly schenkte ihr ein Lächeln.
Die Frau mit den elegant geschwungenen Lippen lächelte freundlich zurück. Elly gefielen die lustigen Sommersprossen auf der Nase ihres zarten Gesichtes. Es wurde von glattem, langem Haar umrahmt, das rötlich schimmerte.
»Darf ich dich auf ein Getränk einladen?«, fragte die Schönheit in angenehm weichem Tonfall.
Elly betrachtete das Bündel Dollarscheine, das ihr der kurze Tanz eingetragen hatte. Zusammen mit dem Geld, das sie bereits in den letzten Wochen angespart hatte, brachte es sie ihrem Ziel näher. Bald wäre sie frei, ihre eigenen Entscheidungen treffen zu können.
Sie beschloss sich zu entspannen und hüpfte von der Plattform der Poledancestange. »Gern«, erwiderte sie.
Neugierig folgte Elly der Rothaarigen an den Tresen.
»Ein Wasser«, sagte sie zu Jim.
»In dieser Welt heiße ich Eve.« Die Frau streckte Elly die Hand entgegen.
Was sollte das bedeuten, „in dieser Welt“?
Elly musterte ihr Gegenüber. Der feste Händedruck entsprach dem ernsten Äußeren der schmalen Frau. Doch ihre eng anliegende schwarze Stoffhose, die weiße Bluse und die Weste darüber passten nicht in diese Bar.
Eve reichte Elly das Glas. Elly trank das Wasser in einem Zug aus und spürte, wie die Fremde sie musterte.
»Danke«, sagte Elly.
Sie warf ihrem Gegenüber ebenfalls einen kritischen Blick zu. Noch vor einer Stunde hatte sie sich danach gesehnt, mit jemandem reden zu können. Doch nun, da sich die Gelegenheit bot, war ihr Mund trocken. Sie brachte kein Wort heraus. Aus irgendeinem Grund misstraute sie dieser Frau. Wer war sie? War sie zufällig hier? Elly beschlich ein seltsames Gefühl. Konnte es sein, dass dies die Psychologin war, die Elly im Internetforum kennengelernt hatte? Lina war der Name, den die Unbekannte im Internet benutzte, aber wie sollte sie so einfach hier auftauchen? Hatte sie in ihren Mails etwas darüber preisgegeben? Krampfhaft versuchte Elly sich daran zu erinnern. Hatte sie mehr als den Namen des Landstrichs angegeben, in dem sie wohnte? Hatte sie die Bar nahe Ramblewood erwähnt? Oder war das nur wieder eine fixe Idee von ihr, und die Frau vor ihr hatte nichts mit ihrer Internetbekanntschaft zu tun?
Aber andererseits – was konnte ihr Besseres passieren, als mit einer Frau zu sprechen? Sonst war Elly in den Bars immer nur auf Männer getroffen, und bei denen gab es nur ein Thema.
»Dein Tanz war toll. Ich könnte das nicht. Machst du das schon lange?« Nachdem Eve die peinliche Stille durchbrochen hatte, leerte sie ihr Glas Hochprozentiges.
»Ich hatte in meiner Kindheit klassischen Tanzunterricht. Dann bin ich in andere Stile gewechselt.«
Eve lächelte, aber Elly konnte nicht genau einordnen, was das Lächeln zu bedeuten hatte.
»Es ist sicher nicht einfach, in solchen Etablissements zu arbeiten. Da ist der Ärger doch vorprogrammiert, oder?« Eve ließ ihren Blick zu ein paar Kerlen an der Bar hinübergleiten, bevor sie Elly direkt in die Augen sah. »Es war jedenfalls fantastisch, dir dabei zuzusehen«, fuhr sie dann fort. »Leider war es viel zu schnell zu Ende.«
Elly blinzelte Eve an und lächelte sanft. »Vielleicht schenke ich dir noch einen Tanz?«
Als Elly Anstalten machte, aufzustehen, um zur Poledancestange zurückzukehren, hielt Eve sie am Arm fest.
»Bitte. Bleib ein bisschen hier!«
Eves Berührung jagte Elly einen kalten Schauer über den Rücken. Sie musterte die Frau noch einmal. In ihren grünen Augen lag ein erregter Glanz, dennoch wirkte sie traurig. Und ihre wohlgeformten Lippen hatten offenbar lange nicht mehr richtig gelacht.
Eves Finger brannten warm auf Ellys Haut. Noch immer starrten sie sich an. Elly riss sich irritiert von Eve los und setzte sich erneut auf den Barhocker.
Jim stellte zwei Gläser Gin vor ihnen ab. Elly nippte daran, während Eve ihr Glas wieder in einem Zug leerte.
Elly biss sich auf die Unterlippe, bevor sie es wagte, Eve anzusehen.
»Warum bist du hier, Eve?«
Die Frau nestelte nervös am Kragen ihrer Bluse und wich Ellys Blick aus. »Ich …« Eve schluckte laut. »Ich brauchte Ablenkung und wollte einfach in eine andere Welt eintauchen. Ich kenne nur …«
Elly lächelte. »Lass mich raten. Du bist sehr behütet aufgewachsen und warst noch nie in einem Nachtklub?«
Mit betroffenem Blick nickte Eve.
»Das ist nicht schlimm«, meinte Elly. »Mir ist es mal ähnlich ergangen. Aber heute wäre ich froh, wenn meine behütete Kindheit niemals geendet hätte und ich nicht hier wäre.«
Elly starrte auf ihr Glas. War es so? Das war doch eine Lüge. Ihre Kindheit war nicht behütet gewesen. Das war, was sie sich wünschte. Aber was ihr Dad getan hatte, war nicht behütend. Es war widerwärtig. Nie hatte sie gewagt, mit jemandem darüber zu sprechen. Nur mit Bryan. Und es hatte ein grauenvolles Ende genommen. Deshalb hatte sie bis heute die Erinnerungen an Bryan begraben, wie so vieles andere auch. Im Verdrängen war sie eine Meisterin geworden.
Eve legte ihre Hand auf ihre. »Du kannst doch einfach gehen. Du musst nicht hier arbeiten. Es braucht vielleicht Mut, aber du kannst dein Leben ändern«, sagte sie.
»Aber ich habe Spaß daran«, erwiderte Elly. »Ich brauche das Tanzen hier vor den Leuten wie die Luft zum Atmen. Aber welcher Mann akzeptiert das?«
Über Eves Gesicht huschte eine Regung, fast so, als wäre ihr eine schmerzliche Erkenntnis gekommen. Elly ahnte, woran sie dachte.
»Das mit den Freiheiten ist so eine Sache«, sagte Eve schließlich. »Aber wenn du sie deinem Partner nicht lässt, treibst du ihn von dir weg. Und wenn du sie ihm lässt, dann …«, Eve räusperte sich und trank einen Schluck, »… dann zerreißt es dir das Herz.«
Elly drückte ihre Hand. »Süße, du hast ja Liebeskummer. Kannst du den Typen nicht loslassen und neu anfangen? Willst du darüber reden?«, fragte sie.
Eve entfuhr ein tiefer Seufzer. Mit geröteten Augen sah sie Elly an. »Ich kann nicht loslassen. Verstehst du? Es ist furchtbar zu wissen, dass es da noch andere gibt. Es bricht mir das Herz, aber ich kann diese Beziehung nicht aufgeben.«
»Ich kenne das Problem. Glaube mir.«
Die Rothaarige sah sie neugierig an. »Geht dein Partner fremd?«
Elly schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin es, die Freiheiten braucht. Die sich in diesen Bars herumtreibt. Nicht wegen Sex.« Elly schluckte und blinzelte kurz. »Weißt du was? Ich denke, ich verwechsele Liebesbeziehungen und Sex. Ich hatte noch nie einen richtigen Partner. Die Typen lieben mich, aber ich sie nicht. Warum sollte ich mich sonst immer wieder in diesen Bars herumtreiben?«
Plötzlich brach Eve in Tränen aus und schlang die Arme um Ellys Hals. Elly legte ihre Hände zaghaft auf Eves Rücken.
»Du hast ja so recht«, schluchzte Eve. »Aber ich kann nicht gehen. Ich habe alles in diese Beziehung investiert, jedes meiner Geheimnisse offenbart. Ich bin erpressbar und verletzlich.« Eve löste sich wieder von Elly, setzte sich gerade auf ihren Barhocker und wischte sich die Tränen aus ihren Augen.
»Entschuldige«, murmelte sie.
»Ist schon gut.« Elly fingerte nachdenklich an ihrem Glas herum und beobachtete die Flüssigkeit darin.
Eve räusperte sich und trommelte nervös mit den Fingern auf dem Tresen. Noch etwas, das nicht in diese Bar passte, fand Elly.
»Was macht dich erpressbar? Kann man es nicht aus der Welt schaffen?« Sie beobachtete, wie Eves rechtes Auge bei dieser Frage nervös zuckte.
»Ich sollte nicht darüber reden. Mit niemandem.« Die Frau schüttelte den Kopf. Ihr rotes Haar umspielte dabei ihr Gesicht und ließ ihre Züge weicher wirken.
»Egal, was es ist. Ich werde schweigen.« Elly legte ihre Hand auf Eves.
»Meine Beziehung ist geheim. Es wäre furchtbar, wenn sie bekannt werden würde.« Eves Worte waren nur noch ein Flüstern.
»Aber dann hat dein Partner das gleiche Problem«, gab Elly zu bedenken.
»Das ist auch nicht, womit ich erpresst werde.«
»Sag es mir. Vielleicht fällt mir etwas ein.« Elly lächelte die Frau ermutigend an.
»Es ist etwas vorgefallen, eine Tat, an der mein Partner beteiligt war und die ich hätte melden müssen. Ich habe zu lange gewartet. Und nun sitze ich in der Patsche. Wenn ich nicht mache, was man mir sagt, kommt alles heraus. Dann gehen wir gemeinsam unter, mein Partner und ich. Dann gerät alles ans Tageslicht.«
»Und so hat jeder sein Geheimnis«, murmelte Elly und starrte wieder in ihr Glas.
Eve zog ihre Hand unter Ellys hervor.
»Mir kann man nicht helfen«, seufzte sie. »Aber was ist mit dir? Was liegt dir auf dem Herzen? Was treibt dich immer wieder an solche Orte?«
Elly schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht sagen. Ich habe es so weit verdrängt, dass ich es schon nicht mehr weiß.« Sie drehte den Kopf, um Eve nicht ansehen zu müssen, und starrte in Richtung der Poledancestange.
»Du musst mit deiner Vergangenheit im Reinen sein, wenn du dir eine Zukunft ohne böse Geister wünschst.«
Elly war kurz geneigt, sie zu fragen, warum sie nicht einfach selbst auf ihre schlauen Sprüche hörte. Doch dazu war ihr dieses freundliche, mit Sommersprossen übersäte Gesicht mit den verheulten Augen viel zu sympathisch.
Nachdenklich starrte Elly weiter vor sich hin und lauschte der Musik. Als sie sich umdrehte, war Eve verschwunden. Elly sah sie gerade noch zur Tür hinausgehen. Auf dem Tresen entdeckte sie eine Visitenkarte. Wenn du wieder Lust auf einen Drink hast, ruf mich an, Elly!, stand darauf. Darunter eine Mobiltelefonnummer.
»Einerlei, was wir uns vornehmen. Wir sind, wer wir sind«, flüsterte Elly.
Sie drehte die Karte in ihrer Hand, ließ die Finger über das glatte Papier gleiten. Woher kannte Eve ihren Namen? Elly hatte ihn ihr nicht verraten. Ihr Verdacht erhärtete sich. Eve war die Psychologin, die sich hinter Lina aus dem Glowgu-Forum verbarg. Es konnte nicht anders sein, Elly war sich ganz sicher. Vielleicht würde sie Eve anrufen und herausfinden, ob sie dieser Frau nicht doch helfen konnte.
Bereits am nächsten Morgen wurde Elly erneut von Langeweile geplagt. Winnie war am Abend zuvor müde gewesen und früh eingeschlafen. Elly vermisste die Leidenschaft in ihrer Beziehung, Winnies Fürsorge hingegen erdrückte sie. Sie saß am Küchentisch und sackte vor Selbstzweifel in sich zusammen. Wie egoistisch sie war! Nutzte sie Winnie letztendlich nur aus? Nachdem Elly ihre Geldbörse aus der Handtasche gezogen hatte, zählte sie die Dollars darin und seufzte tief. Nichts stand ihrem Vorhaben, frei zu sein, mehr im Weg, aber Elly war sich nicht im Klaren darüber, ob ihr Plan aufgehen würde. Sie würde Winnie verletzen. Vor allem deshalb wusste sie nicht, ob sie überhaupt wollte, dass ihr Plan aufging.
Nachdenklich strich sie über die Karte von Eve, die sie ebenfalls in ihrer Geldbörse versteckt hatte. Das Gespräch mit dieser Frau hatte sie genossen. Elly beschloss, nicht mehr lange zu überlegen, und rief Eve an. Ihre neue Freundin schien sich freuen, von Elly zu hören, und als Elly es ihr auf den Kopf zusagte und ihr von ihrem Verdacht erzählte, bestätigte Eve – mit einer Entschuldigung für die Geheimniskrämerei – sogleich, dass sie Lina aus dem Glowgu-Forum war. Elly war es zufrieden, und sie verabredete sich mit Eve in der Mittagszeit in einem Café, denn sie erinnerte sich nur allzu gut daran, wie unwohl ihre neue Freundin sich augenscheinlich in der Bar gefühlt hatte. Aufgeregt fieberte sie dem Treffen entgegen.
Als Elly ein paar Stunden später in das Cafe trat, musterte Eve sie mit kühler Genauigkeit, anders als gestern in der Bar. Die Gesichtszüge der Frau wirkten weich und hart zugleich. Eine starke Anziehungskraft ging von Eve aus, die Elly sehr wohl spürte. Das war ihr noch nie zuvor mit einer Frau passiert. Als Elly sich zu ihr an den Tisch setzte, bewunderte sie kurz das dunkle Etuikleid, das Eve trug. Es umschmeichelte ihre zarte Figur und ließ sie gleichzeitig seriös wirken. Seufzend ließ Elly sich nieder und nickte ihr zu. Verglichen mit Eve sah sie in ihrem kurzen Top und den engen Jeans wohl ziemlich durchschnittlich aus, wenn nicht sogar ordinär.
»Schön, dass du gekommen bist.« Eves warmes Lächeln sandte Elly einen Schauer über den Rücken. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie, etwas Falsches in Eves Miene zu erkennen, doch sie schob dieses Gefühl beiseite.
»Ich freue mich auch.« Elly sah zwei dampfende Becher Kaffee auf dem Tisch stehen. Sie zog einen zu sich und umklammerte ihn.
»Hattest du Ärger mit deinem Mann wegen deines Auftritts?«, fragte Eve.
Elly wich ihrem Blick aus. »Er weiß es noch nicht.« Sie nippte an ihrem Kaffee. »Danke dafür«, setzte sie hinzu.
Eve trank ebenfalls einen Schluck.
»Ich sollte Winnie verlassen, aber was dann?«
»Glaub mir, es ist keine Lösung, mit einem Menschen zusammenzubleiben, bei dem du unglücklich bist, nur weil du keine Ahnung hast, wie es sonst weitergehen soll. Keiner weiß das besser als ich.« Eve stieß den Atem aus und stellte ihre Tasse zurück auf den Tisch.
»Aber du verlässt deinen Partner doch auch nicht? Was hält dich davon ab?« Elly musterte Eve neugierig. Auf den ersten Blick wirkte die neue Freundin so tough, als könne sie nichts erschüttern, und dennoch erkannte Elly in ihren Augen, dass sie etwas quälte.
»Liebe hält mich ab. Und für Liebe gibt es nur eine Lösung.« Eve blickte ziellos durch den Raum, dann konzentrierte sie sich wieder auf Elly.
»Bleiben?« Elly umklammerte den Kaffeebecher fast noch fester, so als müsse sie sich wärmen, und starrte ihr Gegenüber gespannt an.
»Das, oder den Tod.« Die Härte und die Bestimmtheit in Eves Stimme ließen Elly erschaudern.
Sie presste die Augen zusammen. ELLY, stand in großen Buchstaben mit Blut an die Wand geschmiert vor ihr. Ekel durchfuhr sie. Alle Menschen, die ihr etwas bedeutet hatten, waren gestorben. Nur Frank und Winnie nicht. Und sie wäre bereit, alles dafür zu tun, damit das so blieb. Auch wenn es bedeutete, die beiden nie mehr wiederzusehen. Sie dachte an das Geld in ihrer Tasche und ihren Plan, wieder einmal alles hinter sich zu lassen. Aber war das die Lösung? Bisher wurde ihr Leben jedes Mal schlimmer, wenn sie einen Ort verließ.
»Elly? Habe ich etwas Falsches gesagt?« Eves Stimme holte sie aus ihren Gedanken zurück. Obwohl sie ihren Kaffee immer schwarz trank, griff Elly ein paar Zuckerwürfel und warf sie in den verbliebenen Kaffee, nur um etwas zu tun zu haben und Eve nicht ansehen zu müssen.
»Nein. Ist schon gut. Ich …«
Eve ergriff Ellys Hand und sah ihr tief in die Augen. »Was denkst du gerade?«
»Bei dem Wort Liebe denke ich nur an einen Menschen, und der hasst mich vermutlich.« Das Gesicht von Frank erschien vor Ellys Augen. Das dunkle Haar. Seine harten, klaren Gesichtszüge und diese kühlen grauen Augen, die ihn so unnahbar wirken ließen. Das zog sie an. Je unerreichbarer ein Mann bei der ersten Begegnung wirkte, desto interessanter war er für Elly.
»Vermutlich? Du bist dir nicht sicher?« Eve neigte den Kopf und sah sie neugierig an.
Elly spürte Tränen in ihren Augen aufsteigen. Frank und sein Bruder Jacob waren seit langer Zeit die ersten Männer, für die sie etwas empfunden hatte, was vielleicht dem Gefühl gleichkam, das die Menschen als Liebe bezeichneten. Warum sonst ging ihr Frank nicht aus dem Kopf, trotz Winnies Fürsorge? Sie mochte Winnie, aber genügte das?
»Ich bin verantwortlich für den Tod seines Bruders. Wie sollte er mich da nicht hassen?« Elly blinzelte die aufsteigenden Tränen weg und schüttelte verzweifelt den Kopf.
Eve strich zärtlich mit dem Daumen über Ellys Handrücken. »Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden. Stell dich ihm.« Mit diesen Worten stand sie auf und legte ein paar Dollar auf den Tisch. »Danke für deine Zeit, Elly. Ich muss leider zurück an die Arbeit. Aber wir sehen uns wieder, und dann reden wir ausführlicher. Ruf mich an.«
Wehmütig sah Elly ihrer neuen Freundin hinterher. Ihr Entschluss, Winnie zu verlassen, nahm immer mehr Gestalt an, aber Frank konnte sie sich nicht stellen. Und wieder einmal dachte sie an die Möglichkeit, sie selbst könnte für die Gräueltaten verantwortlich sein, die Roger Sykes begangen hatte. Sie musste Frank und Winnie schützen und von der Bildfläche verschwinden. Das war die einzige Lösung.
Plötzlich überkamen sie die Erinnerungen, und sie hörte Frank liebevoll ihren Namen flüstern. Zärtlich berührten seine Lippen ihren Nacken, und seine Finger umschlossen ihre Brüste, während er seinen nackten Oberkörper gegen sie presste. »Ich verzeihe dir«, raunte er ihr ins Ohr. Elly schloss die Augen und atmete tief durch.
»Darf es noch etwas sein?« Sie zuckte zusammen und sah zu der Bedienung auf.
»Nein danke. Nur zahlen bitte.«