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Die Angler

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Hier gibt es keine Aha-Erlebnisse. Hier, in unserem Städtchen. Alle, die es hierher verschlägt, sagen, es sei gemütlich. Das mag stimmen. Zu beiden Seiten der Hauptstraße wachsen mächtige, alte Bäume, deren knorrige Wurzeln sich den Boden entlang ranken und den Asphalt aufreißen, und aus den Fenstern der alten Häuser, die Brände und Kriege überlebt haben, schauen traurige alte Frauen, abends scheppern die Eimer und die Kühe muhen. Gleich hinter der hübschen Renaissancekirche in der Mitte des Städtchens befinden sich die Bäckerei und die Schule, die von Jahr zu Jahr weniger Schüler zählt, das Büro des Seniūnas, des Vorstehers unseres Städtchens, an dessen Wand stets die litauische Trikolore weht, sowie das Kulturzentrum, in dem es schon seit einiger Zeit still ist. Weiter weg vom Zentrum steht am Ufer eines ziemlich großen, binsenumwachsenen Teiches das öffentliche Badehaus, in dem sich am Wochenende fast alle im Städtchen treffen – die Frauen freitags, die Männer samstags.

Wer aus lauter Langeweile durch die leeren Straßen des Städtchens streift, trifft hier unweigerlich auf zwei Personen, die tagein, tagaus unweit des Badehauses wie angewurzelt am Teichufer stehen und angeln. Ab und zu wechseln sie ein paar Worte, rühmen den anderen, wenn er einen größeren Fisch gefangen hat, von denen es hier nicht gerade wimmelt – allein die winzigen gelben Teichkarauschen, die, was den Köder betrifft, nicht wählerisch sind und nicht scheuen, beißen an. Der Ältere, etwas über sechzig, angelt selbst kaum, er beobachtet den Jüngeren, etwa vierzig, nimmt die von ihm gefangenen Fische von der Angel, hängt den Köder an den Haken – und das mit der allergrößten Hingabe. Der Jüngere schaut, wenn er einen Fisch gefangen hat, wie der Ältere ihn von der Angel nimmt und ihn in den Eimer gleiten lässt. Manchmal geraten sie aus irgendeinem Grund in Streit und werfen einander ein paar böse Worte zu, ab und zu schabt der Alte einer Karausche bei lebendigem Leib die Schuppen vom Rücken, bestreut sie mit Salz, beißt genüsslich den fleischigsten Teil des Fischleins ab und wirft den Rest zur Seite, wo für gewöhnlich schon eine gewiefte Mieze darauf wartet. Meist sitzen die beiden schweigend da und ihre Gesichter leuchten ruhig; sie werfen die Angel aus und beobachten den Schwimmer, das Wasser des Teiches, die Wasserläufer auf seiner Oberfläche – das Leben steht nicht still. Würdet ihr diese zwei schweigenden Menschen beobachten, so könnten die beiden euch so vorkommen, als hätten sie etwas Wichtiges, Wesentliches, Ewiges und Beständiges begriffen. Ihr würdet sie wohl kaum anzusprechen und die rundum herrschende Ruhe zu stören wagen. Vielleicht spüren die Bewohner des Städtchens ja dasselbe, wenn sie zum öffentlichen Badehaus oder aus einem anderen Grund an ihnen vorbeieilen, denn nur der eine oder andere grüßt die beiden mit einem Kopfnicken, die meisten aber gehen an ihnen vorbei wie an leblosen Dingen, wie an Bäumen oder Baumstrünken. Die beiden Schweigenden haben zwar jeder seinen Namen und teilen einen Nachnamen, aber im Städtchen nennen alle sie nur noch „die Angler“.

Würdet ihr euch dazu entschließen, einen der Einwohner anzusprechen und ihn nach den zwei seltsamen Männern zu fragen, die da beim öffentlichen Badehaus angeln, wärt ihr wahrscheinlich erstaunt, dass niemand sie mag. Der eine würde lachen, der andere sagen, sie seien gottlose Kerle, die nicht zur Weihnachtsbeichte gehen, noch andere, sie seien ganz einfach Dummköpfe, und dann gibt es noch welche, die wären verärgert über eure Frage. Dennoch würden alle in etwa dieselbe Geschichte erzählen.

Die beiden Motūzas lebten am Rande des Städtchens, hinter der Kirche und dem Schülerheim. Ihre alte und ungestrichene Holzhütte stand zwischen den Häusern des Organisten Augustinas und der einzigen Polin des Städtchens, der Milchfrau Maryla. Die alte Maryla und die anderen älteren Einwohner der Stadt können sich noch gut an Elena erinnern, die Frau des hinkenden Motūzas, die Mutter von Algis Motūzas – eine gutherzige, fromme, aber unterdrückte Frau ohne Stimme. Wenn sie im Städtchen auftauchte, trug sie oft ein dunkles geblümtes Kopftuch, das beinahe das ganze Gesicht bedeckte – alle wussten, dass Elena blaue Flecken und Blutergüsse versteckte. Ihr Mann, der damals noch nicht lahm war, schlug sie beinahe täglich, brutal und erbarmungslos, während Algis, damals noch ganz Kind, sich fast jeden Tag vor Vaters Wutanfällen im Häuschen des wahnsinnig bösen Schäferhundes Dikas, in der Scheune oder bei den Nachbarn versteckte. Und eines Tages sah der örtliche Intellektuelle Štencelis, als er mit seinem Enkel Kęstas im Kiefernwäldchen am Rande des Städtchens auf Pilzsuche war, Elena an einem Kiefernast hängen. Kęstas berichtete darauf den Jungen im Städtchen von der blauen Zunge der Motūzienė, dem Schaum vor dem Mund und den verdrehten Augen. Es gab keinen, der Elena verurteilte, sie tat allen leid. Sogar unser von allen geliebter grauhaariger Pfarrer segnete zwar nicht das Grab, stand aber in Zivil etwas abseits der anderen auf dem Friedhof, schaute zu, wie der Sarg ins Grab hinabgelassen wurde, und betete. Die Einwohner des Städtchens kehrten nach der Beerdigung nach Hause zurück und sprachen davon, dass sich jetzt etwas im Leben des Hurers und Schlägers Motūzas ändern müsse, denn auch ein so böser Mensch habe doch ein Gewissen, das ihn des Nachts nicht einschlafen lasse. Da täuschten sie sich schwer. Nichts änderte sich im Leben jenes Mannes, außer vielleicht, dass er jetzt noch offener herumhurte, die Schlampen mit nach Hause brachte und mit ihnen vor den Augen seines Sohnes verkehrte. Schon wenige Wochen nach dem Tod seiner Frau – Gott sei ihrer Seele gnädig – verwickelte sich Motūzas in eine Schlägerei mit den Brüdern Žegunis und drohte ihnen, zünftig betrunken, mit einem langen deutschen Messer, doch die Brüder waren nicht auf den Kopf gefallen: Der mittlere namens Vladas packte zur Verteidigung ein Brecheisen und brach seinem Gegner nicht nur zwei Rippen, sondern zertrümmerte ihm auch ein Bein. Aus dem Krankenhaus kehrte Motūzas als Invalider zurück und die Leute im Städtchen sagten zu sich, sieh nur, Gottes Strafe. Der Alte fertigte sich einen schweren Eichenstock, änderte aber nicht seine Lebensweise, auch wenn er ruhiger wurde. Als plötzlich die Scheune der Brüder Žegunis wie eine Streichholzschachtel in Flammen aufging, zweifelte niemand daran, wer dafür verantwortlich war. Motūzas war auch weiterhin ein bösartiger, unersättlicher, die Frauen besteigender Hengst, der Schreck aller Kinder im Städtchen – der Mann, der niemals lächelt.

Algis fürchtete seinen Vater. Er wuchs als reizbarer und nervöser Junge heran, hatte keine Freunde, die einzige Person, die er besuchte, war die alte Maryla. Sie gab ihm Birnen und Beeren aus dem Garten, brachte ihm bei, wie man auf Polnisch „Guten Tag“ und „Danke“ sagte. Zum Ablassfest schenkte sie ihm farbige Heiligenbildchen, die er zu Hause wegwarf. Obwohl Algis kein schlechter Schüler war, mochte ihn keiner – weder die Lehrer, denen gegenüber er abweisend war, noch die Schüler, die er verprügelte und ihnen die Kopeken wegnahm. Sonst schwieg er meist, war wortkarg wie ein alter Mann, mit dem Vater ging er wie mit einem Fremden um, das Einzige, was sie verband, war Angst. Nach dem Abschluss der Volksschule besuchte er die Berufsschule, arbeitete darauf als Elektriker, leistete seinen Militärdienst ab und kehrte als gereifter, gut aussehender Mann zurück, dem nicht wenige Frauen und Mädchen hinterhersahen, doch nicht eine von ihnen wagte, Algis nach Hause mitzunehmen, und auch nur selten begleitete er eine von ihnen. Der lahme Motūzas aber blieb, wie er war, und es schien so, als könnte die Zeit ihm nichts anhaben.

Als Gintas, der Direktor des örtlichen Kulturhauses, mit einem zünftigen Rausch auf einem geliehenen „Woschod“-Motorrad eine Studentin aus Vilnius überfuhr und deswegen ins Gefängnis kam, stand das Haus der Kultur für einige Zeit leer. Nach ein paar Monaten aber bekam es eine neue Direktorin. Eine von auswärts, mit dem lustigen Familiennamen Kriaušytė – Birnlein. So sah sie auch aus: wie eine pausbackige Birne. Jung, still, mit einem leichten schemaitischen Akzent, deshalb fanden viele sie drollig. Kriaušytė wohnte im Dachgeschoss des Bezirksexekutivkomitees (heute ist dort das Büro des Städtchen-Vorstehers), in den sie über eine knarrende Treppe hinaufstieg, die nach ihrem Einzug noch stärker und stärker zu knarren begann. Die jungen Männer im Städtchen hatten Beute gewittert und nutzten jede Gelegenheit zu einem Besuch. Der Herbst und der halbe Winter gingen vorüber, die Direktorin war nicht mehr ganz fremd im Städtchen, und vielleicht, weil sie nicht besonders gastfreundlich war, vielleicht auch aus einem anderen Grund, nahm die Zahl der Besucher in ihrem Dachgeschoss ab, und es wurde dort kalt und traurig.

Der Winter ging zu Ende und das Frühlingseis barst, die Einwohner aber munkelten hie und da, dem alten Motūzas sei etwas zugestoßen. Der Alte war still geworden, trank weniger, trieb sich nicht mehr mit den Schlampen rum, und nur hin und wieder hörte man tuk, tuk die Eisenspitze seines schweren Eichenstocks auf der Hauptstraße. Die Leute wunderten sich und machten sich auf wer weiß was gefasst. Eines Tages sagte Žemaitytė, die Putzfrau des Bezirksexekutivkomitees, erstaunt zur Nachbarin, sie habe den alten Motūzas schon zum x-ten Mal die Holztreppe zur Kulturhausdirektorin hinaufkraxeln sehen. Das Gerücht verbreitete sich wie ein Lauffeuer im Städtchen, und nicht nur die neugierigen Frauen, sondern auch die Männer sprachen darüber. Sie lachten und besprachen die Liebe des Invaliden bei Wein und Bier. Doch schon bald stellte sich heraus, dass Verliebtheit ein zu schwaches Wort für das Gefühl war, das den Alten überfallen hatte: Echte Begierde, Besessenheit war das. Motūzas begann sich herauszuputzen, kaufte sich einen neuen teuren Regenmantel, Lackschuhe und nicht nur einen Hut, sondern auch eine leuchtend bunte Krawatte, spazierte kerzengerade und monumental stolz herum, rasierte den Schnauzbart ab, einige glaubten gar, er habe sich die Haare gefärbt. Kriaušytė, die man im Städtchen nur „Kruschke“ nannte, sah im Vorübergehen schuldbewusst zu Boden und grüßte kaum hörbar, an ihrem zarten Hals glänzte eine Kette, an den Ohren baumelten riesige Ohrringe, gleichfalls aus Gold, und die alte Maryla wetterte, genau diese Ohrringe habe sie einst in der Schatulle von Madame Elena gesehen. Der Krüppel schenkte seiner Liebsten, was er nur konnte: Schuhe, Kleider, einen Fernseher, Möbel. Er kaufte sich einen nagelneuen Saporoschez und fuhr damit Kriaušytė in die Stadt. Um sich all das leisten zu können, verkaufte er nicht nur die Ferkel, sondern auch das Zuchtschwein, hob bei der „Sberkassa“, der Sparkasse, fast seine gesamten Ersparnisse ab, schlachtete zuletzt ein Kalb und richtete ein Fest aus – fast eine Woche lang feierte er. Das Geld ging zur Neige und so sagte er seinem Sohn Algis, er solle ihm welches geben, und der biss die Zähne zusammen und schaute dem Himmelssturm seines Vaters zu, denn der einzige Mensch auf Erden, den er fürchtete, war sein Vater. Auch die Einwohner des Städtchens sahen dem Wahnsinn des lahmen Motūzas zu und lachten und warteten gespannt, wie das wohl alles ausgehen würde, während die wenigen Freunde von Algis ihn zum Narren hielten und zurechtwiesen. Einmal sagte Danius, der vom Prancisius, der wegen Schmarotzerei eingesessen hatte und den man wegen seiner Brille als Professor bezeichnete, zu Algis: „Sei kein Feigling. Geh zu der Schlampe und rede mit ihr! Wie lange willst du denn noch zusehen, dass der Alte dein Geld verpulvert?“

Schließlich, als sein Vater einmal weg war, rang sich Algis durch, stieg die knarrende Treppe hinauf und klopfte an. Kriaušytė machte auf und begann sich beim Anblick von Algis irgendwie zu schämen, lud ihn aber nach drinnen. Algis trat ins Zimmer, in dem ein helles Licht brannte, und hielt inne. Sie standen Auge in Auge da und schwiegen. Eine seltsame Wärme überflutete Algis’ Brust, und seine Beine bebten wie die eines alten Gauls nach dem Ausbringen des Mists.

Jetzt, wo er den Weg kannte, besuchte Algis die Direktorin immer häufiger insgeheim und das Leben kam ihm viel sonniger vor. Er wollte nicht daran denken, was passieren würde, wenn sein Vater von diesen Besuchen erfuhr, aber dass es geschehen würde, das wusste er. Und so kehrte der alte Motūzas eines Tages früher als angekündigt aus der Stadt zurück und stieg mit einem neuen geblümten Kleid die knarrende Treppe hoch. Oben angekommen, versuchte er die Tür zu öffnen, aber sie war verschlossen, dann holte er den Schlüssel hervor und versuchte aufzuschließen, doch auf der anderen Seite war ein anderer Schlüssel. Der Alte klopfte an die Tür, doch niemand machte auf, dann zerrte er, da er nichts Gutes ahnte, mit seiner bestialischen Kraft, von der er mehr besaß als Verstand, an der Türklinke und riss die Dachgeschosstür aus Karton heraus. Auf der anderen Seite der Tür erblickte er seinen Sohn Algis, stehend, und hinter ihm zusammengeduckt Kriaušytė, die ihre weißen Brüste, die noch nie Sonne gesehen hatten, instinktiv bedeckte. Algis sah seinem Vater in die Augen, ballte die Fäuste und stellte sich auf einen Kampf ein. Er war entschlossen, ihn, wenn es sein musste, zu töten. Zum ersten Mal hatte er keine Angst vor dem Vater. Der Alte machte völlig verdattert einen Schritt zurück und Algis bewegte sich auf ihn zu, doch plötzlich fuchtelte der Vater seltsam knurrend oder auch jammernd mit seinem schweren Eichenstock in der Luft herum und versetzte dem Sohn einen Hieb, sodass er sich seltsam krümmte und umfiel. Die Treppe war alt und steil. Algis ratterte hinunter und schlug mit dem Kopf auf dem alten Stiel der Fernsehantenne auf. Das Blut strömte hervor, die Beine waren scheußlich verdreht und irgendwo tief aus Algis’ Brust drang ein fürchterlicher Laut – einer, wie ihn die Tiere ausstoßen, wenn sie verrecken. Der Alte setzte sich kraftlos auf die Treppe und betrachtete das Blut, das seinem Sohn aus dem Ohr rann. Kriaušytė, deren kleiner Bademantel kaum ihre Nacktheit bedeckte, polterte die Treppe hinunter, sprang über den Daliegenden und rannte, so schnell sie konnte, ins Städtchen. Der Notarzt kam angefahren. Der Arzt musterte die Treppe und sagte: „Schrecklich steil, die Treppe. Ist er ausgerutscht?“

„Ja“, erwiderte der alte Motūzas und seine Zunge überschlug sich im Mund wie ein Eisbrocken.

Nach diesem Ereignis vergaß der alte Motūzas die Kriaušytė, als hätte er sein ganzes früheres Leben vergessen – und saß Tag und Nacht im Krankenhaus. Als Algis wieder zu sich kam und zu essen begann, brachte er dem Sohn Saft und Marmelade. Und weinte. Der Sohn sah den zum ersten Mal Tränen vergießenden Vater an und versuchte zu lächeln.

Als der Sohn aus dem Krankenhaus entlassen wurde, führte der Vater ihn zum Bus – Algis hatte sich die Wirbelsäule gebrochen und seine eine Hand gehorchte ihm nun nicht mehr, er zog das linke Bein nach, und auch die linke Gesichtshälfte spürte er nicht.

Kriaušytė besuchte Algis kein einziges Mal im Krankenhaus und verließ das Städtchen, noch bevor er von dort heimkehrte – später erzählte man sich, sie habe geheiratet, aber niemand wusste, wo und wen. Algis erhielt nun eine Invalidenrente, der Alte seine Rente. Und wenn ihr euch jetzt in dieses ruhige Städtchen verirren und zum Teich gehen würdet, dahin, wo das öffentliche Badehaus steht, so würdet ihr auf jeden Fall zwei Männer erblicken, deren Namen die Einwohner schon fast vergessen haben. Fast alle nennen sie heute nur noch „die Angler“.

Der Regengott und andere Erzählungen

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