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Die Rallye des blauen Abends

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Wir warteten. Saßen auf der mächtigen, vornübergebeugten Korbweide und warteten. Weit unter unseren baumelnden Beinen, unter der alten Weide, befand sich eine Straße mit einem tiefen Straßengraben, an dessen Hang dieser Baum wuchs, dessen Rinde wir mit unseren Armen, Beinen und Hintern schon tüchtig abgerieben hatten. Das war unser Geheimversteck, aus dem wir Kinder die auf der Straße vorbeigehenden Menschen beobachteten, die unter uns hindurchtauchenden Autos und Fahrradfahrer mit Kirschkernen bewarfen. Die Kirschen pflückten wir gleich hier: Über die schaukelnden Äste gelangten wir zum Punkt, wo sich die Weide mit Raškevičius’ gewaltigem Kirschbaum verflocht, der voller Beeren, Vögel und im Wind wehender Vogelscheuchen war.

Heute waren wir besonders still. Ich saß da und ließ die Beine baumeln, auch Gintas schwieg, und sogar Rimvis, der nicht ruhig sitzen kann. Wir warteten. Das ganze Städtchen wartete: Niemand ging oder fuhr, sogar die Vögel und Hunde auf den Höfen schwiegen. Vor einem rußgeschwärzten Haus saß auf einer niedrigen, mit grünem Moos und gelblichen Flechten überwachsenen Bank der alte Šeikis, die Hände des Flieders wogten über ihm auf und ab wie Fächer – auch er sagte fast nichts, brüllte nicht, drohte nicht, sondern nuschelte nur etwas in den Bart und paffte seine Papirossa der Marke „Kasbek“, während seine Hände verschränkt auf einem Stock mit einer Beule lagen.

Wir saßen da, beobachteten den Rand des verstummten Städtchens. Fast wortlos spähten wir die Gegend ab wie die Spatzen aus dem Nest, ein jeder in seine Gedanken versunken. Ich habe heute zum vierten Mal „Schnee auf dem Kilimandscharo“ gelesen, und da ich dieses traurigste aller gelesenen Bücher einfach nicht vergessen konnte, dachte ich über Nick Adams und über den wahnsinnigen Boxer Eddy nach, stellte mir vor, ich wäre im Zug, der in den Westen rast – ich wollte genauso frei sein wie sie. Dann kam mir plötzlich wieder in den Sinn, dass Mutter einkaufen war, und ich verspürte großen Hunger. Das Eigelb der Sonne, das am dunkelblauer werdenden Vorabendhimmel brutzelte, schwebte schon in die dunkelgrünen Bäume des Friedhofs voller Vogelnester und Ängste herab. Die Straße tauchte unter unserer Weide hindurch, bog nach Westen, einen Hang hinunter, verzweigte sich dann plötzlich und stieg dann erneut einen Hügel empor, und zwischen den beiden Zweigen erstreckte sich wie eine Insel im Fluss der alte Friedhof. Hinter der leicht zerfallenen Mauer dösten schwarz gewordene, flechtenüberwachsene Grabsteine, Denkmäler mit Aufschriften in Litauisch und Polnisch, bedrängt von Flieder, Akazien, verwildertem Salbei, Jasmin und Brennnesseln. Jetzt dachte ich über die Frühlingsfluten nach, die über die Senke zwischen den beiden Straßenabschnitten hereinbrachen, die Frauen ertränkten, die die Gräber zurechtmachten, über die Gruben (hier holten die Frauen den weißen, sauberen Sand, mit dem sie die Wege bestreuten), die über den kleinen Damm der Landstraße drangen, die Gräber in der Nähe der Friedhofsmauer überschwemmten. Wie schwer, dachte ich, würden es wohl die Bewohner dieser Gräber, die polnischen Adligen und anderen Unbekannten haben, wenn sie am Ende der Tage aus der glitschigen, feuchten Erde steigen sollten, wie schrecklich musste es doch für sie sein, in den mit Schmelzwasser überschwemmten Gräbern zu liegen.

Wir warteten. Unser Warten war fröhlich und feierlich, wie die ganze Stille dieses dunkelblauen Abends. Zur Linken des Friedhofs, da, wo die dem Städtchen entronnene Landstraße sich an den Fluss der Autobahn lehnte, entzündete sich auf dem Hügel ein Holzhaufen. Die Männer des Städtchens brachten trockene Äste aus dem Kiefernwäldchen und warfen sie in die Flammen. Von unserem Versteck aus sahen sie aus wie Ameisen. Die Ameisen warteten auch.

Das Feuer erinnerte mich wieder an den Hunger. Heute war Donnerstag, fiel mir ein, da wurde frischer Fisch in den Laden geliefert, und Mama briet ihn jetzt, nachdem sie ihn erst in Mehl gewendet hatte. Der Fisch duftete, das Öl brutzelte. Donnerstag ist mein Lieblingstag, ich vergöttere gebratenen, im Mund zergehenden Fisch. Jeder Bissen Fisch ist ein Teil des Geheimnisses des Meeres, das ich in meinem Körper hüte: Merkwürdig zu wissen, dass Tiere zu mir werden, die das Gold versunkener Schiffe gesehen haben. Jetzt aber wollte ich trotz meines großen Hungers nicht nach Hause. Ich wartete geduldig, zusammen mit dem ganzen Städtchen, zu dem auch ich gehörte.

Von dort, wo der Holzstoß brannte, rannte Hals über Kopf ein winziges Menschlein in unsere Richtung. Das war Algis. Er war zwei Jahre jünger als wir, und obwohl wir ihn nicht in unser Versteck auf der Weide ließen („Damit er nicht zu Boden plumpst“, wie Rimvis sagte), vertrieben wir ihn auch nicht wie die anderen Kleinen. Er war ein ordentlicher Junge. Und sein Onkel Almantas, den Algis allerdings nicht mit eigenen Augen gesehen hatte, wohnte seit vielen Jahren irgendwo in Russland, vielleicht gar in Kamtschatka, und Algis hatte uns einige Male Fotos gezeigt, die der Onkel ihnen zugeschickt hatte. Auf einem davon war ein großer, bärtiger Mann mit geschultertem Gewehr neben einem erlegten Bären zu sehen, auf einem anderen derselbe Mann mit einem riesigen Fisch in der Hand (ich dachte dann immer, dass wohl Nick Adams solche Forellen gefangen hatte).

Mit den Händen fuchtelnd, kam der kleine Algis außer Atem am von Dahlien belagerten Zaun des Raškevičius an, warf den Kopf in den Nacken und rief: „Es ist so weit! … Es geht los! … Artūras auf seiner ‚Jawa‘! … Er ist zurück! … Direkt! … Durch den Wald! … Man hat ihn gesehen!“

Wir sahen einander an wie drei alte Uhus, und Rimvis, bemüht, seine Aufregung nicht zu verraten, sagte betont cool: „Wissen wir. Haben eine Uhr.“

Rimvis hatte wirklich eine Uhr, doch Algis begriff offenbar nicht, was die Uhr damit zu tun hatte. Er stand noch eine Weile mit dem Kopf im Nacken und offenem Mund da, blinzelte ein paarmal mit seinen großen Augen, wandte sich um und los ging’s – zurück zum großen Feuer.

„Artūras, Artūras … da sieh mir mal einer an!“, sagte Gintas und spuckte zu Boden.

Wie wir alle hasste er Artūras, nannte ihn nur „Specki“ und fürchtete ihn zugleich wie wir alle. Nur der kleine Algis unterhielt sich wie ein Freund mit Artūras, ohne Angst, ganz ruhig, denn Specki verteidigte seinen kleinen Freund immer und überall: Sie sahen merkwürdig aus zusammen – der Schrecken der Schule, der Neuntklässler Artūras, und der Erstklässler Algis, das schweigsame Kind mit den traurigen Augen.

Wir gaben uns Mühe, ruhig zu wirken, doch die von Algis überbrachte Nachricht beschleunigte unseren Puls im Nu – schon bald, nicht mehr lange warten: Gleich würden wir die farbigen, geflügelten Autos erblicken, ihr Brüllen hören, sie würden unter unserem Versteck hindurchbrausen, unter uns hindurch, und wenn die anderen sich damit brüsteten, was sie gesehen hatten, dann könnten wir ihnen entgegnen: „He, wir haben die Autos mit Kirschsteinen beschossen!“

Ich spitzte die Ohren und lauschte, mit dem einzigen Wunsch, als Erster das Motorengeheul zu hören. Plötzlich stand Rimvis auf, hielt sich an einem dünnen Ast der Weide fest und wandte sich dem Städtchen zu (von dort mussten unsere heiß ersehnten Rennwagen kommen). Mit einer Geste bedeutete er uns zu schweigen und erstarrte mit offenem Mund.

„Hört ihr das?“, flüsterte er. „Ich höre etwas!“

Wir hörten es alle! Das tiefe, gedämpfte Motorengeräusch kam wie ein von den Wolken getragener Donner immer näher. Wir warteten angespannt, Raškevičius’ Hühner erhoben die Köpfe, der Hund kam aus seiner Hütte, der Wind legte sich. Plötzlich brachen wir alle zusammen wie ein Chor in Gelächter aus: Um die Kurve tauchte zwischen den Pappeln und Ahornen des Städtchens hervor ein Mähdrescher der Marke „Niwa“ auf. Er fuhr über den Asphalt der schmalen Straße des Städtchens – groß, rot und ungelenkig, das genaue Gegenteil dessen, was wir erwartet hatten. In der Kabine saß der Schafskopf Geniukas, ein seltsamer Mann, dem die Dummheit ins Gesicht geschrieben stand, und ein anständiger Trinker, der, als man ihn nicht zur Armee nahm, den Traktorfahrern klagte: „Und warum auch habe ich gesagt, dass ein Kilo Nägel mehr wiegt als ein Kilo Federn! Wenn ich das Gegenteil gesagt hätte, hätten sie mich genommen!“ Die Kinder des Städtchens bewarfen ihn, wenn er mit dem Mofa vorbeifuhr, stets mit Eicheln, Kastanien, Kieselsteinen, beschossen ihn mit Vogelbeeren. Geniukas fuhr zwar Traktor, aber auf dem Mähdrescher hatte ihn noch keiner gesehen, doch jetzt war er ein richtiger „Mähdrescherpilot“!

Der Mähdrescher fuhr auf unsere Weide zu. Wir warteten stets sehnsüchtig auf die Durchfahrt großer Maschinen unter unserem Baum, der Mähdrescher aber war ein Vergnügen der besonderen Art, denn seine Kabine streifte die Weide beinahe. Geniukas fuhr langsam, und als der rote Metallberg unter uns war, klopfte Rimvis ein paarmal kräftig mit den Füßen aufs Kabinendach. Geniukas galt als ziemlich boshaft und war wie ein Kind schnell beleidigt: Der Mähdrescher hielt in einigen Metern Entfernung an, aus der Kabine stieg unter Brüllen und wüsten Drohungen der Fahrer.

„Wart nur, wart nur, du heimatloser Kleinadel, Zaščižinskas! Ich werde dich mit der Knute bearbeiten, dich wie ein Donner vom Baum holen!“ Warum er wohl immer nur den Rimvis anschrie, während er Gintas und mich nicht zu sehen vorgab?

„Fahr zur Hölle!“, entgegnete Rimvis in aller Kürze.

„Geniukas ist ein Dummerchen!“, fügten Gintas und ich hinzu und beschossen den frischgebackenen Mähdrescherfahrer mit Kirschsteinen.

Der Mähdrescher stand genau auf der Kreuzung und versperrte den von uns so ersehnten Rennwagen einen Teil der Straße.

„Fahr schon, fahr, Schwachkopf!“, rief Rimvis, „du Idiot hast den Weg versperrt!“

Mir schien, Geniukas müsse das Herz aus der Brust springen – so wütend war er. Seine Stimme kam außer Kontrolle und so verstand man kaum mehr, was er uns da entgegenschrie. Es war zum Grölen. Noch lustiger sah die Sonne des immer dunkelblauer werdenden Himmels aus, die Geniukas’ Kopf wie ein Heiligenschein umgab und sein Gesicht in eine unergründliche Dunkelheit tauchte – so mussten wohl die Gesichter der Apostel ausgesehen haben.

„Ich bringe dich um!“, brüllte der heilige Apostel, „ihr Bastarde!“

„Selber Bastard!“, erwiderten wir.

Im gleichen Augenblick war ein merkwürdiges Keuchen hinter uns zu hören, das uns überraschte und erschreckte. Geniukas freute sich so über seinen neuen Status – er hatte jetzt einen Mähdrescher! – und schien so wütend auf uns zu sein, dass er offenbar nichts gehört hatte. Er war der einzige Mensch auf der Welt, der nicht wusste, dass heute der Startschuss zur Rallye fallen würde. Wir wandten uns alle drei entsetzt zum Städtchen um und verfolgten mit vor Angst weit offenen Mündern, wie an den Dahlien und am Flieder am Straßenrand vorbei, rot wie der Schnee nach dem Schlachten, ein Rennwagen angerauscht kam. Ein wahrhaftiger Rennwagen, denn er raste in einem Wahnsinnstempo über die Straße! Ich schloss die Augen, als er unter unserem Baum hindurchflitzte, und sah nicht einmal mehr, wie er mit Geniukas zusammenstieß, erst nach einem Augenblick, der wie eine Ewigkeit erschien, hörte ich es krachen. Da öffnete ich die Augen und sah den umgekippten Mähdrescher im Straßengraben, den seltsam mitten auf dem Asphalt breit daliegenden Geniukas, der wohl aus der Fahrerkabine geschleudert worden war, und den roten Wagen, der langsam durch die Luft flog und Purzelbäume schlug. Er flog erst über die von den Frauen gebuddelten Sandgruben, dann zwischen den alten, moosüberwachsenen Trauerweiden hindurch und prallte schließlich auf die Friedhofsmauer. Eine zähflüssige und an der Haut klebende Stille packte uns. Und erst dann flogen aus den Friedhofsbäumen in Scharen die Saatkrähen und Dohlen auf. Geniukas stand langsam auf und brach urplötzlich in ein schluchzendes Jammern aus.

„Was wird jetzt nur! Was wird jetzt nur! Was wird jetzt nur!“

Wir rutschten, so schnell wir konnten, den Baumstamm hinunter. Ich sah noch den alten Šeikis langsam wie eine Schildkröte von seiner Bank aufstehen und den Specki auf seiner „Jawa“ vom Hügel mit dem Feuer in unsere Richtung sausen.

„Was wird jetzt nur?! Was wird jetzt nur aus mir?!“, jammerte Geniukas noch immer, als wir am Mähdrescher vorbeirannten, und ich spürte mein Herz genauso schlagen wie diese verzweifelte Frage.

Als wir vom Straßendamm sprangen und an den Sandgruben vorbeiliefen, hörte ich Rimvis mit keuchender Stimme rufen: „Das ist mal was! Habt ihr gesehen, wie er geflogen ist?!“

Unweit des Metallhaufens, der gerade erst mit einem Affenzahn über die Straße unseres Städtchens geflitzt war, hielten wir an. Ich glaubte zu träumen, denn ich erblickte einen kleinen flachsblonden Jungen, der um den Wagen herumtaumelte. Er war weiß wie ein kleiner dreijähriger Engel … Dann sah ich eine Frau, die auf dem Rücken lag, und Dampf, der langsam aus ihrem Mund stieg. Vom Hügel kamen die Männer angerannt. Unter ihnen war auch Specki, der uns etwas zurief. Als er bei uns ankam, drehte er mich weg, sodass ich auf die andere Seite schaute, schubste mich, damit ich von hier wegginge. Ich leistete keinen Widerstand, obwohl ich ihn, da ich sein blasses und verzerrtes Gesicht gesehen hatte, nicht im Geringsten fürchtete.

Jetzt schaute ich die Straße an, das Städtchen, unsere Trauerweide, Šeikis, der es ganz eilig hatte, Geniukas, der die Hände hinter dem Kopf verschränkte, und plötzlich sah ich sie – die blauen Rennwagen, die am Mähdrescher vorbeiflogen, an uns – wie Wolken, wie Schäfchen. Schön waren sie, glitten lautlos und scheinbar leicht über dem Boden vorüber, als würden sie gar nicht zu dieser Welt gehören.

Der Regengott und andere Erzählungen

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