Читать книгу Seine Sensible Seite - Amalia Frey - Страница 5
Zweitens
ОглавлениеWoolf traf mich am Abend wie fast immer an meinem Schreibtisch an. Ich hatte mir eine Dokumentation rausgesucht, die im Zuge des 40. Jubiläums des Buche Verlags produziert worden war. Darüber fand ich tatsächlich ein paar frühere Interviews von Sascha, die ich mir ebenfalls reinzog. Seine Eloquenz, mit denen er den Reporter*innen begegnete, war nicht von der Hand zu weisen. Und wie gut er als junger Mann ausgesehen hatte, eine richtige Schnitte! Ich stellte fest, dass er abgesehen von seinem dunklen Haar und den fürchterlichen, aber damals modernen Anzügen, Doktor A brutal ähnlich gesehen hatte. Natürlich kannte ich Abbilder von ihm als Enddreißiger, aber nun, da ich seinem Sohn getroffen hatte, rückte sich all das in ein anderes Licht. Mir wurde klar, dass Doktor A viel besser aussehen würde, zöge er sich den Stock aus dem Arsch und blickte nicht immer drein, als wären alle um ihn herum seine Todfeind*innen.
Endlich fiel mir auf, dass Woolf meinen Schreibtisch umschlich.
»Hungry Wolf?« Ich grinste.
Er war ein guter Junge und er traute sich selten, mich tatsächlich anzusprechen, solange ich arbeitete. Und dass ich hier saß, mir Interviews aus den Siebzigern gab und Notizen machte, musste schwer nach Recherche aussehen. Störe ein tapferes Schreiberlein niemals bei der konzentrierten Recherche und schon gar nicht im Schreibfluss. Mein Bruder wusste all das, auch wann ich mich in der ZONE befand, und ich gar nichts mitbekam oder die Phase, in denen jegliche Störfaktoren tödlich geahndet wurden.
»Worauf hast du Lust?«, fragte Woolf lächelnd.
»Ach, lass' was bestellen. Ich will grünes Curry und Reis.«
Brav lief er zum Telefon und rief bei unserem Asia-Fusion
Restaurant des Vertrauens an, um sich und mir jede Menge scharfes Essen zu ordern. Wir setzten uns grünen Tee auf und platzierten uns mit all den Pappschachteln am Küchentisch. »Hast du schon deinen roten Faden gemacht?«, wollte Woolf erfahren.
Es war immerhin das fünfte Projekt, das er miterlebte, natürlich wusste er, an welcher Schwelle ich stand. Dass, nachdem ich das Gerüst erstellt hatte, es ein paar Wochen dauern würde und ich mich dann mitten im Fluss befände, in dem ich vergessen würde zu essen, zu schlafen, zu reden. Ich würde nur labil grinsend am Computer hocken, tippen, vermutlich sabbern und dankbar das Wasser bechern, das mein braver Bruder mir brachte. Alle drei Tage würde er mich davon überzeugen, etwas zu essen, doch um Gottes willen zu duschen und mich schlafen zu legen. Und ich würde ihn erst beschimpfen und schließlich gehorchen. Mir war bewusst, dass ich einem nicht mal Sechzehnjährigen damit viel zumutete. Aber immer wenn ich das (im wachen Zustand versteht sich) Woolf gegenüber ansprechen wollte, erklärte er mir: »Ich liebe es, zu erleben, wie deine Bücher wachsen und dass ich immer der Erste bin, der etwas davon hören wird. Bitte lass mich ewig an diesem Rohdiamanten teilhaben. Dafür nehm ich deine creepy Phasen gerne in Kauf.«
Und ich war beruhigt bis zu meinem nächsten Anfall eines schlechten Gewissens.
»Nein, ich habe noch kein Gerüst geschrieben. Sascha war vorhin sehr aufgebracht und hat mich gebeten, ihn übermorgen wieder zu besuchen. Solange werde ich mich intensiv mit der Verlagsgeschichte auseinandersetzen, dachte ich.«
»Du bist ja so professionell.«
»Haha!«
»Weißt du, was ihn so fertig gemacht hat?«
»Vermutlich sein doofer Sohn, der stand doch tatsächlich in dem Zimmer rum, als ich ankam.«
»Warum auch nicht? Ist doch sein Paps.«
»Du bist ja so erwachsen!«
Natürlich wusste ich, dass es eigentlich ziemlich kindisch von mir war, zu verlangen, Doktor A solle sich von Sascha fernhalten, wenn ich angemeldet war.
»Du hast ja keine Ahnung, was für ein Stinkstiefel das ist!«
»Hast du es denn? Du kennst ihn gar nicht. Mir sagst du immer, ich solle mir selbst ein Urteil bilden und nicht zu schnell abwerten.«
»Haha!«
»Mal ehrlich, Jane! Du hast ihn erst zweimal erlebt, oder? Und vorher hast du dich vom Tratsch aus dem Verlag mitreißen lassen. Wo bleibt die Autorin, die alles hinterfragt und von allen Seiten beleuchtet?«
Scheiße, der Junge kannte mich echt zu gut. »Du hast ja recht. Aber du hast Doktor A auch noch nie gesehen. Gleich, als ich ihn das erste Mal sah ...«
»Was war da?«, hakte Woolf nach, als ich nicht weiterredete.
Ja, was war da in dem Parkhaus? Beeindruckt hatte er mich, hübsch hatte ich ihn gefunden. Ich war von jeher der Meinung, dass solche Männer nicht SO aussehen dürften. Nicht SO gut.
»Na ja, wie auch immer. Im Krankenhaus ist er mir jedenfalls ziemlich doof gekommen.«
»Darüber hab ich auch nachgedacht«, erklärte der Junge und schob sich einen großen Löffel Reis zwischen die Lippen, »das sollte bestimmt nicht gegen dich gehen. Sagtest du nicht, er und sein Vater hätten ein schwieriges Verhältnis?«
»Mit Doktor A hat jede*r ein schweres Verhältnis«, nuschelte ich mit halbvollem Mund.
»Kein Wunder, dass er immer so angespannt ist.«
»Ja, gut okay, ich geb ihm noch ne Chance, bist du nun zufrieden, Wölfchen?«
»Jupp«, grinste er und trank darauf einen Schluck Tee.
°°°
Keusche Unruhe lag in mir. Ich erkannte meinen Ex von Weitem. Seine Körperhaltung, Statur, die Art, wie er eine Hand in die Seite stemmte, und mit der Anderen auf seinem Schlaufon herum wischte. Davids Haar war ganz kurz geschnitten. Ich hatte Jahre gebraucht, ihn davon zu überzeugen, es wachsen zu lassen, damit ich in dieser weichen, braunen Pracht herumwuscheln konnte. Er sah dünner aus, als würde er weniger trainieren. Sein graues Jackett wehte offen im Wind, er trug passende Anzughosen und ein hellblau-weiß gestreiftes Hemd. Die oberen Knöpfe hatte er für seine Verhältnisse salopp geöffnet, und je näher ich kam, desto mehr erinnerte mich das Stück nackte hellbraune Haut daran, was unter dem Stoff verborgen lag. Schließlich sah er auf und sein Gesicht strahlte. Nicht weil wir furchtbar verliebt waren wie einst – sondern weil es nach fast acht Jahren in Knochen und Mark übergegangen war, wie wir aufeinander reagierten. Wir umarmten einander locker, verzichteten auf das obligatorische Küsschen. Als mir sein persönlicher Duft vermischt mit dem Geruch seines Rasierwassers in die Nase stieg, wurden schlagartig Erinnerungen wach. Damals, wenn er sich nach dem Rasieren damit die Wangen vollgeklatscht hatte und ein paar Tropfen seinen Hals hinab auf seine Schlüsselbeine gerollt waren. Dann hatte er sich immer erst die Hände gewaschen und sein Gesicht hinterher. Der Duft auf seiner Brust blieb, und wenn ich ihm abends das Hemd öffnete, schwoll er mir entgegen, so dass ich erleichtert einatmete und wusste: Feierabend!
Von jeher war ich der Meinung, Sex sollte der kleinste gemeinsame Nenner in einer Liebesbeziehung sein. Bei David und mir war es am Ende der Klebstoff, der uns voneinander nicht loskommen ließ. Wir machten den Fehler, miteinander zu schlafen, obwohl wir uns zuvor gestritten hatten. Es als Versöhnungssex zu verbuchen, uns aus Hassliebe heraus in Ekstase zu versetzen. So blieben die Konflikte unausdiskutiert, verhasste Angewohnheiten des anderen bestehen. Töricht dachten wir, so viel gemeinsam durchgestanden zu haben, dass sich unsere Unterschiede miteinander ergänzten und wir sowieso niemals harmonisch zusammenleben würden, woraufhin wir gar nicht mehr versuchten, an uns zu arbeiten oder etwas zu retten. Immer öfter kratzte ich ihm den Rücken wund, weil ich meine Wut irgendwo auslassen musste. Mehr und mehr wurden seine Berührungen ruppig, seine Schläge auf meinen Arsch zu hart. Wir wollten einander verletzten, ehe wir unsere Körper teilten. Außerhalb des Schlafzimmers konnte ich ihm gar nichts mehr recht machen. Er maulte nur noch, ich meckerte zurück. Der Groll wurde stärker. All das verdrängte die Liebe, und auf unheimliche Weise verstärkte es die Lust. Wir verwechselten das zärtliche Kuscheln unserer verschwitzten Leiber, die süßen Nichtigkeiten, die wir einander ins Ohr flüsterten, das Lächeln in den intimsten Momenten ... Wir dachten, es war Nähe.
»Lass uns hierhergehen«, sagte David und riss mich aus meinen Gedanken. Er deutete auf ein Straßencafé zu unserer Linken. Mit Schwung setzte er sich mir gegenüber, zog sein Jackett aus und legte es über die Lehne. War er auch dünner geworden, so blieb er doch ein verdammtes Eye-Candy.
Dann ließ er mich reden. Über Woolf, über Projekte, über Dannis Dramen, über mein Training für den Berlin-Marathon, an dem ich nächstes Jahr teilnehmen wollte. Er stellte Folgefragen, reichte mir ungefragt seinen Keks vom Kaffeetassenrand. Sogar nach meinen Eltern und meinen Großeltern mütterlicherseits, die ganz in der Nähe von Dad und Ma in einem Luxus-Pflegeheim wohnten, erkundigte er sich.
Meine Eltern hatten sich zur Ruhe gesetzt. Ihr Bauunternehmen wurde inzwischen durch eine Gesellschaft verwaltet, sie selbst waren seit Jahren weg von der Bildfläche in ein hübsches großes Haus am Bodensee verschwunden. David wusste all das und wirkte nach wie vor interessiert am Schicksal seiner Ex-Schwiegereltern in spe. Er schien immer noch der süße, liebe Typ zu sein, in den ich mich vor so vielen Jahren volle Granate verknallt hatte. Doch er war nun der süße liebe Verlobte einer anderen.
Ich kannte sie nur von Fotos. Jasmin. Sie war etwas kleiner als ich und weiß, aber in unserer Körperfigur ähneln wir einander. Ich wusste auch, dass sie rotblonde Naturlocken hatte, die sie glättete und aufhellte. Sie war Anfang zwanzig. All das hatte mir David erzählt, nachdem er ein halbes Jahr mit ihr ausgegangen war. Damals tat es noch weh, so dass ich ihn unterbrach und bat, mir frühstens mehr zu erzählen, wenn es ernst zwischen ihnen würde. Nur drei Monate später verlobten sie sich. Jasmin wollte Kinder, Halbtagsstelle, für ihn backen, Häuschen im Speckgürtel, einen Hund, Rotarymitgliedschaften – all diese Dinge, die Davids Traumfrau wollen sollte. Nun hatte er sie. Ich traute mich nicht zu fragen, ob er glücklich war. Zum einen, weil es mich so oder so nichts mehr anging, zum anderen, weil ich nicht sicher sein konnte, ob er ehrlich zu mir wäre. Er sah mich noch immer so an wie früher. Als wir eingespielt waren, die erste Verliebtheit abgeklungen war. Als ich als Kassiererin gejobbt hatte und er den Wochenendeinkauf bezahlen musste. Da hatte Woolf auch noch nicht bei mir gewohnt.
Wir saßen voreinander, plauderten und spürten wohl gleichzeitig, dass der Groll aufeinander vorüber war. Es hatte ein Ende, einander zu begehren. Wir lächelten uns schüchtern an, dann trank David sein Glas Wasser mit einem Zug aus, um mir fest in die Augen zu sehen.
»Austen … ich muss dir etwas sagen.«
Was kam jetzt? Seinem Blick nach zu urteilen, das klischeehafte Verbot seiner Verlobten, mich wiederzusehen. Ich gluckste stumm in mich hinein. Doch leider kam exakt das. Er verwendete sogar die Wortkonstellation »Meine Verlobte möchte«, anstatt sie Jasmin zu nennen, »dass wir den Kontakt einschlafen lassen. Es ist ihre Bedingung, ansonsten wird sie die Verbindung lösen.«
Diesmal gluckste ich laut, und es klang genauso panisch, wie ich mich fühlte.
»Und wie denkst du darüber?«, fragte ich zaghaft.
»Natürlich macht es mich traurig, anderseits hat sie recht. Wir beide sollten uns nicht wiedersehen, wir haben kein gemeinsames Leben mehr.« Er klang dabei so verdammt sachlich wie eh und je, wenn er argumentierte. Selten hatte er sich in Streitgesprächen zu Gefühlsausbrüchen hinreißen lassen. »Du und Woolf ward mein Ein und Alles. Aber nun habe ich Jasmin und werde mit ihr meine Zukunft aufbauen.«
»Du willst auch Woolf nicht mehr sehen?«
»Nicht gar nicht. Aber ich denke, für meine Rolle als Vater ...«
»Ihr werdet schon Eltern?«
»Die Hochzeit ist in ein paar Wochen. Wir haben die Verhütung bereits abgesetzt.«
Gott, wieso blieb er so verdammt gefühlskalt?
»Sag es Woolf bitte selbst«, entgegnete ich so gefasst wie möglich.
»Das habe ich bereits.«
Diese Männer und ihre Heimlichtuerei! Vielleicht war es gut, dass David sich endgültig aus unserem Leben verabschiedete. So hatte Woolf ihn nicht unmittelbar als männliches Vorbild vor der Nase und ich hätte eine Chance noch Einfluss zu nehmen, ehe er auch so ein Eisklotz würde.
Dann bezahlten wir sehr schnell und umarmten uns zum Abschied. Seltsam, ihn zu drücken. Gewohnt reagierte mein Körper mit dem Gefühl der Heimeligkeit, doch dieser Mann gehörte mir schon lange nicht mehr. Bald würde er unwiderruflich durch ein gemeinsames Kind an eine andere Frau gebunden sein. Eine, die ihm all das gab, wozu ich nicht bereit gewesen war. Immer noch nicht war und niemals sein würde. Es war gut, ja es war gut.
Aber warum spielten sie im Radio ausgerechnet jetzt „Someone Like You“?
Als ich heimkam, lief Woolf mir aus seinem Zimmer entgegen, als habe er auf mein Schlüsselklappern gelauert.
»Du bist ja zu Hause«, stellte ich überflüssigerweise fest.
»Hi«, hauchte er liebevoll und musterte mich, ehe er genauso unnötig nachfragte, »du hast dich also mit David getroffen?«
»Ja, du Verräter, habe ich.«
»Wir dachten beide, es sei besser, wenn er es dir sagt.«
»Ach, ihr Schweinehunde, dachtet ihr das?«
»Brauchst du eine Umarmung?«
»Ja, du dumme Socke, brauche ich.«
Woolf lächelte endlich und nahm mich in den Arm. Er war mittlerweile fast so groß wie ich, seine sehnige Brust und seine festen Arme fühlten sich natürlich bei weitem nicht mehr so kuschelig und niedlich an wie einst. Als er noch mein kleines Wölfchen gewesen war. Er drückte mich fester an sich, es beruhigte mich ungemein. Dann säuselte er: »David will von seiner Frau gebraucht werden, und du brauchst niemanden. Du willst einfach nur Menschen in deinem Leben, aber du brauchst sie nicht, und das ist auch gut so.«
»Woher du das nur wieder hast, Klugschwätzer. Als ob ich dich nicht bräuchte.«
Er sah mich an. »Und ich dich. Aber du brauchst keinen, der gebraucht werden will.«
»Was brauche ich dann?«, fragte ich. Wenn er mich schon analysierte, dann richtig.
»Zu dir passt jemand, der dich reizt. Nicht auf die Art, wie David und du euch immer gestritten habt. Sondern einer, mit dem du wachsen kannst.«
»Also echt, Wölfchen. Du hast dich wohl in zu vielen Foren rumgetrieben, um dir diese Weisheit anzufuttern.«
»Wann wirst du mich endlich nicht mehr so nennen?«
»Keine Ahnung.« Ich zog meine Schuhe aus und tappte ins Wohnzimmer. »Wenn du erwachsen bist?«
»Falls du es genau wissen willst«, sagte er daraufhin beleidigt, »das hab ich nicht aus dem Internet. Ich hab viel über unsere Eltern nachgedacht in letzter Zeit.«
Ich fiel mit dem Arsch aufs Sofa und blickte ihn erstaunt an.
Er fuhr fort: »Die streiten sich auch andauernd und landen dann immer zusammen im Bett, ohne etwas zu schlichten.«
»Hör auf, Ma und Dad lieben einander.«
Dass ich der Meinung war, Dad hätte aufgrund dieser Streitereien nach der Pleite schließlich den krassen Herzinfarkt bekommen, verschwieg ich.
»Sehr lieben tun sie sich, ja. Genau wie du und David früher«, entgegnete Woolf mit einer Weisheit jenseits seiner Fünfzehn, drehte sich um und ging in sein Zimmer.
Am späten Nachmittag dieses Mittwochs traf ich mich entgegen unserer Dienstags- und Donnerstagsroutine mit meiner Trainingspartnerin Valeria. Sie und ich hatten uns erst vor kurzem zufällig beim Laufen kennengelernt und peilten an, zusammen am 40. Berlin-Marathon teilzunehmen, der im Folgejahr stattfinden würde. Gerne hätte sie schon an dem wenige Wochen später teilgenommen, aber eine Fußverletzung hatte sie lange ausgeknockt. »Mensch, heute doch mal? Wie kommt es?«, begrüßte sie mich in ihrer langsamen Sprechweise, in der sie vor allem die letzten Silben betonte. Valeria, der brasilianische Strich in der Landschaft, arbeitete für BASF als Laborantin. Die einzigen Gemeinsamkeiten, die unsere Leben wohl hatten, waren die bevorzugten Laufstrecken und das Ziel, es beim Marathon unter die schnellsten zehn Frauen zu schaffen. Trotzdem erzählte ich ihr von meinem Plan, dass ich am nächsten morgen früh ins Krankenhaus wollte, um, wie Woolf versprochen, mir ein neues Bild von Doktor A zu machen, und sie deswegen nicht, wie gewöhnlich um 10:00 Uhr treffen konnte. Dazu musste ich ihr im Folgenden erklären, wer Sascha und natürlich wer Doktor A war. Valeria war lieb, hatte jedoch kaum Ahnung davon, was in meinem alltäglichen Leben als Autorin so abging. Wenig involviert lauschte sie mir, während wir durch den Bürgerpark Pankow joggten, und war dankbar, als wir endlich auf Lauftechniken und neue Erkenntnisse bezüglich Muskelkomprimierung zu sprechen kamen. Am Ende konnte ich ihr einen Sportratgeber empfehlen. Sport-Ratgeber und Fachliteratur zu Chemie waren die einzigen Bücher, die sie freiwillig las. Eine Zweckfreundschaft – wenn auch eine, die, solange unsere Gespräche oberflächlich blieben, sehr lustig war. Für die wichtigen Themen des Lebens – Literatur, Sex und Weltfrieden – hatte ich Danni.
°°°
Tags drauf brauste ich wie geplant um 9:30 Uhr zur Charité, wo ich wie erwartet auf den Doktor nebst Vater stieß. Leider erwischte ich die beiden wohl gerade bei einem Streit. Schon von weitem hörte ich den Sohn in seiner unnachahmlich durchdringenden Stimme schimpfen. Als eine Schwester ins Zimmer eilte und um Ruhe bat, wurde sie von ihm auch noch zusammengefaltet. Ich kam in den Raum, als er Sascha die Worte entgegenspie: »Wenn ich wirklich so ein Nichtsnutz wäre, wie du mir seit Mutters Tod glauben machen willst, dann interessiert mich, warum ausgerechnet ich deine Angelegenheiten ordnen soll.«
Sascha saß im Lehnsessel, trug einen Pyjama und einen Morgenmantel darüber – es schien ihm also besser zu gehen. Er sah gleichmütig aus dem Fenster, entgegnete ruhig: »Du hast doch angerufen und gesagt, du wolltest mir helfen. Deswegen lasse ich dich.«
Jene Selbstgefälligkeit, zu der wohl nur Väter in der Lage sind. Ich kannte sie zu gut von meinem Dad und auch von Opa Mierl, wenn er Fio mal wieder vor den Kopf stieß.
Doktor A schien diese Manier genauso anzufixen wie jedes Kind und fuhr dann erst recht aus der Haut: »Wenn deine Dankbarkeit dafür so aussieht, kann ich darauf verzichten ...«
»Dankbarkeit?« Sascha lachte und sah ihn endlich an. »Du solltest dankbar sein, dass ich dich nicht enterbe, dass ich dich überhaupt noch als meinen Sohn bezeichne, dass ich dir all mein Vertrauen gebe. Letzteres wäre bei jedem anderen Anwalt genauso gut aufgehoben.«
Doktor A starrte seinen Vater ungläubig an. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber ich wusste, dass es ein »Das hast du jetzt nicht gesagt« schrie. Im nächsten Moment wirbelte er herum, und dann bemerkten sie mich. Bei beiden hellte sich der Gesichtsausdruck sichtlich auf – auch bei Doktor A, weil er vermutlich gerade jede:n lieber mochte als seinen Vater, selbst mich. Während Sascha freundlich lächelte, verdunkelten sich die Augen von Doktor A jedoch schlagartig wieder, und die Wutader auf seiner Stirn pulsierte beängstigender als sonst.
»Doktor Schneid«, nickte ich zur Begrüßung und das so herzlich wie möglich, bedachte man, dass er auf mich zukam und ich die Hosen voll hatte vor Angst.
Er schien davon mehr als irritiert. Vermutlich wollte er nur an mir vorbeirauschen, fort aus diesem Raum, weg von seinem Vater und mir. Aber mein Gruß zwang seinen Anstand, innezuhalten und mir zum ersten Mal die Hand zu geben.
»Hallo, Frau Lux.«
Verwirrt schüttelten wir die Hände, und plötzlich erschauderte ich. Dafür, dass er gerade so wütend wirkte, hatte er wirklich zärtlich gesprochen. Und er fühlte sich weich und warm an. Meine Finger kribbelten komisch. Dann war der Moment vorbei, er nickte und schritt von dannen. Ich blickte zu Sascha, entschuldigte mich und eilte Doktor A nach. Mir war durch die vergangenen Minuten so vieles über ihn klar geworden und der schlimme Streit zwischen den Männern brachte mich dazu, wenigstens ein paar nette Worte zu ihm sagen zu wollen. »Augenblick bitte, Doktor Schneid?«
Sie rief nach mir. Warum?
Ich drehte mich um und sah auffordernd zu ihr herab. Was war das in ihrem Blick? Das war mir schon aufgefallen, als sie im Raum aufgetaucht war. Hatte sie Angst vor mir?
»Ja?«, sagte ich.
Sie zuckte zusammen – das war wohl etwas laut gewesen.
Verdammt, eben wusste ich doch noch, was ich sagen wollte.
Da stand sie und schwieg mich an. Was sollte das, was beabsichtigte sie damit? Erst Vater und nun strapazierte auch sie meine Nerven? Sie war wohl kaum gekommen, um mich zu trösten. Ich atmete tief ein, das schien sie noch mehr zu verunsichern.
»Frau Lux, bitte sagen Sie mir einfach, was Sie wollen. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«
Ihre Augenbraue zuckte. War sie jetzt beleidigt? Sie ließ den Blick über meinen Körper schweifen, also tat ich es ihr gleich. Sie trug enge Blue Jeans, die sie bis zum Knie aufgerollt hatte. Wieder blieben meine Augen an ihren strammen Schenkeln hängen. Das bemerkte sie und drehte ihre Umhängetasche vor ihren Schoß. Trotzig straffte sie die Schultern und sagte betont: »Ich wollte … Wegen gestern …«
»Was?«, fragte ich ungeduldiger, als ich es meinte.
Dann tauchte Vater in der Tür auf. Er hatte sich den ganzen Weg vom Sessel zum Türrahmen gekämpft, um nach seinem Liebling zu sehen. Dem Kind, der Tochter, die er nie hatte. Er warf mir einen wütenden Blick zu, woraufhin ich zu Frau Lux sagte: »Wenn das alles ist, gehe ich jetzt. Und Sie machen lieber Ihre Arbeit, der Verlag bezahlt Sie nicht fürs Nichtstun.«
Den letzten Satz sagte ich mit Blick auf Vater, der hinter ihr stand. Sodann drehte ich mich um und ging.
Was sollte das denn? Erst starrt er mir auf die Muschi und als Nächstes wirft er mir Faulheit vor? Ich atmete durch. Gut, das waren dann wohl genug Chancen. Ich wandte mich um und erblickte Saschas Gesicht. Seit wann stand er da?
°°°
Sascha bat mich, an seinem Bett mit meinem Notizblock Platz zu nehmen, und begann zu reden. Das Sprechen fiel ihm sichtlich schwer, doch er wurde davon nicht müde. Er schmückte nicht aus, behielt das Wasserglas in der Hand, um regelmäßig zu nippen. Ich nahm alles auf, hörte zu, erfuhr so vieles, schwieg. Und unterdrückte meine Tränen. Mein Hirn war ganz voll, ich wollte nach Hause und meine Gedanken ordnen. Wie ein großer Klumpen schwoll der Text in meinem Kopf an. Jegliche Ablenkung war schlecht. So nahm ich Saschas diesmal so viel liebevollere Verabschiedung gar nicht richtig wahr: »Haben Sie vielen Dank, dass Sie sich dessen annehmen, Fräulein Lux ... Austen. Dass Sie diejenige sind, bedeutet mir viel ... Das Ergebnis wird fantastisch sein.«
»Ach, Herr Schneid, was wäre ich ohne Ihr überschwängliches Lob.« Ich lachte und gab ihm die Hand. Er hielt sie einen Moment zu lange fest, sah mir in die Augen, nickte anerkennend, dann entließ er mich.
Zum Glück war ich mit der Bahn gekommen, so hatte ich auf dem Heimweg genug Zeit und damit ausreichend Konzentrationskapazität, um alles zu verdauen. Erst als es draußen schon dunkel war, kam ich zu Hause an, und verschanzte mich sogleich hinter meinem Schreibtisch.
Ich begann zu tippen. Wie immer tauchte ich dabei ab, in die tiefen Welten meiner Vorstellungskraft. Ich ordnete das Erzählte, meine Eindrücke, zog Rückschlüsse und tippte, tippte, tippte. Mein Tee wurde ungetrunken kalt, mein Magen knurrte. Abwesend griff ich immer mal in die Tüte mit babschen Keksen. Als der Morgen graute, stand mein Gerüst für Saschas Lebensgeschichte.
Er ging einst aus einer der Vergewaltigungen seiner Mutter Regula durch russische Besatzer hervor – darum sah er so anders aus als seine Geschwister, darum nannten sie ihn Ivan, darum behandelten ihn alle lieblos. Alle bis auf Regula. Viel später ging mir auf, dass die rotblonden Locken und vermutlich auch das sanfte Wesen seiner Frau Adelheid ihn an seine Mutter erinnert hatten. Als Kind gab sich der kleine Ivan alle Mühe, möglichst deutsch zu wirken. Er bemühte sich um einen guten Satzbau, verliebte sich in die Literatur, die Märchen, hasste alles Russische. Dass Alexander ausgerechnet Russland zu seiner Wahlheimat und zum Handlungsort seiner Karriere machte, musste für Sascha ein Dolchstoß rücklings ins Herz gewesen sein.
Von Justus Schneid, dem Mann seiner Mutter, den er Vater nannte und den auch seine Geschwister zu siezen hatten, bekam er stets nur Tadel und Kälte. Erst als dieser und Regula schon tot waren, erfuhr Sascha von seiner älteren Schwester, was er lange vermutet hatte. Es erklärte, warum er so viel größer als seine Brüder war, warum sein Haar hellbraun, nicht schwarz wie das von Justus und seinen Geschwistern war, und sein Gesicht so anders aussah. Und er erinnerte sich daran, wie ihn Vater Justus kurz nach seiner Heimkehr aus dem Kriegsgefangenenlager als russischen Bastard bezeichnet hatte. Noch ganz genau wusste das Sascha, wie er von Regula gerufen wurde. Obgleich er viel zu klein gewesen sein musste, den Sinn dieser Worte zu verstehen.
Denn danach hatte seine Mutter zum ersten Mal gegen ihren Mann aufbegehrt und geschworen, sie würde ihn verlassen, nenne er das Kind noch einmal so. Natürlich war es Ende der Vierziger Jahre in Deutschland fast unmöglich für eine Frau mit drei kleinen Kindern durchzukommen.
Trotzdem hatten es viele von ihnen geschafft – schaffen müssen. Wenngleich Regula nun einen gebrochenen Gatten voller Hass zu Hause hatte, es ging ihr wohl besser als jenen Trümmerfrauen ohne Ehemann. Sie wäre dennoch bereit gewesen, das aufzugeben. Das musste Vater Justus maßgeblich beeindruckt haben. Aber erweichen konnte er sich zeitlebens nicht für das Kind.
Justus fand bald nach seiner Heimkehr Arbeit im hessischen Bad Wildungen, wohin ihn seine Familie mitsamt dem kleinen Sascha folgte. Mit den Fünfziger Jahren kam der Aufschwung nach Westdeutschland und mit ihm der Wohlstand für Familie Schneid. Alle Kinder, mittlerweile waren sie zu fünft, besuchten gute Schulen, später Universitäten. Für Sascha stand fest: Er würde Autor werden! Doch obwohl er Poesie, Lyrik und Schrift liebte – er brachte es nur zu einem kleinen Reporter für die städtische Presse. Darüber lernte er Adelheid kennen, ein kränkelndes gedichteschreibendes Mädchen – es war beiderseits Liebe auf den ersten Blick. Nach der Verlobung traf Sascha Adelheids Onkel, der gerade einen Verlag gegründet hatte. Der nahm den wissbegierigen, jungen Mann unter seine Fittiche. Wenngleich Sascha selbst nur mäßige Zeilen fabrizierte, wusste er, was große Kunst war. Sein Gespür für wahres Talent blieb in all den Jahren Erfolgsgarant für das Verlagshaus und Sprungbrett für zahlreiche Namen. Sascha war die Geheimwaffe des Unternehmens, agierte als stiller Lektor, später präsentierten sie ihm nur noch die engste Auswahl.
»Nachdem meine Frau verstorben war«, setze er an, ohne mir zu verraten, woran, »ging es mir schlecht.« Ich hatte im Laufe seines Redeflusses nur mitbekommen, dass Alexander zu diesem Zeitpunkt erst zehn Jahre alt gewesen war. Sascha hatte sich in die Arbeit gestürzt, sich mit Prosa abgelenkt. Bücher wurden seine Fluchten. »Vermutlich hätte ich mehr Zeit mit meinem Sohn verbringen sollen«, bekannte er knapp und monoton und fuhr fort mit den großen Namen, die dank ihm prächtige Buchdeckel schmückten. So vergingen die Jahre, sein Leben. Die Mauer fiel, der Euro kam, all das spielte für Sascha in einer fernen Welt.
Schließlich der Zusammenbruch, die Kur in dem Erholungsheim in Bayern. »Und dann fand ich Sie«, sagte er heiser und bedachte mich mit einem endlos zärtlichen Blick. Das war vor fünf Jahren gewesen. Ich war ein fünfundzwanzigjähriges Wrack und seine letzte Entdeckung. Ich verdankte Sascha einfach alles.
Dass ich seine Biografie schreiben durfte, war mir eine unermessliche Ehre. So gerne hätte ich ihm einmal gesagt, was er mir bedeutete. Dass er der Vater war, den ich mir immer gewünscht hatte.
Bewegt griff ich nach dem letzten Kleenex in der Box, schnäuzte mich, wischte mein verheultes Gesicht trocken. Ich blickte auf die Zeilen und wusste: Ich saß vor einer Goldgrube! Noch während Sascha gesprochen hatte, war mir aufgegangen, dass ich dies als Roman schreiben, mich gar nicht erst am Genre Biografie versuchen wollte. Heimlich gestand ich mir zudem ein, dass mich ebenso die Beziehung zwischen Doktor A und Sascha reizte. Doch dazu hätte ich Ersteren interviewen müssen, wie er all das empfunden hatte. Nur über meine Leiche!