Читать книгу Seine Sensible Seite - Amalia Frey - Страница 7
Viertens
ОглавлениеDer unvergleichlich schrille Klingelton von Doktor A weckte mich des nächtens aus meinem Traum. Ich hatte vergessen, das Telefon leise zu stellen, und stellte mich tot. Es bimmelte ewig. Und kaum endete es, ging es erneut los. Der Schnösel versuchte es ganze vier Mal. Ich dachte tatsächlich darüber nach ranzugehen. Dann Stille. Grinsend atmete ich aus und drehte mich um. Sofort läutete es wieder – Saschas Klingelton! So schnell, wie ich konnte, hob ich ab.
»Ja?«, stieß ich wacher hervor, als mir lieb war.
»Frau Lux …«, brummte die verhasste Stimme seines Sohnes.
»Was zum …?«
»Bevor Sie toben, es geht um meinen Vater.«
Der Tonfall von Doktor A klang ungewohnt … brüchig. Schlagartig war ich hellwach. Er brauchte nichts weiter zu sagen, nichts anzudeuten – ich verstand alles. »Ich bin unterwegs.«
Mitten in der Nacht und unter der Woche schläft manchmal sogar eine Stadt wie Berlin. Zum Glück lag heute eine Ruhe in ihrer Aura, die ausgeschaltete Ampeln, leere Zebrastreifen und nicht zuletzt freie Straßen mit sich brachten. In Rekordzeit fuhr mich mein Sportage von Pankow zur Charité, auf wackeligen Beinen rannte ich am Pförtner vorbei, den bekannten Weg durch die sterilen Gänge in Saschas Zimmer.
Da lag er, und bei ihm saß sein Sohn. Er hielt die Hand seines Vaters, kämpfte sichtlich mit den Tränen und zuckte zusammen, als ich den Raum betrat. Sofort kehrte Härte in sein Gesicht zurück, dann erhob er sich und drehte mir den Rücken zu. Ich tat ihm den Gefallen, suchte nicht nach seinem Blick, sondern trat neben ihn und schaute Sascha an.
Er war fast weg, doch er schien meine Anwesenheit zu spüren. Ein schwaches Lächeln umspielte seinen eingefallenen Mund. Noch immer hielt Doktor A seine Hand und drückte sichtlich fester zu, als ich zärtlich die Schulter seines Vaters streichelte und nach der anderen Hand fasste.
Sturzbäche aus Tränen säumten mein Gesicht, schon seit ich aus dem Auto gestiegen war. Nun entfleuchte mir ein klagendes Schluchzen. Nicht eine Sekunde dachte ich darüber nach, vor dem Stinkstiefel neben mir Haltung zu wahren.
Dann holte Sascha schwach Luft und er flüsterte etwas. Es war der Name Austen. Ich brach zusammen, vergrub meine Stirn an seinem spindeldünnen Arm. Noch einmal entrann ihm ein Wort. Alexander. Hatte der es gehört? Er stand so weit weg. Ich nahm all meine Kräfte zusammen, um deutlich zu sagen: »Wir sind hier, Sascha.«
Der lächelte und diesmal entfuhr ihm »Schön« und »Kinder«.
Ich hoffte sosehr, sein Sohn hätte wenigstens das vernommen. Es dauerte einen Moment, dann kniete Doktor A sich neben mich und sagte: »Es ist gut, Vater. Wir sind hier.«
Sascha starb mit diesem Lächeln. Die Maschine hinter ihm pfiff leise. Nun erst wurde mir gewahr, dass sich eine Schwester im Zimmer aufgehalten hatte, die nun hinausschlich, um die Ärztin zu holen. Und mir war klar, dass sie den Todeszeitpunkt verkünden sollte. Meine Tränen endeten nicht.
Neben mir kniete immer noch Doktor A und ich spürte, dass er mich ansah. Ich erwiderte seinen Blick. Seine Augen durchzogen rote Äderchen, jedoch keine Spur von Tränen.
»Frau Lux«, sagte er so leise, wie er konnte. Vermutlich konnte man mit so einer tiefen Stimme nicht flüstern. »Danke, dass Sie hier sind.«
Irrte ich mich oder wollte er mich umarmen? Alles in mir sträubte sich, ihn so zu sehen. Er trug wie immer einen tiefschwarzen Anzug, doch der war durchgeschwitzt und verknittert. Doktor A hockte mit mir auf dem polierten Boden und sah so dermaßen verlassen und hilflos aus.
Ich schüttelte das Gefühl in mir ab. Bevor ich Mitgefühl für diesen Klotz zulassen würde, fuhr ich alle Schutzschilde hoch.
Ich hatte einen so wichtigen Menschen verloren. Wollte mir sparen, mich um jemanden zu sorgen, der mir nichts bedeutete. Langsam erhob ich mich. Doktor A kniete immer noch dort und sah flehentlich zu mir auf. Das wurde mir zu viel und ich wich einen Schritt zurück. Er öffnete den Mund und sagte: »Ich möchte …«
Genau in diesem Moment kam die Ärztin herein, nickte uns zu, Doktor A verstummte augenblicklich und stand auf.
Sascha wurde für tot erklärt. Sofort weinte ich noch mehr. Die Schwester trat auf mich zu, strich mir über die Schulter. Ich sah sie an. Bedeutungsvoll öffnete sie ihre Arme ein bisschen, und ich huschte hinein. Sie wiegte mich an ihrem massigen, warmen Körper und ließ mich klagen und flennen. Die Blicke von Doktor A bohrten sich spürbar in meinen Rücken. Was hatte er denn gedacht? Dass ich mich an seiner Schulter ausweinen wollte? Im Augenwinkel sah ich ihn eilig das Zimmer verlassen.
°°°
»Willst du echt nicht, dass ich dich begleite?«, fragte Woolf.
»Nein, ich schaffe das.«
Zärtlich strich ich meine Kleider glatt. Ich hatte mich für eine langärmlige schwarze Bluse mit Nadelstreifen und einen knielangen schwarzen Bleistiftrock entschieden. Dazu klassische, sehr hohe Pumps.
»Ich möchte dir aber gerne beistehen, Jane. Ich komme mit!«, verkündete Woolf und wandte sich ab, um sich fix in seine Trauergarderobe zu werfen.
»Woolf Eugen Lux«, donnerte ich ihm daraufhin hinterher, und er sah mich erschrocken an, »du wirst mit deinem Arsch brav zu Hause bleiben. Hast du mich verstanden?«
Ich wurde ihm gegenüber so selten laut, dass er kapierte und gehorchte.
Anderthalb Wochen waren seit Saschas Tod vergangen. Inzwischen war Samstag, der Tag seiner Beerdigung. Es war warm draußen. Vom Regen am Morgen übriggebliebene Wolken bedeckten den Himmel. Mit der Tram konnte ich fast bis vor die Tore des Sophienfriedhofs fahren. Vor dem Haupteingang und der Kapelle bildete sich bereits eine Menschentraube. Ich schlich hin. Irma, die Pressesprecherin des Verlags, Joschua und Adele, zwei Talente, die Sascha entdeckt und gefördert hatte, erblickten mich und lächelten, so gut sie konnten. Ich ging zu ihnen und nahm ihre tröstende Umarmung entgegen. Wir plauderten über dies und das, versuchten zu scherzen, dass wir wohl dazu verflucht seien, uns immer nur auf Messen zu treffen. Buchmessen oder Totenmessen.
»Wir gehen hiernach zu einem Leichenschmaus. Komm doch mit, Austen. Herr Schneid hätte es so gewollt«, flüsterte Irma, während sie mir den Arm streichelte.
»Eigentlich mag ich lieber für mich sein.«
»Mensch, bist du das nicht seit zehn Tagen?«, hakte Joschua nach.
Er hatte also davon gehört, dass ich mich nach der Todesnacht Saschas zu Hause verbarrikadiert und wenig gegessen oder geschrieben hatte. Nicht mal auf Anrufe, geschweige denn auf Nachrichten aus meinen einschlägigen sozialen Netzwerken hatte ich reagiert, und war natürlich weit entfernt davon gewesen, mit Valeria zu trainieren. Doch es hatte sich gut angefühlt. Ich schlief viel, dachte nach, weinte, ließ meiner Trauer freien Lauf. Sascha hätte gewollt, dass ich meinem Herzen folge, und das wollte allein und kummervoll sein.
Im nächsten Augenblick fuhr ein nachtschwarzer Porsche Cayenne vor.
»Na, schau mal, wer da kommt ...«, zischte Adele. Offenbar konnte wirklich niemand den Sohn des Verstorbenen leiden. Doktor A stieg aus der Fahrertür, straffte, ohne irgendwelchen Blicken zu begegnen, seine breiten Schultern und lief um das Auto. Er öffnete die Beifahrertür und eine schneewittchenartige Fee entstieg. Sie trug ihr blauschwarzes glattes Haar zu einem adretten Knoten, die vollen Lippen blutrot geschminkt. Ihr schlanker Körper wurde von einem knielangen, schwarzen Kleid, Peplum Bleistiftrock, mit halblangen Ärmeln verdeckt. Dazu schimmernde High Heels. Doktor A trug wie immer einen schwarzen Anzug und ein dunkelgraues Hemd mit passender Krawatte. Seine Augenringe waren dunkler, sein Gesicht noch eingefallener und die Ader auf seiner Stirn schien schmerzhaft zu pulsieren. Er führte seine Frau an den Wartenden vorbei, ohne auch nur einmal zur Seite zu sehen. Sie hingegen nickte allen höflich und so aufmunternd wie möglich zu und nahm dann die Beileidsbekundungen der Pfarrerin entgegen. Als die beiden die Kapelle betreten hatten, setzten sich die übrigen Trauernden in Bewegung.
An der Tür hoben wir eine der bereitstehenden weißen Kerzen auf, die wir im Gebetsraum vor dem dunklen Sarg abstellten.
Es verschlug mir den Atem, Saschas freundliches Lachen auf einem Foto davor zu sehen, und ich beeilte mich, von dem Schrein wegzukommen.
Die Bänke waren bereits gut gefüllt, die ersten beiden Reihen für die Familie und sehr enge Freund*innen reserviert. Ich steuerte auf die hinteren Bankreihen zu, einige Gäst*innen drängten sich schon an die Wand. Auch ich würde während der Trauermesse stehen müssen.
»Entschuldigung … Austen Lux?«, sprach eine freundliche Stimme zu mir.
Ich drehte mich langsam um. Es war Frau Schneid. Jetzt von nahem sah ich ihre dunkelbraunen Augen, ihr warmes Lächeln und das ebenmäßige, milchweiße Gesicht deutlich. Sie musste etwa vierzig sein und sah sehr müde aus.
»Ich bin Madelena«, sagte sie ruhig und gab mir die Hand. Ihr Deutsch klang gebrochen, ein starker russischer Akzent schwang mit. »Bitte kommen Sie. Sie sitzen bei uns.« Sie deutete auf die erste Reihe neben Doktor A und ihr. Dieser begegnete meinem Blick, seine Miene war ausdruckslos.
»Ich halte das für keine gute Idee …«, flüsterte ich höflich und rang mir ein Lächeln ab.
»Mein Schwiegervater hat Sie sehr lieb gehabt, Frau Lux … Austen. Bitte kommen Sie zu uns, er hätte sich gefreut.«
Madelena reichte mir wieder eine Hand und dann ihre andere. Sie zog mich zärtlich an sich. Unsere Schuhe waren gleichhoch, unsere Kleider gleichlang, wir maßen beide gut 1,75 Meter. Bis auf meine braune Haut und ihren flachen Arsch sahen wir uns ziemlich ähnlich. Dankbar nahm ich die flüchtige Umarmung dieser wunderschönen Frau an und ließ mich von ihr zu meinem Platz bei der Familie und den engsten Vertrauten führen. Bevor ich mich niederließ, sah ich Doktor A in die Augen. Immer noch wirkte sein Blick undurchsichtig, doch dann nickte er unmissverständlich, und ich nahm Platz. Madelena setzte sich zwischen uns, drückte aufmunternd meine Hand und ergriff dann die ihres Gattens. Sie flüsterte ihm etwas auf Russisch zu, er nickte und antwortete ihr. So ein vertrautes Miteinander. Wie lange sie wohl schon zusammen waren? Und was mich viel mehr interessierte: Was wollte so eine wundervolle Frau mit so einem Stinkstiefel von Mann? Es gab anscheinend Seiten an ihm, die uns verborgen blieben.
Dann kam die Pfarrerin und bat uns, uns zu erheben. Wir lasen ein kurzes Gebet von den Zetteln, die auf unseren Plätzen gelegen hatten, ehe sie eine rührende Andacht hielt, die mir mehrfach Tränen in die Augen trieb. Und am Ende übergab sie das Wort an Madelena. »Seine Schwiegertochter wird uns nun sein Lieblingslied vorsingen.«
Diese drückte noch einmal die Hand von Doktor A und erhob sich. Anmutig wie ein Schwan trat sie vor die Gemeinde und in einem kristallklaren Sopran sang sie: »Wenn alle Brünnlein fließen.« Und mir flossen die Tränen nur so die Wangen hinunter. Ja, das hätte Sascha gefallen.
Daraufhin standen wir auf, die Sargträger, einer davon war der Sohn, hoben das letzte Behältnis hoch und trugen es hinaus. Die Gemeinde folgte schweigend. Madelena ging am Arm von Doktor Richter, dem Verlagschef und Saschas engstem Vertrauten. Er lobte sie für ihre Darbietung, und so schnappte ich auf, dass sie in Moskau Opernsängerin war. Ich wiederholte innerlich meine Frage: Was wollte so eine wundervolle Frau mit so einem Stinkstiefel von Mann?
Vor der Grabstelle bildete sich eine Schlange, mittlerweile nieselte es leicht. Da ich schon bei der Totenmesse hatte vorne sitzen dürfen, stellte ich mich nun an die Seite und ließ den anderen den Vortritt. Schließlich erreichten Joschua und Adele mich, beide genauso verheult wie ich. Wir umarmten uns einmal mehr und drängten uns zu dritt unter einen Regenschirm. Über ihren Schultern sah ich, dass Doktor A neben dem offenen Grab stand, bei ihm Madelena, und sie nahmen die Beileidsbekundungen der Vorübergehenden entgegen. Er sah in dem Moment zu mir herüber.
Zehn Minuten später waren wir an der Reihe. Andächtig ging ich über den feuchten Boden, streute Blüten und Erde auf Saschas Sarg und wisperte: »Danke für alles«, und noch leiser hinterher: »Liebes Großväterchen.«
Ich schritt erhobenen Hauptes zu Madelena und Doktor A. »Vielen Dank für die schöne Abschiednahme und vor allem für Ihren Gesang. Ich fühle mich durch all das wirklich etwas leichter ums Herz.« Mühsam rang ich mir für die beiden ein Lächeln ab, das er unbewegt hinnahm und dem sie herzlich nickend begegnete.
»Dass wir uns unter so traurigen Umständen treffen«, entwich es ihr, »Sascha hat viel von Ihnen geschwärmt.«
»Danke«, lächelte ich, »dabei wollte ich doch Sie trösten.«
»Sie haben vermutlich den größeren Verlust erlitten. Ich hatte leider kaum Umgang mit ihm, schon vor der Scheidung und danach nur noch an Geburtstagen. Aber wenn, dann hat er in den letzten fünf Jahren fast immer von Ihnen geredet.«
Ich lächelte ungläubig, jedoch geschmeichelt und reichte dann Doktor A die Hand. Er zögerte, ehe er sie ergriff. »Auch Ihnen mein herzliches Beileid, Doktor Schneid.«
»Ebenso«, sagte er ruhig. Wieder kribbelten meine Finger an seiner weichen, festen Haut. Wirklich nahm ich dieses Prickeln dieses Mal aber nicht für voll.
Sein Gesicht blickte plötzlich fast schon sanft. Als erinnere er sich in diesem Augenblick genau wie ich an die letzten Worte Saschas. »Kinder.«
Ich gesellte mich zu Irma, die mich sofort nach Danni fragte. Zwar war ich irritiert, da die beiden sich erst auf zwei meiner Buchvorstellungen gesehen hatten, gab aber brav Auskunft. Vermutlich war ich an dem Tag zu aufgebracht, um festzustellen, dass meine Verlagskollegin ein Auge auf meine beste Freundin geworfen hatte.
Mein Blick schweifte umher. Überall hatten sich die Trauernden in kleineren Grüppchen aufgestellt, Madelena stand weiter weg und sprach mit Doktor Richter.
Nur Doktor A befand sich noch weiter abseits. Er schlenderte, die Hände in den Taschen, auf und ab. Schließlich hielt er inne, bückte sich zum Gehweg hinab und hob etwas auf, das er dann ins Gras setzte. Ich kniff die Augen zusammen und erspähte wie ein Luchs: Es war eine Schnecke.
°°°
Ich fand mich kurz darauf am Nordbahnhof wieder und stieg die Treppen hinab zum S-Bahn-Gleis. Nach Hause wollte ich nicht, aber ich wollte für mich sein. Nachdenken. Dumm rumfahren. Auf einmal spürte ich eine sehr warme Hand an meiner Schulter und wirbelte herum. Doktor A war mir gefolgt. Aus irgendeinem Grund wunderte mich das nicht.
»Frau Lux, darf ich Sie nach Hause bringen?«
»Danke, aber ich fahre nicht nach Hause.«
»Kann ich sonst etwas für Sie tun?«
Außer aufzuhören, mich zu nerven, meinen Sie? Doch ich biss mir auf die Zunge. »Nein, Sie brauchen mich nicht zu trösten. Doktor Schneid, gehen Sie und lassen Sie sich selbst von Ihrer Frau trösten.«
»Exfrau. Und sie wäre nicht in der Lage, mich zu trösten.«
Meine Bahn fuhr ein. »Ich muss dann.«
»Bitte, Frau Lux …«
Ich sah ihn überrascht an. Er hatte wieder diesen Blick wie neulich am Sterbebett seines Vaters. Bebend entwich ihm: »Sie sind der einzige Mensch, der meinen Schmerz nachvollziehen kann.«
Traute ich meinen Ohren richtig? Im nächsten Moment wurde mir klar: Was er da sagte, stimmte. Entgegen meiner Abscheu griff ich nach dem Ärmel seines Jacketts und zog ihn in den Waggon, der kurz darauf seine Türen zuschlug.
»Ich habe kein Ticket«, japste er.
»Schon gut, Sie fahren bei mir mit.«
Alle Sitze waren belegt, weswegen wir uns in die Mitte des Wagens auf diese beweglichen granitartigen Dinger vor die Karte des S-Bahn-Netzes stellten. Ich lehnte an der Wand, er stand vor mir. Wir schwiegen. Auf eine unheimliche Weise fühlte es sich gut an. Doktor A hatte recht: Vermutlich empfanden wir beide ähnlich starke Gefühle der Trauer. Wir mussten nicht reden. Wir sahen einander stumm an.
Beredtes Schweigen.
Die S-Bahn rappelte durch die weiten, langen Schächte. Am Bahnhof Friedrichstraße stieg eine Horde Tourist*innen ein. Schlagartig wurde der Waggon so voll, dass Doktor A und ich aneinandergepresst wurden. Noch immer schwiegen wir und sahen uns an. Wenngleich seine Lippen wie sonst auch einen graden Strich bildeten, blickten mich seine Augen warm und freundlich an. Diesen Blick hatte Sascha ihm vererbt.
Völlig von Sinnen kam mir wieder all die Trauer hoch, und ich senkte den Kopf, spürte, dass Doktor A sofort ein Stück näher zu mir kam. Dann lehnte ich meine Stirn an seine Schulter, meine Beine ließen nach. Mit einer Hand hielt er sich an der Stange fest, die andere umschloss mich schützend. Noch enger schmiegte ich mich an ihn, fühlte seine Lippen auf meinem Schopf. Doch er küsste mich nicht. Sein Mund ruhte dort, er atmete ruhig durch die Nase, was ich trotz meiner dicken Locken an meiner Kopfhaut spürte.
Wir klammerten uns aneinander, fern jeder Gewohnheit, bar jeden Hassgefühls. Ich war so traurig, dass ich sogar die Wärme dieses Menschen dankbar annahm. Gedankenverloren schloss ich die Arme um seinen schlanken, festen Oberkörper. Hitze verströmte dieser Typ, und als mir klar wurde, dass mein Leib sie auch entgegennahm, da wusste ich, dass ich ihn nicht so sehr verachten konnte, wie ich all die Wochen angenommen hatte. Vielleicht wollte ich in dem Moment einfach nicht hassen. Mir war alles recht. Ich wollte, dass es aufhörte, die Trauer.
Der scheußliche Klumpen, der in mir schmerzte, sollte weggehen. An den Körper des einzigen Menschen auf der Welt, der das Gleiche wie ich empfand, geschmiegt zu sein, machte es erträglich.
Wunderschön. Wunderschön. Wunderschön. Wunderschön.
»Hier müssen wir raus, meine Umweltkarte reicht nur für den AB-Bereich«, sagte ich leise, als die Tourist*innen nahe Wannsee in Richtung Ausgang drängten. Obwohl das Abteil viel leerer geworden war, hatten Doktor A und ich noch immer dicht beieinandergestanden. Als ihm das gewahr wurde, schnellte er zurück. Nun erst sah ich sein Gesicht wieder. Wenngleich er nicht lächelte, blickten seine Augen liebevoll, seine Züge schienen entspannter. Wir folgten der Meute und standen dann eine Weile schweigend auf dem S-Bahngleis. Abwesend fragte ich: »Was ist mit Ihrer Frau?«
»Exfrau«, wiederholte er.
»Ja, gut: Haben Sie Ihre Exfrau einfach dort stehen gelassen?«
Ich versuchte, ihre Frage einzuordnen. Wie kam sie denn jetzt darauf? Weswegen musste sie ausgerechnet das Thema Madelena anschneiden? Sollte ich ihr begreiflich machen, dass zwischen uns beiden nichts mehr war?
Er sah mich komisch an und gab zurück: »Sie ist erwachsen, ich brauche nicht auf sie aufpassen.«
»Natürlich nicht.« Weswegen gängelte er mich? Warum kehrten wir jetzt auf diese Ebene zurück? Als würde er uns mit allen Mitteln davon abhalten, uns näherzukommen. Dabei hatte ich mir bis vor fünf Minuten vorstellen können, mich doch noch mit ihm anzufreunden. »Ich frage nur, weil Sie zusammen mit ihr ankamen, also ist davon auszugehen, sie sei Ihre Begleitung.«
Was für eine scharfe Beobachterin … ruhig, Junge, nicht den nächsten Fauxpas. Sie sieht schon wieder sehr irritiert aus.
Dabei war es bis eben so angenehm. Mach das nicht kaputt.
Ich versuchte, sanft zu klingen: »Madelena ist mit den Autoren mitgegangen, die noch auf meinen Vater anstoßen wollten. Als ich sah, dass Sie nicht zu ihnen zählen …«
Was ist mit seiner Stimme los?
»… bin ich Ihnen gefolgt.«
»Warum?«
Natürlich musste sie genau diese Frage stellen! Ich kann ihr doch kaum sagen, dass es sich in dem Moment
einfach richtig angefühlt hatte.
»Aus keinem bestimmten Grund.«
Sie blickte ungläubig.
Einer Intuition folgend setzte ich nach: »Sie waren da, als er starb. Dafür wollte ich Ihnen danken. Nochmal!«
Austens Gesicht hellte sichtlich auf.
Das ist dann wohl die Seite, die er verbergen will …
Sie reichte mir ihre Hand: »Schließen wir Frieden, Doktor Schneid?«
Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen und fasste ihre filigranen Finger so vorsichtig wie möglich.
Wow, er kann ja richtig schön lächeln!
»Frieden«, sagte er zärtlich und plötzlich jagte mir ein angenehmer Schauer über den Rücken.
Seine großen, warmen Hände, seine tiefe, sanfte Stimme und seine leuchtenden, klugen Augen ließen mich offenbar alles andere als kalt. Das also war es, was mein Körper ausströmte, wenn wir uns berührten. Es war immer wieder erstaunlich, auf wie vielen Ebenen der Mensch doch funktionierte. Doktor A und ich waren so weit voneinander entfernt, was Interessen, Alter, Lebensgewohnheiten, Rollenvorstellungen und letztlich auch den gesellschaftlichen Stand anging. Aber die triebhafte Basis, die Begegnung eines begehrten Körpers, rief in mir Reaktionen hervor. Meine biologischen Instinkte nahmen ihn offenbar als ebenbürtigen Partner, als paarungsgeeignet, wahr. Ich lächelte vor mich hin über diese Erkenntnis. Natürlich reagierten meine weiblichen Empfindungen auf ihn. Er war ein Alphatier, wie es im Buche stand: gesund, groß, stark, vermögend, einflussreich und zudem weltgewandt.
Doch zum Glück gehörte für mich einiges mehr dazu, mich auf jemanden einzulassen. Reiche, gebildete und kreative Männer liefen mir in meinem Gewerbe zuweilen öfter über den Weg, und auf viele davon sprangen meine sexuellen Triebe an. Darüber war ich erhaben. Ich war eben auch ein Alphaweibchen, wie es im Buche stand: Ich paarte mich nicht mit jedem, der einfach nur gut war – ich bevorzugte die Besten. Und das Beste war für mich: Liebe!
Reiß dich zusammen. Reiß dich zusammen. Reiß dich zusammen!
Auf der Rückfahrt saßen wir uns schweigend gegenüber. Ich hatte gehofft, er würde sich für seinen jüngsten Ausbruch entschuldigen. Doch er ruhte dort in einer Haltung tiefen Sinnens. Mir war schon lange klar, dass dieser Mensch zu weit oben war, um von gesellschaftlichen Normen Gebrauch zu machen. Er war über soziale Gepflogenheiten weitestgehend erhaben. Anerkannte zwischenmenschliche Gewohnheiten, wie zum Beispiel seine Mitmenschen hin und wieder freundlich anzulächeln oder sich wenigstens ab und an für seine Fehler zu entschuldigen. Er hatte gewiss keinen Kund*innenumgang in diesem Sinne; er hatte Klient*innen. Solche, deren Gesichter er vermutlich auch nicht oft sah. Es war davon auszugehen, dass sich seine Welt kalt und bitter zeigte, also hatte er sich in all den Jahren angepasst. Er lebte davon, gefürchtet zu werden. Darum lächelte er nie, blickte stets finster drein und wahrscheinlich war er die meiste Zeit schlicht so wütend, wie er guckte. Dabei hatte er wirklich ein hübsches Gesicht.
Unmerklich schmunzelte ich über mich selbst. Ich hatte zwischendurch oft über ihn nachgedacht. Mein Autorinhirn hinterfragte gerne, wollte wissen, welchen Weg ein Charakter einst genommen hatte, um an diesem Punkt des Lebens zu stehen. Doktor A war, das musste ich mir eingestehen, eine Untersuchung wert. Holterdiepolter hatte ich in den wenigen Wochen Einiges über ihn erfahren, was vermutlich nicht einmal Menschen wussten, die ihm weitaus näher standen. Höchstwahrscheinlich fühlte er sich auch deswegen von mir bedroht. Er hatte die ganze Zeit aus dem Fenster gesehen, die Augen vor Trauer rot unterlaufen, die Hand vor seinem Mund. Dieser Mann war stets gut angezogen, anscheinend wurde er professionell eingekleidet, sein blondes Haar war akkurat und sehr kurz geschnitten und verlieh seinem markanten Gesicht zusätzliche Härte. Als würde all dies nicht schon seriös und gleichfalls einschüchternd wirken, wurde seine Stirn etwa mittig von dieser Ader geteilt, ganz so als sei sie sein Wut-Pendant zu meiner Denkfalte. Nun begegnete er meinem Blick, mit dem ich sein Aussehen abgetastet hatte. Ich lächelte ihn ein wenig an in der Hoffnung, seine Lippen heute nochmal freundlich zu sehen, aber er blickte nur irritiert.
»Was ist?«, fragte er doch tatsächlich.
»Nichts, ich lächle nur.«
»Weswegen?«
»Ich brauche dazu selten einen Grund, Doktor Schneid.«
Ihre Antwort verwirrte mich erst recht. Hatte ich was im Gesicht? Sah sie mich schon länger an? Ich hatte die letzten Minuten damit verbracht, aus dem Fenster zu sehen, um nicht Gefahr zu laufen, sie anzustarren. Aber sie schien mein Anblick eher zu amüsieren. Verstohlen ließ ich meine Augen über ihr Kleid schweifen. Egal ob sie wie heute elegant, wie kürzlich sportlich in diesen verboten kurzen Hosen oder beim ersten Treffen, als sie hippiemäßig unterwegs gewesen war – ihr Stil ließ sich zweifelsohne als geschmackvoll bezeichnen. Diese Gabe, schöne Dinge aufeinander abzustimmen, schien so manchen Frauen gegeben. Es blieb mir von jeher ein Rätsel, wie meine Sekretärinnen es anstellten, ihre Utensilien, die Möbel und die Ablage, so zu organisieren, dass alles neben Funktionalität auch noch Ebenmaß erfüllte. Wie hatte Madelena es damals geschafft, unsere Wohnung so einzurichten, dass ich ein Gefühl der Heimeligkeit verspürte, das ich nur von meinem Elternhaus her kannte? Und das hatte meine Mutter eingerichtet. Und woher um alles in der Welt wusste meine Herrenausstatterin, welche Nuancen meinem kalkigen Teint schmeichelten? Jedes Mal aufs Neue wollte sie mir farbige Hemden, gewagtere Krawatten oder gar bunt abgesetzte Anzüge schneidern lassen. Schockiert hatte ich dank ihr schon oft festgestellt, dass mir warme, kräftige Töne standen, mich jedoch dagegen gesträubt, mich an diesem neuerlichen Wahn zu beteiligen – die Idee meiner Geschlechtsgenossen Farbe zu bekennen. Ich wusste nicht, warum, aber alles in mir begehrte gegen den Gedanken auf, jemals lila oder sogar rosa zu tragen! Vater würde sicher …
Nun erst wurde mir bewusst, dass ich das erste Mal seit zehn Tagen über etwas anderes nachgedacht hatte als ihn. Und dann auch noch über so lapidare Dinge. Lag das an der Gegenwart dieser Frau? Ich sah ihr ins Gesicht, sie erwiderte den Blick im selben Moment. Er traf mich mitten ins Herz. Was war das, was nur hatte sie an sich, dass mich so … Ja, was eigentlich?
Warum guckt er jetzt wieder so wütend?
Hilflos? Entwaffnend? Gleichzeitig befreiend. Herrgott, Junge, was läuft hier gerade schief? Du begegnest tagtäglich gebildeten, eleganten und charakterstarken Frauen. Gewiss, Frau Luxens Klasse war mit Madelenas zu vergleichen, auch wenn ihr das wohlmöglich nicht einmal bewusst war. Sie war in ihrer Welt, schien nach eigenen Regeln zu spielen. Es war ihr so völlig egal, was andere von ihr hielten.
Sie war … frei! Frei von alledem, frei von dem Zwang, jemandem gefallen zu wollen. Und das hatte Vater so verdammt an ihr gemocht. Ich höre noch immer seine Worte: »Das ist ein prächtiges Mädchen, Junge. Immer neugierig, immer voller Energie. Ich wünschte, ich könnte mich von allem mitreißen lassen.« Und dann hatte er nachgesetzt: »Dir täte etwas mehr Frohsinn auch ganz gut.«
Plötzlich sprang er auf, die Bahn fuhr soeben an der Station Brandenburger Tor ein. Mit den Worten: »Ich muss gehen«, drängte er sich zwischen den Mitreisenden vorbei und verschwand aus meinem Blickfeld. Als die Bahn weiterfuhr, sah ich ihn auf dem Gleis stehen. Er rieb sich die Stirn, die andere Faust in die Seite gestemmt. Worüber zum Rotzdonnerwetter hatte er sich nun wieder aufgeregt?
°°°
Ich ließ mich mit einem Taxi nach Hause fahren. Wie vereinbart, hatte Madelena den Porsche in die Tiefgarage gestellt, ehe sie in ihr Hotel gegangen war.
Meine Wohnung war gerade geputzt worden. Ich warf das Jackett von mir, zog die Krawatte ab und fiel auf das Sofa. Meine Stirn dröhnte und fühlte sich heiß an. Vielleicht sollte ich etwas schlafen. Aber die Papierstapel, die sich auf meinem Schreibtisch unweit des Sofas türmten, sagten mir deutlich, dass dazu keine Zeit war. In ein paar Stunden würde ich endlich dauerhaft zurück nach Moskau fliegen und erst zu den Nachfolgeverhandlungen des Aufsichtsrates zurückkehren. Während ich mein Hemd aufknöpfte, erhob ich mich und schlurfte zum Schreibtisch. Neben dem Stapel lag im Seidenpapierumschlag Vaters Testament. Vermutlich würde er IHR auch einen Teil zukommen lassen. Ich brauchte es nicht zu lesen und zog mir stattdessen die Papiere heran.
Derweil meine Augen über die Zeilen flogen, verschwand die Müdigkeit, der Kopfschmerz. Ich wusste, wenn ich mich nur konzentrierte, würde dieses miese Gefühl in mir nachlassen. Als Mutter starb, hatte es geholfen, fleißig in der Schule zu lernen, an Aktivitäten der hiesigen Vereine teilzunehmen, mich abzulenken. Und als Madelena die Scheidung einreichte, half es mir, mich noch mehr in meine Arbeit zu stürzen. Neun Jahre war unsere Trennung inzwischen her. Es war so befreiend gewesen, niemandem mehr Rechenschaft ablegen zu müssen. Aber es dauerte eine ganze Weile, bis ich es mir abgewöhnt hatte, ein beißendes Gefühl im Nacken zu verspüren, wenn ich 3:00 Uhr nachts im Büro auf die Uhr sah. Noch immer stellte ich mir damals Madelena vor, wie sie zu Hause auf unserem Sofa saß, ihre nackten wunderschönen Füße auf dem niedrigen Tisch, und ein Buch las, um nicht einzuschlafen. Um mich zu erwarten. Das hatte sie lange Jahre getan. Irgendwann in unserer Ehe hatte sie aufgehört, zu streiten, wenn ich nach Hause kam. Dann aufgehört zu weinen, weil sie mich tagelang nicht gesehen hatte. Und irgendwann kam ich schon um 22.00 Uhr nach Hause und sie lag schlafend im Bett. Schließlich hörte sie auf, mich zu vermissen, meine Anwesenheit zu schätzen, und ganz zum Schluss, küsste sie mich nicht mehr, wenn wir uns begrüßten. Erst da war mir aufgefallen, wie lange wir nicht mehr ... obwohl wir es doch so gerne getan hatten.
Der eine Morgen etwa ein halbes Jahr vor unserer Scheidung kam mir in den Sinn. Wie so oft hatte ich nicht tief geschlafen, bemerkte Madelenas unruhige Bewegungen. Als die Sonne die ersten Strahlen durch die Ritzen der Jalousie warf, lag ich wach und betrachtete ihr schlafendes Gesicht. Mir wurde klar, wie sehr ich sie vermisste. Ich rutschte etwas näher an sie heran und sie drehte sich instinktiv von mir weg. War sie wach? Sie lag bewegungslos, ehe zwanzig Minuten später der Wecker piepte. Murrend stellte sie ihn ruhig und erhob ihren Oberkörper. Ein schwarzes enges Hemdchen und ein passendes Schlafhöschen bedeckten ihren zierlichen Körper. Sie streckte sich im Sitzen, fuhr sich durch das lange, weiche Haar. Bei dem Anblick wurde ich schlagartig noch erregter und wagte den ersten Schritt. Zaghaft strich mein Finger über die Linie ihrer Wirbelsäule, sie zuckte zusammen. Unverkennbar ihre Haltung: Fass mich nicht an! Ich dachte, sie würde mich ansehen und mir irgendwas auf Russisch entgegenfauchen. Doch sie tat etwas Schlimmeres, als diesem Zorn Luft zu machen: Sie blickte sich nicht einmal zu mir um, sondern erhob sich aus dem Bett, als sei ich nicht existent, und verschwand ins Bad.
Die Türglocke riss mich aus meinen Gedanken. Ich betätigte den automatischen Öffner und Herr Bär, mein Berliner Fahrer, trat ein. Zum Glück war er wie immer überpünktlich, denn ich war viel zu spät dran. »Na sowas, Doktor Schneid«, wunderte er sich, als er ins Zimmer trat und mich mit offenem Hemd und barfuß antraf. Ich schnellte hoch, stotterte dümmlich, dass ich noch duschen müsse.
»Janz mit de Ruhe. Ik pack' Ihre Sachen zusammen, wenn se erlauben, und Sie machen sich frisch.«
Ich nickte ihm zu und ging ins Bad. Es waren keine wirklich geheimen Dokumente, und bei Herrn Bär wusste ich außerdem, dass er nicht draufschauen würde. Als ich mit einem Handtuch um die Hüften aus dem Badezimmer stolperte, stellte ich fest, dass er etwas unbeholfen im Raum stand und bereits meine dicke Aktentasche und die übrigen Mappen unter dem Arm trug.
»Setzen Sie sich einen Moment«, sagte ich, »lesen Sie was.«
Er deutete einen Diener an und ging hinüber zum Sofa. Als ich kurz darauf fertig angezogen ins Zimmer trat, saß er da und las das SZ-Magazin, das seit einer Ewigkeit in meiner Wohnung lag. Das mit dem »Sagen-Sie-jetzt-nichts: Austen Lux« Interview. Herr Bär sah mich über seine Brille hinweg an. Ich wusste, dass er wusste, wer sie war, wie Vater zu ihr gestanden hatte, dass diese Zeitung schon über ein halbes Jahr alt war und dass ich normalerweise keine irdischen Dinge wie Zeitschriften aufhob. Aber er sagte kein Wort, sondern erhob sich höflich, nahm Tasche und Akten unter die Arme, um mir dann auch noch den Rollkoffer abzunehmen und folgte mir zur Wohnungstür.
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»Scheiße, Austen, siehst du scharf aus!«, verkündete Danni, als ich direkt von meiner Abenteuerfahrt nach der Beerdigung vor ihrer Wohnungstür stand. Ich wusste, dass sie zwei Stunden später ihren Dienst als Nachtportier würde antreten müssen, aber nach diesem seltsamen Tag war mir sehr danach, mich etwas von ihr berieseln zu lassen. Sie wusste wohl, dass ich ein Trauergewand trug, dass ich die letzten Tage fix und fertig vor mich hingedöst hatte.
Aus alledem machte sie keine große Sache. Sie lobte unentwegt mein Aussehen, quasselte über die Dinge, die sie gerade beschäftigen, von ihren Kindern, zeigte mir Shopping-Errungenschaften. Sie fragte mehr als zweimal, ob ich mich mit Adele und Joschua voll autorinmäßig hatte unterhalten können, ob sie vielleicht mehr lesen sollte, um mich als Freundin zu halten, und strich mir immer mal über den Unterarm. Außerdem erzählte sie irgendwas davon, dass es Bianca und Benjamin in den letzten Tagen zu bunt getrieben hätten mit ihren ständigen Eifersüchteleien, und sie deswegen ihre Nummer für sie gesperrt hatte. »Notfalls erwirke ich eine einstweilige Verfügung, ist mir scheißegal, ob ich dann Überstunden machen muss, damit meine Kinder was zu beißen haben. Solche Psychos will ich nicht mehr in meinem Leben haben!«
Ich war in dem Moment nicht imstande, ihren entschlossenen Tonfall einzuordnen, denn sowas in der Art hatte sie schon häufig angedroht. Mir war nicht bewusst, wie ernst es ihr dieses Mal war.
Ich gluckte einfach nur auf ihrem Sofa, stierte im Zimmer umher und lauschte ihr mit einem Ohr. Mein Blick heftete sich wie so oft an den Artikel über mich im SZ-Magazin, den Danni gerahmt und aufgehängt hatte. »Scheiße siehst du da hammergeil aus«, hatte sie damals befunden und ich ihr recht gegeben. Die schwarz-weißen Bilder zeigten mich und mein mageres Gesicht und Körper in hautenger Kleidung kurz nach der Vollendung meines vierten Buches »WEITER WEG«.
Ich sah viel älter aus, hatte mein dereinst langes, chemisch geglättetes Haar zu einem strengen Knoten aufgesteckt und reagierte auf die Fragen mit koketten wie auch überlegenen Körperhaltungen. Mein Antlitz lag nach der Anstrengung des Schreibens über meine Trennung in herberen Falten als normal, die sich erst Wochen später legten, und die ich den Visagisten zu überschminken verboten hatte. Sie waren meine Kriegsnarben. Offenbar hatte das landesweit viele Frauen beeindruckt, ich sah einen Teil meiner Mission erfüllt: Trage dein Lebensalter mit Stolz. Obwohl ich erst 29 war, wirkte ich so abgemagert und ausgelaugt, dass ich gut und gerne auf 45 hätte geschätzt werden können. Nach dem Interview gönnte ich mir einen Trip quer durch Norwegen mit Woolf an meiner Seite. Wir wanderten durch die Wälder und Täler, fischten in blaugrauen Gewässern, kraxelten auf feuchten Gebirgsketten umher und genossen die Abgeschiedenheit.
Danach fuhr ich mit Danni für eine Woche auf eine Schönheitsfarm, ehe ich strahlend schön und gestärkt zur Buchpremiere erschien und die Welt mit meiner wiedergewonnenen Jugend erschütterte. Und meinen Exfreund, was mir in dem Moment leider am wichtigsten war.
Die Türglocke riss mich aus meiner Erinnerung und Danni aus ihrem Geplapper. Das war ihr Kollege Ralf, mit dem sie die Nachtschicht zusammen durchstand, und der sie nun abholte. Danni hatte mich die ganze Zeit vollgetextet, wohl wissend, dass es genau das war, was ich gebraucht hatte. An der Tür drückte sie mich dann zärtlich und hauchte in mein Ohr: »Geht’s dir besser, Schätzchen?«
»Ja, ich danke dir, Liebelein.« Ich lächelte müde.
Zu Hause schlief ich ein, ohne mein Trauerkleid abgelegt zu haben, und wachte erst auf, als Duft nach starkem Kaffee die Wohnung erfüllte.