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Drittens

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Wie verabredet erschien ich am nächsten Morgen gegen 10:00 Uhr in der Charité und winkte dem Pförtner zu, der mich inzwischen kannte. Doch heute sprang er auf und sagte: »Sie dürfen jetzt nicht zu ihm.«

»Was ist passiert?«

»Es gab Komplikationen. Er braucht Ruhe.«

Ich verstand die Welt nicht mehr. Anstatt mich wegkomplimentieren zu lassen, setzte ich mich in die Empfangshalle, um zu warten, bis die Komplikationen vorüber waren. Irgendwann nahm ich mir ein Buch und blätterte unruhig darin herum. Wie schlecht ging es Sascha? Was, wenn er sterben würde? Nein, daran durfte ich nicht denken.

Gewiss würden sie ihn wieder hinkriegen und wir hätten noch viele tolle Gespräche. Solche, die mich so beflügelten. Und dann würde ich mich endlich trauen und ihm sagen, wie lieb ich ihn hätte. Bestimmt wusste er es, hatte es gespürt. Aber nun war mir klargeworden, dass ich es ihm gestehen wollte.


Am Tag zuvor war er doch noch so gut drauf gewesen, hatte sich angezogen, so lange mit mir geredet. Ich wollte ihn unbedingt fragen, ob ich sein Leben als Novelle präsentieren dürfe. Wer außer ihm konnte das entscheiden?

Ruhig Lux! Sascha war auf so einem guten Weg, ihm war es von Tag zu Tag besser gegangen. Vielleicht war der Tag zu aufwühlend gewesen und er musste nur etwas schlafen. Das wird es sein. Ich versuchte mir ein paar Notizen zu machen, recherchierte etwas mit dem Schlaufon, für den nächsten Fachartikel, für den ich einen Auftrag an Land gezogen hatte. Ich schrieb ein paar Sätze auf, die ich irgendwann mal für meine Kolumne benutzen wollte, die jeden Mittwoch im Kulturteil der Berliner Zeitung erschien. Doch eigentlich rutschte ich die meiste Zeit auf meinem Stuhl hin und her und versuchte keine Angst um Sascha zu haben.

So sehr ich mich auch zwang, es gelang mir nicht, runterzukommen. Also stand ich auf und lief im Raum umher. In diesem Moment kam Doktor A aus dem Privatflügel. Sofort schnappte ich mir meine Tasche und lief zu ihm.

»Doktor Schneid?«

Er wirbelte herum.


Austen Lux! Schön wie die Morgensonne, trotz ihres besorgten Blickes. Warum war sie hier? Ich hatte doch gesagt, sie sollten sie nach Hause schicken.


Wie immer schaute er mich unheimlich wütend an, aber ich gab mir Mühe, diesmal keine Angst vor ihm zu haben. »Wie geht es Ihrem Vater?«


Sie wollte sicher mit ihm das Buch durchgehen. So müde, wie sie aussah, hatte sie die ganze Nacht daran gearbeitet, und wenn sie pünktlich hier gewesen war, hatte sie jetzt zwei Stunden gewartet. Was sollte ich ihr sagen? Dass er ins Koma gefallen war und unklar war, ob wir ihn überhaupt noch einmal sprechen werden?


»Sie können jetzt nicht zu ihm«, entgegnete er.

»Das habe ich nicht gefragt.«

»Was wollen Sie denn hier? Sie verschwenden Ihre Zeit.«

»Aber ...«, konnte er nicht verstehen, dass ich mich sorgte?


Vermutlich macht sie sich aufrichtige Sorgen um Vater.

»Frau Lux ... wir können gerade nichts tun. Bitte gehen Sie nach Hause«, erklärte ich ruhig und kam einen Schritt auf sie zu. Sie wich zurück, ihre Unterlippe vibrierte.

»Ich kann nicht«, rutschte es ihr heraus.

So freundlich wie möglich sagte ich: »Doch, das können Sie. Sie helfen ihm am meisten, indem Sie heimgehen und weiter fleißig an seinem Buch arbeiten.«

»Aber ich habe eine wichtige Frage, ehe ich fortfahren kann.«

Sie umklammerte einen USB-Stick. Ich musste irgendetwas tun, um ihr zu helfen. »Vielleicht kann ich sie beantworten?«

»Es geht um das Genre. Sascha muss das entscheiden.«

»Wieso Genre? Das wird seine Biografie.«

»Ich könnte so viel mehr daraus machen …« Tränen stiegen ihr in die Augen. Ich hasste es, wenn jemand weinte.

»Vielleicht kann ich … Er hat mir all seine Verfügungen übertragen«, entgegnete ich ruhig.

Sie rang sichtbar um ihre Worte und sagte dann: »Ich würde gerne … einen Roman daraus machen.«

»Inwiefern?«


Momentan war ich so verzweifelt, dass ich sogar seinen Rat angenommen hätte. Ich reichte ihm den Stick. »Bitte, das ist der rote Faden. Möchten Sie sich das ansehen, und dann reden wir?«


Ungläubig nahm ich den USB-Stick an. Hatte mir gerade eine Autorin ihr völlig ungeschliffenes Werk gegeben? Ein warmes Gefühl stieg in mir auf.

»Ich fahre jetzt in meine Kanzlei. ... Ich rufe Sie an, wenn ich es gelesen habe.«

Ich fummelte eine Visitenkarte hervor und gab sie ihr.

Austen nahm sie entgegen, ohne genauer hinzusehen.

»Danke, Doktor Schneid.«

Im Gegenzug riss sie einen Zettel aus ihrem Notizblock und schrieb hastig ihre Telefonnummer auf, um sie gegen meine Karte zu tauschen. Austen Lux gibt mir ihre Nummer. Dann gaben wir uns wieder die Hände.

Was nur war das? Wieso kribbelten meine Fingerspitzen, wenn ich ihn berührte?

Ihre filigranen Finger an meiner Haut zu spüren, elektrisierte mich noch mehr als gestern. Dazu der Unterschied, ihre schlanke braune Hand in meiner kalkweißen, viel Größeren. Sie war zart und doch so stark. Mit aller Mühe behielt ich meinen Gesichtsausdruck bei.

Warum guckt er jetzt wieder so wütend?


°°°


Auf der ganzen Fahrt tobte Euphorie in mir. Was plante sie? Was meinte sie mit Roman? Vielleicht war dies meine Gelegenheit, ihr zur Hand zu gehen. Ihr näherzukommen.

Was denkst du da? Diesen Gedanken verwarf ich natürlich umgehend und atmete durch. Das warme Gefühl in mir wollte sich jedoch nicht beruhigen. Für einen Moment genoss ich es.

Als ich ins Büro kam, steckte ich den Stick sofort ein und öffnete ungeduldig die Datei. Was ich sah, waren Stichpunkte über die Lebensgeschichte meines Vaters. Sie hielt sich sehr an der Kindheit auf. An sein Aufwachsen als ungeliebter Bastard. Die Vater-Sohn-Beziehung sollte offenbar aufgerollt werden, die Rolle der Mutter als beschwichtigende Vermittlerin. Saschas Wille immer ein guter deutscher Junge sein zu wollen. Mir stellen sich die Nackenhaare auf. All das hatte er ihr erzählt? Über die meisten Dinge hatte er mit mir nicht einmal gesprochen. Ich hatte sie mir mein Leben lang dank Andeutungen und Geschichten von Verwandten zusammenreimen müssen. Dann die Liebe zu Adelheid. Die große Liebe, die er beschützen wollte. Sein kränkelnder Schatz.

Meine Person wurde nur gestreift. Es folgte Saschas Trauerarbeit beim plötzlichen Tod seiner Frau.

Was erlaubte sie sich? Nicht mal Mutters Unfall zu erwähnen?

Ich spürte, wie immer mehr Wut in mir aufstieg. Das war nicht die Art von Biografie, die wir alle geplant hatten. Frau Lux gedachte, sich in Vaters Kopf zu setzen und alles noch einmal zu erleben. Darum wollte sie einen Roman schreiben. Sie wollte seine Gefühle analysieren, die Gesellschaft spiegeln, Rollenvorstellungen entlarven. Und dann las ich den letzten Stichpunkt: Vater-Sohn-Beziehung Sascha/Alexander – inwieweit wiederholt sich die Geschichte? Lässt der Vater seine Erfahrungen das Kind spüren? Woher stammt all die Wut in beiden?

Schlagartig trat dröhnender Kopfschmerz hinter meine Stirn. Meine Faust schlug auf die Tischplatte, im nächsten Moment schoss ich nach oben. Was erlaubte sie sich?

Ohne zu wissen, was ich tat, griff ich zum Telefon. Es klingelte nur einmal, dann hob sie ab. »Hallo?«

»HABEN SIE VÖLLIG DEN VERSTAND VERLOREN? Wie um alles in der Welt kommen Sie dazu, die Geschichte meiner Familie für Ihre Zwecke zu verschandeln? Wer hat Sie denn zur Therapeutin ernannt? ICH WARNE SIE …«

Klick.

Mit dem Tuten endete mein Gebrüll. Frau Lux hatte aufgelegt. Da wurde mir gewahr, wie laut ich gebrüllt haben musste. Die Silhouetten der Damen, die vor meinem Büro gearbeitet hatten, waren erstarrt. Erst als ein paar Sekunden lang Ruhe herrschte, bewegten sie sich hinter der Milchglasscheibe wieder. Langsam und konfus. Ich spürte, dass mein ganzer Körper zitterte. In der Leitung tutete es immer noch. Völlig geschlagen ließ ich mich auf meinen Sessel fallen, atmete tief durch, ehe ich endlich das Telefongespräch beendete und mich für einen Moment zurücklehnte.


°°°


Ganz ruhig, Lux. Du weißt: Erwachsen bist du erst, wenn du dich den unangenehmen Situationen des Lebens stellst. Doktor A nun gegenüberzutreten ist Masterchallenge! Und wie sehr hasse ich es vor allem, wenn mich weiße Dudes anschreien. Ich ziehe in den Krieg, doch ich wappne mich, fahre meine Schutzschilde aus. Und ich werde Wunden davon tragen, aber verdammt nochmal, ich werde auch Opfer fordern.

Ruhe füllte nun meinen Geist, obgleich ich vor Wut zitterte. Nachdem ich aufgelegt hatte, stieg ich gleich aus der Bahn aus und auf der gegenüberliegenden Plattform wieder ein, um zurück in die Innenstadt und dann nach Halensee zu fahren. Ich war dermaßen angriffslustig, dass ich einem weißen Pöbler zuvorkam, der mich gerade dumm anmachen wollte. Normalerweise ignorierte ich sie, stellte die Musik lauter und ging weg, wenn ich die Situation als bedrohlich ansah. Je weiter ich mich von Mitte entfernte, desto öfter kam ich in ebensolche. Vermutlich wurde ich im Stadtkern eher für eine Touristin gehalten. Mit dem Schlaufon war es ein Leichtes gewesen, die Route zu Doktor As Kanzlei zu finden. Ich erblickte sofort das Bürogebäude am Kurfürstendamm Ecke Katharinenstraße. Unverkennbar der großtuerische Bau, polierter dunkler Marmor, eine runde Treppe mit drei Stufen. Tief atmete ich durch und betrat das Gebäude. Das Innere war klischeehaft, steril und minimalistisch eingerichtet. Den Empfangsbereich schmückte ein riesiger Tresen aus dunklem Holz, an dem eine sehr junge Türkin saß, die aufgeregt telefonierte. »Beruhige dich, Kim. Weißt du wirklich nicht, warum er so gebrüllt hat? Oh, ich wüsste ja zu gerne ...«, dann registrierte sie mich und begrüßte mich freundlich.

»Doktor Schneid erwartet mich«, log ich gekonnt. Das Mädchen bekam Kulleraugen, und ohne nachzudenken, sagte sie: »Dritter Stock, das große Zimmer am Ende des Ganges. Wen soll ich anmelden?«

»Geht schon, ich habe eben erst mit ihm telefoniert.« Ich zwinkerte ihr zu und ihr fielen fast die Augen heraus.


Sein Büro war unverkennbar. Am Ende des Flurs hob sich eine Doppeltür aus Milchglasscheiben ab, links und rechts die Büros seiner Assistentinnen. Die Mädels im Vorzimmer schlichen umher wie Katzen nach einem Gewitter. Als sie mich sahen, bekamen sie kein Wort heraus. Ihre Blicke sprachen zwar: Da solltest du jetzt lieber nicht reingehen. Doch ich ignorierte sie geflissentlich. Sie wussten offenbar dank der Empfangsdame schon, wer ich war, und hätten mich vermutlich mit vollem Körpereinsatz zurückgehalten, wäre mein Blick nicht so unverkennbar streng gewesen. Ich klopfte nicht, sondern trat ein und ließ die Tür hinter mir offen.

Da saß er, offensichtlich hatte er sich seit unserem Telefonat nicht bewegt, und als er mich erblickte, zuckte er zusammen. Dann schoss er hoch. Noch bevor er Luft holen konnte, donnerte ich: »Den Stick bitte!«

»Halten Sie sich aus meinen Familienangelegenheiten raus.«

»Ich sagte, Sie sollen mir meinen roten Faden geben!«

Brüskiert zog er ihn vom USB-Hub ab und reichte ihn mir nahezu zärtlich.

»Danke. Und nun muss ich Ihnen mitteilen, dass Ihr Vater mir seine Geschichte nicht ohne Grund so erzählt hat. Ich denke mittlerweile, er möchte, dass …«

»DAS möchte er ganz sicher nicht! Sie haben keine Ahnung, was er will und …«

»Seit wann wissen Sie denn so gut über Ihren Vater Bescheid? Sie sind doch nie hier!«, brüllte ich lauter als er zurück, keine Ahnung, wie ich das machte.

Daraufhin schlug er auf seinen Tisch und schrie: »Wenn Sie es wagen, nur eine Zeile über die Schneids zu veröffentlichen, dann GNADE IHNEN GOTT.«

Das konnte ich auch: Meine Faust schmetterte so kraftvoll auf seine edle Tischplatte nieder, dass seine Kaffeetasse umkippte: »Ihr Vater hat mich mit den Rechten an der Geschichte betraut UND ICH WERDE SEINEM WUNSCH NACHKOMMEN!«

»NICHT SOLANGE ICH SEINE ANGELEGENHEITEN ORDNE!«

Daraufhin wählte ich eine mächtigere Strategie als Brüllen. Gefährlich leise und betont ruhig fixierte ich seine funkensprühenden grünen Augen und zischte: »Ich lasse mich von niemandem anschreien, Doktor Schneid. Ihre Daddy-Issues sind nicht mein Problem.«

Damit drehte ich ihm meinen Arsch zu und verließ zufrieden sein Büro.


Diese Beine …


°°°


Danni wohnte mit ihren beiden Kindern nur einen Katzenwurf weit von Woolf und mir entfernt. Ihr Sohn Charlie und Woolf waren beste Freunde, wenngleich Woolf mittlerweile aufs Gymnasium ging und Charlie Nachhilfe gab. Sie gingen zum Kung-Fu und am Wochenende zum Fußball spielen. Ich half der Familie bei den bürokratischen Angelegenheiten, hatte zum Beispiel Dannis Bewerbungsmappe erstellt, mit der sie vor einem Jahr einen Job bei einem Gebäudetechnikunternehmen ergattert hatte. Oft kochten wir zusammen, Danni und ich gingen einmal im Monat tanzen und zweimal die Woche zum Sport.

Bin schon bei auf dem Stepper, simste ich Danni an diesem Morgen um 9:00 Uhr. Wir hatten uns um 10:00 Uhr vor dem Fitnessstudio verabredet. Nach wie vor kochte ich vor Wut, wegen der Vorwürfe von Doktor A am Vortag und musste mich abreagieren.


Danni betrat den Saal pünktlich und kam zu mir. Ich erkannte sie sofort von weitem, ihre solariumgebräunte Haut, die vollschlanke Figur, das platinblonde Haar, ihre stets leuchtenden Augen und ihre Art zu gehen, als habe sie immer noch fünfzehn Kilo mehr auf den Rippen.

»Scheiße Austen, was is‘n nun kaputt?«, begrüßte sie mich.

»Woolf hat mich rausgeschmissen, bin ihm wohl zu laut grummelnd auf- und abgegangen, da hat er gesagt, ich soll Sport machen gehen.«

»Immer noch der olle Doktor?«

»Erwähn ihn nicht! Ich bin hier, um mich von dem abzulenken.«

Danni linste auf die Anzeige meines Steppers und sah, wie viele Kalorien und Kilometer ich bereits abgearbeitet hatte.

Natürlich hatte ich ihr von dem Vorfall erzählt, weswegen sie vorgeschlagen hatte, dass wir den Hau-Drauf-Kurs besuchen sollten, damit ich mich etwas auspowern könne. Normalerweise hätte ich sie zum Yoga begleitet.

»Vor Energie scheinst du zu platzen, das kann ja heiter werden«, stellte sie fest und wuselte in die Umkleidekabine.

Kurz darauf fragte uns die astrein durchtrainierte Svetlana: »Seid ihr bereit abzurocken?«

Ich schrie lauter als die Musik und ihr Headset: »Ja, verdammt. Lass loslegen!«

Der Kurs verband Kampfsportelemente mit Tanzbewegungen. Wir hüpften, kickten, boxten, traten, stampften und schlugen uns durch den Saal, verprügelten einen imaginären Gegner nach Strich und Faden. Mit Kung-Fu oder Karate hatte das freilich wenig zu tun, aber es machte immer saumäßig viel Spaß. Farin Urlaub sang: »Tritt mich noch einmal und hau mir eine rein. Lass mich bluten wie ein Schwein ...«, und ich schrie: »Jawollja, blonder alter Sack, das kannst du haben!«

Sehr befremdet sahen mich die anderen Kursteilnehmerinnen an, aber Svetlana schien über meinen Enthusiasmus froh zu sein. Nicht selten war ich Kursbeste, doch heute tat ich mich wohl besonders hervor.

Nach der Einheit hatte ich immer noch Wut und Energie übrig und traf mich am Nachmittag spontan mit Valeria zum Laufen. Natürlich hielt sie mir einen Vortrag darüber, dass mein Übertraining genau das Gegenteil von gut für meinen Körper sei. Sie merkte aber schnell, dass ich mich abreagieren musste und Gegenrede bei mir auf verbrannte Erde fiel. So tat sie geduldig mehr, als es die Aufgabe einer bloßen Laufpartnerin war, und hörte sich, während wir durch den Park walkten, wieder und wieder mein Geschimpfe an.


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