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Kapitel 1 – CLARENCE Dienstag, 29. Oktober 1878

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Clarence Fox schüttelte das Glas mit der Kollodium-Lösung, die er für seine Nassplattenfotografie benötigte, und sah sich in seinem Atelier um. Die Einrichtung war in verschiedenen Brauntönen gehalten, bewusst schlicht, aber gepflegt. Das dunkle Nussbaumholz der wenigen Möbel glänzte, hier lag kein Staubkorn zu viel. Schließlich wollte er bei seiner Kundschaft einen guten Eindruck erwecken. Außerdem sollten sie sich in seinem Geschäft wohlfühlen und es weiterempfehlen.

Nachdenklich warf Clarence einen Blick aus einem der beiden Fenster seines Ateliers, während er das Glas weiter schüttelte. Tropfen prasselten gegen die Scheiben. Sie glänzten im Lichtschein, der aus dem Nachbarhaus drang, wie goldene Fäden, die quer über das Glas liefen. Ein Mann in einem langen Mantel eilte vorbei, den Zylinder leicht schräg auf dem Kopf. Dessen Gestalt hob sich dunkel vor dem Grau des trüben, verregneten Oktobertages ab.

An den Wänden seines Ateliers hingen einige gerahmte Abbildungen aus den letzten Jahren, die potenziellen Kundinnen und Kunden als Anschauungsmaterial seiner Kunst dienen konnten. Ein warmes Gefühl durchzog seine Brust; er war stolz auf das, was er und sein Vater, in dessen Fußstapfen er getreten war, hier erreicht hatten. Die Fotografie war für sie beide eine eigene Kunstform. Vor einigen Jahren, als die Sehkraft seines alten Herrn nachzulassen begonnen hatte begann, hatte Clarence das Atelier von ihm übernommen.

Jeremiah Fox hatte seinerzeit mit Daguerreotypien begonnen – ein viel aufwendigeres Verfahren als die Kollodium-Nassplatte, mit deren Hilfe sich auch relativ einfach Albuminpapierabzüge herstellen ließen. Als Clarence noch ein Jugendlicher gewesen war, hatte sein Vater ihm einen Artikel im Magazin »The Chemist« gezeigt, in dem dieses neue Verfahren von einem gewissen Frederick Scott Archer vorgestellt wurde. Eine Innovation, die sich schließlich durchsetzen sollte.

Auf einer Schiefertafel, die an sonnigen Tagen draußen neben dem Eingang hing, hatte Clarence seine Preise mit Kreide aufgelistet. An solch regnerischen Tagen wie diesem hängte er die Tafel innen neben die Eingangstür. Manche Kunden verlegten sich gern aufs Feilschen, aber Clarence waren feste Preise lieber. Das war auch viel einfacher für die Buchhaltung, bei der ihm sein Sohn Theodor gelegentlich half.

Das Glöckchen an der Eingangstür läutete und im nächsten Moment betrat eine junge Frau das Atelier. Clarence stellte die Kollodium-Lösung ab und trat auf die Dame zu. Sie war noch jung, ungefähr im Alter seiner Tochter Adelia, und wirkte wie das blühende Leben: mit einem rosigen Teint und rotblondem Haar, das an den Seiten unter ihrem blaugrauen Hut hervorschaute. Wache Augen blickten ihm entgegen. Die Dame trug einen fast bodenlangen blauen Mantel mit einem leichten Violettschimmer, der hervorragend zu ihrer Haarfarbe passte. Dazu schwarze Handschuhe aus feinem Wildleder und eine dunkelblaue Handtasche, die sie sich über den Unterarm gehängt hatte. Ihr Rock bauschte sich modisch auf der Rückseite, wie die Damen es dieser Tage trugen, war aber nicht übermäßig voluminös, denn das war eher festlichen Abendgarderoben vorbehalten.

»Guten Tag, Mr Fox«, begrüßte sie ihn mit einem höflichen Lächeln. »Ich bin eine Bekannte Ihrer Gattin, mein Name ist Pauline Westray.« Sie hatte eine helle, melodische Stimme und artikulierte ihre Worte sehr genau. So genau, dass er ihren Akzent nur schwer einordnen konnte. Auch angesichts ihrer Kleidung vermutete er, dass sie der Mittelschicht entstammte, aber ob es eher die untere, die mittlere oder die gehobene war, konnte er auf Anhieb nicht benennen.

Seine Ehefrau Mabel hatte einmal eine junge Sängerin mit diesem Namen erwähnt.

Er schenkte der Dame ein ebenso höfliches Lächeln. »Es freut mich, Sie kennenzulernen. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich möchte mich gern am Royalen Opernhaus als Chorsängerin bewerben. Dafür benötige ich eine Abbildung meiner Person – auf Papier. Ihre Frau hat mir von Ihrem Atelier erzählt, deshalb bin ich hierhergekommen.«

Clarence nickte erfreut. Mabel hatte, wie er selbst, einen großen Bekanntenkreis, angefangen bei Leuten aus der Kirchengemeinde über die Nachbarinnen – darunter zwei reizende ältere Damen – bis hin zu alten Freundinnen, die sie schon fast ihr halbes Leben lang kannte. Sie empfahl das Fotoatelier bei jeder sich bietenden Gelegenheit weiter und hin und wieder hatte ihm das Aufträge beschert. Es fiel ihm gelegentlich schwer, sich all die Namen zu merken, wenn seine Frau ihm von ihren zahlreichen Bekanntschaften erzählte. Mit Gesichtern war es anders – Clarence vergaß nie ein Gesicht, wenn er es einmal gesehen hatte. Er hatte allerdings des Öfteren Schwierigkeiten einzuordnen, wo er jemanden, den er wiedererkannte, schon einmal gesehen hatte.

»Sehr gern, Miss Westray.« Er nannte ihr den Preis für eine solche Abbildung.

Sie nickte ihm zu. »Das ist mir recht.«

»Gut. Darf ich Ihnen aus dem Mantel helfen?«, sagte er mit einem Fingerzeig in Richtung des Garderobenständers aus dunklem Nussholz in der Ecke. Als er sich ihr näherte, nahm er einen schwachen Parfümduft wahr. Rose und ein Hauch Sandelholz, Letzteres vielleicht aus der indischen Kolonie. Exotische Parfüms waren sehr beliebt bei den Damen, das wusste er von seiner Frau. Allerdings waren diese auch sehr kostspielig. Vermutlich stammte Miss Westray aus der gehobenen Mittelschicht. Ihre Kleidung ließ das zumindest vermuten. Aber das ging ihn nichts an, deshalb verscheuchte er diesen Gedanken.

Auch den Hut und die Handschuhe legte sie ab. Sie trug keinen Ring, war also weder verlobt noch verheiratet. Das hätte ihn auch gewundert, schließlich schickte es sich für verheiratete Damen aus der Mittelschicht nicht zu arbeiten.

»Sind Sie mit meiner Frau näher bekannt, wenn ich fragen darf?«

»Nun, das nicht gerade, wir kennen uns über gemeinsame Bekannte«, erwiderte Miss Westray mit einem unverbindlichen Lächeln und er hakte nicht weiter nach, denn er wollte nicht über Gebühr neugierig erscheinen.

»Das freut mich«, sagte Clarence deshalb nur. Je nach den Wünschen seiner Kunden sorgte er für eine passende Kulisse im Hintergrund. »Wie möchten Sie abgebildet werden? Im Stehen oder im Sitzen?«

Sie warf einen Blick auf den bereitstehenden Stuhl mit den Armlehnen. »Gern im Sitzen.«

»Wie Sie wünschen, Miss Westray. Sie haben freie Wahl, was den Hintergrund Ihrer Abbildung betrifft. Ich verfüge über verschiedene große Leinwände. Die eine ist schlicht und neutral, ich habe aber auch drei bemalte. Ein Bühnenbildner, der eigentlich fürs Theater arbeitet, hat sie gestaltet.«

»Ganz vorzüglich! Um was für Motive handelt es sich denn?«

»Ich könnte Ihnen eine liebliche Sommerlandschaft mit Bäumen und einer Wiese anbieten oder eine antik anmutende Szenerie mit Säulen, die über korinthische Kapitelle verfügen. Ansonsten hätte ich noch ein durchaus realistisch gemaltes Regal voller Bücher, wie in einer Bibliothek.« Clarence hielt kurz inne. »Wenn Sie einen Rat von mir wünschen?«

Ein charmantes Lächeln erhellte ihre Züge. »Ich bitte darum.«

»Ein neutraler Hintergrund für ein solches Bild wäre aus meiner Sicht ratsam, da Sie sich ja damit bewerben wollen. Ein bemalter Hintergrund würde von Ihnen selbst … ein wenig ablenken, schätze ich.«

Ihr Lächeln vertiefte sich. »Ja, das denke ich auch.«

Das ließ sich gut an. Manche Kunden waren enttäuscht, wenn er ihnen seine Auswahl vorstellte, oder hatten ganz andere Vorstellungen als er zu einer Abbildung oder auch Ideen, die sich in seinem Atelier gar nicht umsetzen ließen. Er nickte seiner Kundin zu. »Gut, dann nehmen Sie bitte hier Platz.«

Hinter dem Stuhl, auf den er deutete, befand sich eine gabelartige Vorrichtung aus Metall, die verhindern sollte, dass sich die Abzubildenden versehentlich bewegten.

»Haben Sie schon einmal eine Abbildung von sich anfertigen lassen?«, erkundigte er sich.

Miss Westray überlegte kurz, ehe sie ihm antwortete. »Zuletzt als Jugendliche, zusammen mit meinen Eltern. Das dürfte an die fünf Jahre her sein.«

Er lächelte höflich. »Ah, ich verstehe. Nun, dann kennen Sie ja das Prozedere. Seitdem hat sich daran nichts geändert. Ich kümmere mich nun um die Nassplatte und würde Sie um einen Moment Geduld bitten.«

Sie nickte ihm zu, nahm auf dem Stuhl Platz und öffnete ihre Handtasche.

Clarence verließ mit dem Fläschchen Kollodium-Lösung den Raum und ging in den kleineren Lagerraum nebenan, in dem er die Chemikalien und die Glasplatten aufbewahrte. In diesem Raum, den er nie seiner Kundschaft zeigte, weil es gänzlich unnötig war, hatte er alles ganz schlicht und zweckmäßig eingerichtet: ein Regal für die chemischen Substanzen, außerdem ein Tisch, den er immer gründlich abwischte, darauf ein hölzerner Kasten, in dem er die Glasplatten lagerte. Er zog eine der Platten heraus und streifte sich die Handschuhe über.

Die Glasplatte putzte er mit einem Tuch so gründlich, dass sich schließlich kein Staubkorn mehr darauf befand. Vorsichtig legte er sie auf dem blank polierten Tisch ab und übergoss sie mit der Lösung. Diese bestand aus Kollodiumwolle sowie Iod- und Bromsalzen in Ethanol und Ether. Die Flüssigkeit trocknete wie immer rasch zu einer gallertartigen Masse ein. Nun musste er sich eilen. Rasch ging er mit der Platte in die angrenzende Dunkelkammer und tauchte sie in eine Silbernitratlösung, die auf einem Tisch bereitstand. Die Iodsalze wandelten sich nun in Silberiodid und Silberbromid um.

Clarence nahm die behandelte Glasplatte aus dem Silberbad heraus und steckte sie, nass wie sie war, in das lichtdicht schließende Kästchen der Kamera, die ebenfalls auf dem Tisch stand. Er griff mit beiden Händen nach der Kamera, denn sie war recht schwer. Dann nahm er sie mit hinüber ins Atelier.

Miss Westray saß noch immer auf dem Stuhl und kaute etwas, was sie allerdings herunterschluckte, als er die Kamera auf dem Stativ in Stellung brachte. Die Handtasche stand nun zu ihren Füßen, und das war gut so, denn so würde sie nicht im Bild zu sehen sein.

»Miss Westray, ich würde Sie nun bitten, sich nicht mehr zu bewegen«, wies er sie an, während er hinter der Kamera hantierte. »Lächeln Sie gern – aber nur, wenn Sie das längere Zeit durchhalten, ohne dass sich Ihre Gesichtszüge verkrampfen.«

Durch die Lichtwirkung, die mehrere Minuten in Anspruch nahm, würde sich auf der Glasplatte ein Negativ bilden, von dem er nach einer weiteren chemischen Behandlung Papierabzüge herstellen konnte.

Miss Westray hustete.

Er sah hinter der Kamera hervor. Irgendetwas stimmte nicht; ihr Gesicht war mit einem Mal krebsrot. Sie schnappte nach Luft und fasste sich krampfhaft an den Hals.

Einen Moment lang war Clarence wie erstarrt. So etwas war in seinem Atelier noch nie passiert. Natürlich kam es vor, dass Kunden in einem ungünstigen Moment niesten oder husteten, und dann musste er mit der Aufnahme ganz von vorn beginnen. Miss Westray hustete immer noch. Vergessen waren Kamera und Abbildung, Clarence eilte zu der jungen Frau. »Was ist denn los, haben Sie sich verschluckt?«

Sie antwortete nicht. Ihre Hände gestikulierten wild in der Luft, während sie weiter nach Atem rang. Mit zwei langen Schritten war er hinter ihr und klopfte ihr mehrmals auf den Rücken. Aber auch das schien nicht zu helfen, denn sie gab noch immer würgende Geräusche von sich und ihre Gesichtsfarbe war bedenklich. Vielleicht ein Glas Wasser? Er spürte ihr Korsett durch den Stoff des Oberteils ihres Kleides. Sollte er es öffnen, damit sie besser Luft bekam? Aber nein, wenn sie sich verschluckt hatte, half das auch nicht! Himmel, was sollte er nur tun?

Mabel! Seine Frau war Lazarettkrankenschwester gewesen, sie kannte sich besser mit Medizin aus als er. Und sie war zu Hause. Bei allen Heiligen, hoffentlich konnte sie etwas ausrichten!

»Ich hole Hilfe, Miss Westray, halten Sie durch!«

Ohne auf eine Reaktion zu warten, stürzte er aus dem Atelier, nach hinten ins Treppenhaus. Auf der Treppe verfluchte er die Beinverletzung aus Kriegszeiten, die ihn hinken und außerhalb des Hauses einen Gehstock verwenden ließ. Die ihn langsamer machte. Er musste sich am Geländer festhalten, während er sich Stufe um Stufe vorkämpfte. Ihm raste das Herz. Himmel, nahmen diese verdammten Stufen denn gar kein Ende? Endlich war er im ersten Stock vor der kleinen Wohnung, in der er mit seiner Frau lebte, seit die Kinder aus dem Haus waren.

»Mabel!« Er hämmerte an die Tür. »Komm schnell! Ein Notfall!«

Es dauerte keine Minute, bis Mabel die Tür aufriss mit der Arzttasche in der Hand, die sie für Notfälle im Haus hatte. Ihr dunkles Haar, das bereits von grauen Strähnen durchzogen war, wirkte ein wenig zerzaust. Ihre dunkelbraunen Augen waren weit aufgerissen.

»Eine Kundin, Pauline Westray. Sie erstickt!«

Die Augen seiner Frau weiteten sich noch mehr. »Rasch!«, rief sie. Ihre Stimme überschlug sich fast. Gemeinsam hasteten sie die Treppe hinunter – Mabel voran, denn sie war schneller zu Fuß als er. Clarence verfluchte ein weiteres Mal im Stillen sein Bein und die Treppe. Schließlich polterte er mit schweren Schritten zurück ins Atelier.

Mabel war längst bei der Frau in Nöten, die noch immer auf dem Stuhl saß, und beugte sich über sie. Miss Westray war in sich zusammengesunken und hatte ihre Augen geschlossen. Ihre Lippen und die Augenlider wirkten geschwollen. Rund um den Mund ebenso wie am Hals war ihr Gesicht gerötet. Das steife Korsett hielt ihren Oberkörper halbwegs aufrecht. Das Gleiche galt für die Metallvorrichtung hinter ihrem Kopf.

Mabel legte ihr zwei Finger an die Halsschlagader. Die Sekunden wollten nicht vergehen. Sie wurde blass und presste für einen Moment die Lippen zusammen. »Miss Westray ist tot«, sagte sie mit aschfahlem Gesicht. »Oh Gott, die Ärmste! Was ist denn bloß passiert?« Eine Träne lief ihr übers Gesicht. Das, was Clarence selbst noch nicht fassen konnte, war bei seiner Frau wohl längst angekommen: die Gewissheit, dass sich in seinem Atelier ein plötzlicher Todesfall ereignet hatte.

Clarence starrte auf die junge Frau mit den seltsamen Rötungen und Schwellungen. Mit einem Mal war ihm schwindelig. Er musste sich setzen. Unsicher wankte er zu dem anderen Stuhl, der nur wenige Schritte entfernt stand.

»Was ist passiert?«, fragte seine Frau leise.

Clarence umklammerte die Stuhllehne, er brauchte den zusätzlichen Halt. Ruhe bewahren! Auf keinen Fall durfte er jetzt den Kopf verlieren. Er war nicht mehr im Krimkrieg, es war lange her. All die Leichen, all der Tod und der grässliche Geruch von Schießpulver, Blut und einsetzender Verwesung … Kalter Schweiß brach ihm aus, seine Hände waren mit einem Mal klamm.

Clarence straffte sich und konzentrierte sich auf das vertraute Gesicht seiner Frau. Er atmete zwei, drei Mal bewusst langsam ein und aus, so wie Doktor Tyner es ihm schon damals geraten hatte, wenn die grässlichen Bilder wieder auf ihn eingestürmt waren. Ein … aus … ein … aus. Allmählich beruhigte sich sein rasendes Herz.

Stockend begann er zu erzählen. »Ich sollte eine Abbildung von ihr anfertigen. Miss Westray sagte, sie wolle sich damit an der Königlichen Oper bewerben. Ich … ich sah, dass sie etwas aß, als ich mit der Glasplatte aus der Dunkelkammer kam. Sie schluckte es hinunter und ich vermutete zunächst, dass es ihr vielleicht im Rachen stecken geblieben war. Also klopfte ich ihr kräftig auf den Rücken. Doch das half nicht. Oh Mabel, ich weiß doch auch nicht, warum sie erstickt ist! Ich begreife das nicht, wie kann das sein?«

Seine Frau betastete den Hals der Verstorbenen. »Diese Schwellungen und Rötungen sind seltsam. So etwas passiert eigentlich nicht, wenn man sich verschluckt.« Ihre Stimme klang nun gefasst, was nicht zu ihren verquollenen, geröteten Augen passen wollte. Andererseits – sie war Krankenschwester gewesen, hatte dem Tod mehr als einmal ins Auge geblickt. Das hatte einen Teil ihres Lebens geprägt, und offenbar griff sie nun auf die ruhige Sachlichkeit von damals zurück, mit der er sie in jenen schrecklichen Tagen im Krieg als verwundeter Soldat kennengelernt hatte.

Mabel bückte sich nach Miss Westrays Handtasche. »Ich werde einmal schauen, ob ich herausfinde, was sie gegessen hat. Vielleicht hatte sie einen Apfel dabei oder …« Sie kramte in der Handtasche und zog eine kleine Pralinenschachtel heraus, wie man sie in manchen Konditoreien bekommen konnte. »Bromleys Pralinen – feine Schokoladenpralinen mit einer Apfel-Zimt-Füllung«, las sie die Beschriftung vor. Sie öffnete die Schachtel, sodass Clarence den Inhalt sehen konnte. Wie es aussah, fehlte nur eine einzige Praline.

»Wie seltsam! Ich denke nicht, dass sie sich an der Praline verschluckt hat. Mir scheint, die Rötungen passen nicht dazu. Näheres lässt sich aber wohl erst sagen, wenn sich ein Gerichtsmediziner die Leiche angeschaut hat.«

Clarence sah seine Frau überrascht an. »Du meinst, ihr Tod ist ein Fall für die Gerichtsmedizin?«

»Ganz sicher bin ich mir nicht, man müsste sie genauer untersuchen. Auf jeden Fall müssen wir Doktor Tyner verständigen.«

Der Coroner hier im Stadtteil war ein Bekannter von ihnen. Er arbeitete zudem im Leichenschauhaus als Gerichtsmediziner. Im Krimkrieg war Gerald Tyner Militärarzt gewesen. Mabel kannte ihn noch von damals, als sie in seinem Lazarett gearbeitet hatte. Sie hatte eine Menge von ihm gelernt und half ihm gelegentlich aus, wenn er zu viel zu tun hatte.

»Ich werde ihn suchen«, sagte er, doch Mabel schüttelte den Kopf.

»Würdest du dich stattdessen um die Abbildung kümmern?«, bat sie ihn. »Vielleicht kann sie uns etwas über den Tod der armen Pauline verraten. Ach Gott, sie hatte noch so viele Pläne und glänzende Zukunftsaussichten … Sie war eine wirklich talentierte Sängerin. Und nun wurde sie plötzlich aus dem Leben gerissen.« Mabel schniefte und wischte sich mit der Hand wenig damenhaft über das Gesicht. »Ich suche Doktor Tyner, wenn es dir recht ist.«

Clarence ließ sich das alles durch den Kopf gehen. In gewisser Weise war der einzige Zeuge dieses Todesfalls seine Kamera. Vermutlich würde es nicht viel bringen, aber einen Versuch war es wert. Er nickte. »In Ordnung.«

Nachdem Mabel das Atelier verlassen hatte, ergriff Clarence die Kamera mit beiden Händen und kehrte in die Dunkelkammer zurück. Die Routine der vertrauten Abläufe. Er durfte jetzt nicht den Kopf verlieren! Durfte sich nicht von Erinnerungen an die Begegnung mit dem Tod während des Krieges überrollen lassen. Nur die Ruhe!

Aber ach, das war leichter gesagt als getan. Ihm zitterten die Finger, unkontrollierbar. Um ein Haar hätte er die Kamera fallen lassen. Das hätte ihm gerade noch gefehlt! In der Kammer stellte er hastig das Gerät ab und ballte die Hände zu Fäusten, bis endlich die Anspannung nachließ und das vermaledeite Zittern aufhörte.

Vorsichtig nahm er die Glasplatte aus ihrer Kassette und übergoss sie mit einer Eisensulfatlösung. Er fixierte das gläserne Negativ und löste das enthaltene Silberiodid und das Silberbromid mit einer Natriumthiosulfatlösung heraus. Danach wusch er die Platte vorsichtig und überzog sie mit einem Alkoholfirnis. Ein erster Blick darauf zeigte ihm die zusammengesunkene, regungslose Gestalt von Miss Westray. Ein Albuminpapierabzug würde ähnlich aussehen als Positiv in bräunlichen und weißen Tönen.

Eine Post-Mortem-Abbildung. Wenn Kinder oder ältere Menschen starben, machten sich manche Angehörige – zumindest diejenigen, die es sich leisten konnten – die Mühe, eine Abbildung der Verstorbenen erstellen zu lassen, bevor die Verwesung einsetzte und der Leichnam den Weg alles Irdischen ging. Das war gängige Praxis, auch sein Vater hatte solche Bilder angefertigt. Clarence selbst scheute davor zurück. Im Krieg hatte er so viele Leichen, so viele Tote gesehen, dass es für ein ganzes Leben reichte. Und nun saß ein Leichnam auf dem Stuhl in seinem Atelier …

Post mortem

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