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Kapitel 3 – CLARENCE

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»Hoffentlich finden wir einen Hinweis auf ihre Angehörigen«, sagte Clarence zu seiner Frau, als sie sich noch am selben Tag gemeinsam zur Vauxhall Bridge Road aufmachten. Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, in der Wohnung einer Fremden herumzustöbern, andererseits wollte er Doktor Tyner unterstützen, und Mabel war ja eigens von diesem beauftragt worden. Mittlerweile war es längst dunkel und es regnete noch immer. Mabel hatte ihm erzählt, was sie gemeinsam mit dem Coroner herausgefunden hatte.

»Also ist es möglich, dass sie vergiftet wurde?«, fragte er, während er, auf seinen Gehstock gestützt, einer Pfütze auf dem Gehweg auswich, die im Schein einer Gaslaterne dunkel glänzte.

»Ja, leider. Doktor Tyner wird die Pralinen und Miss Westrays Leichnam noch genauer untersuchen«, erwiderte Mabel, die fast unter ihrem aufgespannten Regenschirm verschwand. »Was für ein Mensch tut so etwas?«, sagte sie leise.

»Wir wissen doch beide nicht allzu viel über Miss Westray«, erinnerte er sie. »Und auch nicht, mit wem sie Umgang pflegte. Aber ich muss zugeben, du kanntest sie besser als ich.«

Mabels Stimme klang ein wenig heiser, als sie ihm antwortete. »Das vielleicht, doch es war eher eine oberflächliche Bekanntschaft.«

Sie wanderten die Clarendon Street hinauf. Etwas später passierten sie den Warwick Square, eine umzäunte, rechteckige Grünfläche, der mehrere aneinandergereihte, vierstöckige Wohnhäuser gegenüberstanden, wie man sie in vielen Straßen dieses Stadtteils fand. Diese verfügten jeweils über einen kleinen Portikus mit Säulen, der am oberen Ende in einen Balkon überging – ein Privileg, über das nur Bewohner der ersten Etage verfügten, während die oberen Stockwerke ohne einen solchen Luxus auskommen mussten.

Einige Gaslaternen sorgten für etwas Licht. In ihrem Schein glänzte der Regen – winzige, golden leuchtende Fäden, die leicht schräg zu Boden stürzten.

Einzelne Passanten kamen ihnen entgegen, hasteten vorbei. So wie in London die meisten Leute stets in Eile waren, außer die Spaziergänger in den Parks, die gemächlich schlenderten. Sicherlich waren sie froh, nach ihrem Tagwerk bald heimzukehren und dort den Kamin einzuheizen. Oder vielleicht in einen der zahlreichen Pubs einzukehren, wie Clarence selbst regelmäßig ein Lokal in der Moreton Street aufsuchte.

Sein Gehstock machte das übliche, gleichmäßige »Tock, tock« auf der Straße und wie schon so oft streiften ihn mitleidige Blicke. Eigentlich hatte er rund zwanzig Jahre lang Zeit gehabt, sich daran zu gewöhnen, aber er hasste es dennoch, wenn Leute ihn so ansahen. Seine Gedanken wandten sich wieder der Verstorbenen zu. Ob sie in deren Wohnung wohl die Adresse ihrer Verwandten finden würden?

Die lang gezogene, breite Vauxhall Bridge Road zerschnitt den nördlichen Teil Pimlicos von Nordwesten bis Südosten und endete an der Vauxhall Bridge, die über die Themse führte. Miss Westrays Wohnung befand sich in einem mehrstöckigen Backsteinhaus auf der nördlichen Seite der Straße, wie sie bald anhand der Hausnummer herausfanden.

»Passt einer der beiden Schlüssel?«, fragte Mabel.

Clarence steckte den ersten in das Schloss der Haustür. Er schüttelte den Kopf. Also den anderen. Der ließ sich anstandslos drehen. »Nach dir, meine Liebe«, sagte er und hielt seiner Frau die Tür auf, wie es sich für einen Gentleman ziemte.

Nun standen sie in einem dunklen Flur, in dem es ein wenig muffig und nach gekochtem Kohl roch. Clarence lauschte. Aus einer Wohnung im Erdgeschoss drang leises Weinen – ein Kind. Dann eine undeutliche Stimme, die offenbar auf es einredete.

»Fragen wir doch einfach, wo Miss Westray gewohnt hat«, schlug Mabel vor.

»Nein, lieber nicht«, entgegnete Clarence. »Sonst müssen wir ihren Nachbarn erklären, was wir hier tun, und das wäre mir sehr unangenehm.«

Mabel verzog das Gesicht. »Aber das Haus hat vier Stockwerke. Wir können doch nicht bei jeder Wohnung einfach den Schlüssel ausprobieren.«

Wo sie recht hat, hat sie recht. Er zögerte einen Moment lang, aber ihm wollte nichts Besseres einfallen. »Auch wieder wahr«, stimmte er ihr schließlich zu. »Dann hoffe ich auf verständnisvolle Nachbarn.« Clarence klopfte an der Tür, hinter der das weinende Kind verstummt war.

Eine Frau mit einer geblümten Schürze öffnete ihnen. Sie hielt das Kleinkind auf dem Arm. Im Halbdunkel des Wohnungsflures war ihr Gesicht nur schwer zu erkennen. »Ich kaufe nichts«, sagte sie unwirsch. »Und wie sind Sie überhaupt hier reingekommen?«

»Entschuldigen Sie bitte. Mein Name ist Clarence Fox und das ist meine Frau Mabel. Ihre Nachbarin, Miss Westray, ist mit uns bekannt.« Er räusperte sich. »Sie ist heute tragischerweise bei einem Unfall aus dem Leben geschieden.«

»Oh. Das tut mir leid!«, sagte die Frau, nun etwas freundlicher.

Hoffentlich würde sie ihnen nun keine Steine in den Weg legen oder darauf pochen, den Vermieter zu holen. »Sehen Sie, es ist so«, beeilte er sich zu erklären, »der Coroner schickt uns, damit wir in Miss Westrays Wohnung nach Hinweisen auf ihre Angehörigen suchen können. Er selbst ist gerade zu sehr beschäftigt, um sich darum zu kümmern.«

»Wir haben auch ein Schreiben von ihm, falls Sie das sehen möchten. Den Haustürschlüssel und den Wohnungsschlüssel haben wir aus Miss Westrays Handtasche.«

»Warten Sie kurz«, erwiderte die Frau und schlug ihnen die Tür vor der Nase zu.

Clarence sah Mabel fragend an. Was das wohl werden würde? Sie zuckte nur leicht mit den Schultern und setzte eine gleichmütige Miene auf. Schweigend warteten sie beide. Hoffentlich konnten sie das alles hier schnell über die Bühne bringen.

Es dauerte einige Minuten, ehe die Nachbarin von Miss Westray ihnen wieder öffnete, diesmal ohne das Kind im Arm, stattdessen mit einer brennenden Kerze in der Hand, die sich in einem bauchigen, tönernen Halter mit Henkel befand. In diesem Licht war ihr Gesicht nun deutlicher zu sehen. Die Frau machte einen verhärmten Eindruck, hatte dunkle Ringe unter den Augen und ihre Frisur war zerzaust.

»Lassen Sie mich einmal dieses Schreiben von dem Coroner sehen«, verlangte sie.

Das war ihr gutes Recht. Clarence hätte nicht anders reagiert, wenn Fremde in seinem Wohnhaus aufgetaucht wären und ihm eine solche Geschichte aufgetischt hätten. Er griff in die Brusttasche seines Mantels und faltete den Bogen auseinander, ehe er ihn der Frau reichte. Das Schreiben trug einen deutlich sichtbaren Stempel der Metropolitan Police.

Miss Westrays Nachbarin überflog den Brief. »Ja, also … wenn das so ist, dann …«, sagte sie schließlich. »Aber ich frage mich, ob wir nicht erst den Vermieter rufen sollten.«

Er schenkte ihr ein gewinnendes Lächeln. »Ich würde vorschlagen, meine Frau und ich kümmern uns nun erst einmal schnellstmöglich darum, die Angehörigen der Verstorbenen zu verständigen. Diese wiederum können dann alles Weitere mit dem Vermieter klären.«

Die Frau runzelte die Stirn, zögerte zunächst und blickte forschend erst zu Mabel und dann zu ihm. »Wenn Sie meinen. Von mir aus. Miss Westray wohnt – ich meine, sie wohnte – im dritten Stock. Die zweite Tür links.«

»In Ordnung, haben Sie vielen Dank. Einen schönen Abend noch.« Clarence tippte grüßend an seinen Zylinder.

An der zweiten Tür links im dritten Stock befand sich weder ein Namensschild noch eine Türnummer. Clarence warf einen Blick auf die beiden Schlüssel und probierte denjenigen aus, der nicht in das Schloss der Haustür gepasst hatte. Tatsächlich öffnete sich die Wohnungstür. Gut so. Hoffentlich finden wir bald das, was wir suchen.

In Miss Westrays dunklem Wohnungsflur entzündete Mabel eine Öllampe, nachdem sie in deren Nähe eine Schachtel Streichhölzer gefunden hatte. Ein leichter Geruch nach Kernseife hing in der Luft. Die mit einem schlichten floralen Muster bedeckte Tapete in der kleinen Einzimmerwohnung war an einigen Stellen eingerissen, an anderen hatte sie sich von der Wand gelöst.

Clarence stellte seinen Gehstock in einer Ecke des Raumes ab und sah sich um. Nur das Nötigste an Mobiliar fand sich hier: ein altes Bett, ein Kleiderschrank, ein kleiner Toilettentisch mit Waschschüssel, ein weiterer, etwas größerer Tisch, dazu zwei Stühle. Eine Küchennische und ein Heizofen komplettierten die Einrichtung. An der Wand hing zudem ein schmales Bücherregal mit drei Böden. Die Toilette, die sich offenbar mehrere der Bewohner des Hauses teilten, befand sich auf halber Treppe außerhalb der Wohnung. Sie waren an einer entsprechenden Tür vorbeigegangen.

Mabel trat mit der Öllampe an das Bücherregal. »Hier sind jede Menge Noten«, sagte sie. »Ich vermute, für Gesangsstücke. Ah, Jacques Offenbach, der Name sagt mir etwas. Er hat mehrere Operetten geschrieben, soweit ich weiß. Und diesen Giuseppe Verdi scheint Miss Westray ebenfalls bevorzugt zu haben.«

Clarence konnte noch immer nicht das Unbehagen abschütteln, in einer fremden Wohnung herumzuschnüffeln. Er betrachtete die Rücken der wenigen Bücher; ausschließlich Sachliteratur zum Thema Musik und Gesang. Belletristische Werke konnte er nicht entdecken. »Offenbar hat Miss Westray nicht zu den Damen gezählt, die gern Romane lesen«, sagte er.

»Was ist denn in dem Behältnis dort?« Mabel deutete auf eine Schachtel aus festem Karton, die mit einem zarten, leicht verblassten Blumenmuster bemalt war. Im Schein der Lampe hob Clarence den Deckel an.

In der Schachtel lagen drei Bündel mit Briefen, alle fein säuberlich mit einem roten Stoffband verschnürt. Darunter befanden sich Schreibutensilien – eine Feder, ein Gläschen Tinte, ein unbeschriebenes Blatt Papier, blutrotes Siegelwachs sowie ein schlichter Siegelstempel.

Eine ganze Menge Briefe … »Dann wollen wir doch einmal sehen, ob wir hier die gewünschten Adressen finden.« Clarence hob die Briefbündel aus der Schachtel und legte sie auf den Tisch. Gemeinsam knüpften sie die Schnüre auf.

»Sortieren wir sie am besten nach den Adressen«, schlug Mabel vor. »Sofern welche darauf vermerkt sind.«

Sie sollte recht behalten, nicht auf allen Briefen war ein Absender zu finden. Briefe wurden dieser Tage ja zumeist nur zusammengefaltet und mit Siegelwachs geschlossen. Lediglich für hochoffizielle Schreiben verwendete man Briefumschläge. Ansonsten wurden diese im privaten Bereich, wenn überhaupt, nur von der Oberschicht und dem Adel genutzt, schließlich war Papier – bis auf jenes, das beim Druck von Zeitungen zum Einsatz kam – teuer.

Eine kraftvoll geschwungene Schrift stach Clarence ins Auge.

Liebste Pauline,

es war mir eine Freude, mit dir wieder ein Konzert in der Canterbury Music Hall zu besuchen. Deine Augen leuchten immer so wunderbar, wenn du dich für Musik begeistert. Du bist die liebreizendste Frau, die ich jemals kennenlernen durfte.

Wer auch immer das geschrieben hatte, sparte nicht mit Superlativen und Süßholzgeraspel. Auch die weiteren Zeilen lasen sich zutiefst schwärmerisch.

Clarence überflog sie nur, ehe er sich das Porträt ansah, das dem Brief beigefügt war – ein Albuminabzug. Es zeigte einen jungen Mann, der mit einem angedeuteten Lächeln selbstbewusst in die Kamera blickte. Sein helles Haar war leicht gewellt und akkurat gekämmt. Er trug einen Anzug, der, zumindest oberflächlich betrachtet, maßgeschneidert wirkte und ihn vorteilhaft kleidete. Am Kinn hatte er ein kleines dunkles Muttermal. Ein gut aussehender Mann, dem gewiss die Herzen der Damen zuflogen.

»Wie es aussieht, hatte Miss Westray einen Verehrer. Schau dir das hier an!« Clarence reichte Mabel den Brief und das Porträt.

Auch sie überflog die Zeilen und ihre Augen weiteten sich. »Den hat sie mir gegenüber nie erwähnt. Aber das ist auch kein Wunder«, räumte sie ein, »wir waren schließlich keine innigen Freundinnen.« Sie drehte den Brief um. »Unterschrieben ist er mit ›G.‹. Keine Adresse. Und sieh nur, das Datum! Der Brief ist gerade mal drei Tage alt. Ach, da fällt mir ein, in ihrer Handtasche steckte eine Karte für ein Konzert in der Canterbury Music Hall in Lambeth. Dann waren die beiden, wer immer dieser ›G.‹ ist, wohl gemeinsam dort.«

Clarence zuckte mit den Schultern. »Gut möglich.«

»Ich werde einmal meine Bekannten fragen, ob sie diesen ›G.‹ kennen. Vielleicht hat Pauline ihn ja ihnen gegenüber erwähnt. Wenn die beiden so vertraut miteinander waren, sollte er erfahren, dass sie aus dem Leben gerissen wurde.«

»Ja, das denke ich auch. Womöglich waren sie verlobt.«

»Ach, das glaube ich nicht«, erwiderte Mabel. »Das hätte sie bestimmt erwähnt. Und sie trug ja auch keinen Verlobungsring.« Sie griff kurz an ihren eigenen Ehering.

Das war Clarence allerdings auch aufgefallen. Ihm kam ein weiterer Gedanke dazu. »Es sei denn, die beiden wollten ihre Verbindung aus irgendwelchen Gründen geheim halten. Dann hätte sie einen solchen Ring gewiss nicht offen getragen.«

Die beiden wären wohl kaum das erste Liebespaar, dessen Eltern mit einer Liaison nicht einverstanden waren.

Clarence nahm den nächsten Brief zur Hand. »Ich frage mich, ob Miss Westrays Familie diesen Herrn kennt.«

Währenddessen musterte Mabel das Bild von Miss Westrays Verehrer. »Der junge Mann sieht mir ein wenig nach einem eingebildeten Schönling aus.«

»Aber du kennst ihn doch gar nicht!«, protestierte Clarence und lachte, weil ihn Mabels Beschreibung unfreiwillig amüsierte.

Mabel sah ihn herausfordernd an. »Du sagst doch immer, das Aussehen eines Menschen lasse auf vieles schließen.«

»Ja, schon. Aber ich bin nicht gerade ein Verfechter der Physiognomik, und das weißt du.«

Er glaubte nicht daran, dass man allein aus den Gesichtszügen eines Menschen auf dessen Charaktereigenschaften schließen konnte. In seinem Atelier waren ihm mittlerweile viele Leute untergekommen, an denen sich die Physiognomiker die Zähne ausgebissen hätten. Da war zum Beispiel jener Herr mit dem rundlichen Gesicht gewesen, den diese Wissenschaft gewiss als gemütlich, faul und ein wenig einfältig beschrieben hätte. In ihrem Gespräch hatte sich jedoch herausgestellt, dass er eine geisteswissenschaftliche Lehrstelle an der Universität innehatte.

»Nun …« Mabel deutete auf das Bild. »Vielleicht ist dieser Herr ja tatsächlich kein eingebildeter Schönling. Aber sei es drum, das werden wir wohl nie herausfinden.«

Die weiteren Briefe enthielten eine ganze Reihe unterschiedlicher Absender, darunter mehrere weibliche, beispielsweise eine Angelica Beetham.

»Schau einmal hier«, sagte Mabel nach einer Weile. »Mrs und Mr Paul Westray. Das könnten ihre Eltern sein. Eine Adresse ist ebenfalls vermerkt. Die Westrays wohnen offenbar in Hackney.«

»In der Tat.« Clarence atmete erleichtert auf. »Ein Glück, damit haben wir eine Sorge weniger. Ich setze mich gleich zu Hause hin und schreibe an die beiden.«

Mabel legte ihre Hand auf seine. »Mein lieber Fuchs, das kann ich auch gern tun.«

»Fuchs«, so nannte ihn seine Frau immer, wenn ihr etwas wichtig war und sie ihm schmeicheln wollte. Er schmunzelte, wie so oft, wenn sie diesen Namen gebrauchte, auch wenn es genau genommen nur sein Nachname war. Ihr gemeinsamer Nachname, verbesserte er sich in Gedanken.

»Es würde dem Ganzen eine persönlichere Note geben, weil ich mit der armen Miss Westray bekannt war«, fuhr Mabel fort. »Und dann schreibe ich Doktor Tyner eine Nachricht, damit er weiß, dass ich mich darum gekümmert habe. Ich werde in dem Schreiben an die Westrays seine Adresse und die des Leichenschauhauses mit einfügen.«

»Das ist mir recht«, erwiderte Clarence. »Hoffentlich sind die Westrays nicht gerade verreist und können bald nach London kommen.«

Aus purer Macht der Gewohnheit betrachtete er mithilfe der Öllampe die wenigen Bilder, die in der Wohnung hingen. Als Fotograf interessierte ihn stets, wie seine Kollegen Familienporträts und andere Abbildungen gestalteten.

Eines der Bilder fing in besonderem Maße seine Aufmerksamkeit ein. »Schau einmal, Liebes«, sagte er zu seiner Frau. »Das könnten Miss Westrays Eltern und sie selbst sein.«

Die Abbildung in dem schlichten Holzrahmen war vor ungefähr zehn Jahren aufgenommen worden, wie er an der Technik des Bildes und an dem Kleidungsstil erkannte. Damals hatten die Damen noch runde Reifröcke getragen, dazu lange Raffungen auf der Rückseite des Rockes bis hin zu längeren Schleppen. Die Dame saß auf einem Stuhl, ihr mutmaßlicher Gatte stand neben ihr und hatte in einer vertraulichen Geste eine Hand auf ihre Schulter gelegt. Eine Jugendliche stand etwas seitlich neben der Frau.

»Das muss Miss Westray in jungen Jahren sein«, sagte Clarence und deutete auf die Jugendliche. »Dieselbe hohe Stirn und die schmale Nase.«

Mabel lachte auf. »Wie du das immer so schnell erkennen kannst! Selbst anhand einer so kleinen Abbildung …«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich hatte eben schon immer ein gutes Gesichtergedächtnis. Das muss ich von Vater geerbt haben.«

Mabel griff nach der Feder, die sich in der Schachtel befand. »Ich werde die Adresse der Westrays abschreiben, dann können wir ihren Brief hierlassen.«

»Ist denn noch Tinte da?« Clarence deutete auf die Schachtel, in der das Tintengläschen lag.

Mabel nahm es heraus und schraubte den Deckel ab. »Ja, das wird reichen.« Sie notierte die Adresse auf einer Ecke des unbeschriebenen Blattes Papier, das ebenfalls in der Schachtel gelegen hatte.

Währenddessen ließ Clarence seinen Blick noch einmal über das Bücherregal schweifen. In einem der Bücher steckte ein Blatt Papier. Er öffnete das Buch. Bei dem Papier handelte es sich um einen Zeitungsausschnitt. Ob dieser als Lesezeichen diente?

Er nahm den Zeitungsausschnitt heraus und las ihn im Schein der Öllampe.

»Was liest du da?«, erkundigte sich Mabel und trat einen Schritt auf ihn zu.

»Ach, das ist ein Zeitungsbericht, eine Vorankündigung zu einem Konzert. Es geht darin um einen Auftritt des sogenannten Bach-Chors, der von einem gewissen Otto Goldschmidt gegründet wurde. Hier steht, er sei mit der als die ›schwedische Nachtigall‹ bekannt gewordenen Opernsängerin Jenny Lind verheiratet. Sie erteilt den Sopransängerinnen im Chor Unterricht und wird selbst ebenfalls mit dem Chor auftreten.«

»Ah, die schwedische Nachtigall! Ja, dieser Name ist mir bekannt. Ich habe von ihr gelesen. Vielleicht wollte Miss Westray dieses Konzert besuchen. Hat der Zeitungsbericht ein Datum?«

Clarence sah nach. »Hier steht, das Konzert sei am 12. Oktober. Also hat es bereits stattgefunden.«

»Hm.« Mabel schwieg einen Moment lang, ehe sie wieder das Wort ergriff. »Ob dieser ›G.‹ Miss Westray auch dorthin begleitet hat?«

»Wer weiß, vielleicht?«

»So, die Tinte dürfte trocken sein.« Mabel steckte das Blatt Papier mit der Adresse der Westrays in ihre Handtasche.

Clarence legte den Zeitungsausschnitt wieder in das Buch und stellte es zurück ins Regal. »Dann lass uns gehen, meine Liebe.« Seine Finger zitterten wieder ein wenig. Clarence griff nach seinem Gehstock. Gut, dass sie endlich die Wohnung der Verstorbenen verlassen konnten. Himmel, das alles nahm ihn mehr mit, als er sich eingestehen mochte!

Mabel nickte zustimmend. Kurz darauf löschte sie das Licht und verließ, gefolgt von Clarence, die Wohnung. Sorgfältig schloss er die Wohnungstür wieder ab.

Ihr Heimweg dauerte gerade mal eine Viertelstunde. Dafür war Clarence angesichts des kalten Regens dankbar, denn unaufhörlich perlten dicke Tropfen von der Hutkrempe seines Zylinders ab, während er sich Schritt für Schritt auf seinen Gehstock stützte. Eine Kutsche fuhr an ihnen vorbei, deren Räder das Wasser aus einer Pfütze an sein Hosenbein spritzten. Ärgerlich, diese Rücksichtslosigkeit! Allerdings war es nicht das erste Mal, dass ihm Derartiges widerfuhr. Doch nun war es auch egal, ihre Bedienstete Lindsey würde die vom Regen feuchte Hose ohnehin zum Trocknen aufhängen müssen.

Was für eine Wohltat, als er eine Dreiviertelstunde später mit einer bequemen Tweedhose im warmen Wohnzimmer saß, in dem Lindsey das Kaminfeuer geschürt hatte. Eine petrolfarbene Tapete mit einer dezenten floralen Bordüre zierte den Raum, den Mabel behaglich eingerichtet hatte. Ihre Stickarbeiten schmückten die Tischdecke und einige Kissen. Sie hatte auch einen größeren Wandbehang selbst bestickt, der das Alphabet zeigte, umgeben von grünen Blumenranken und gelben Blüten. Damit hatte sie früher den Kindern jeden einzelnen Buchstaben nähergebracht.

Bevor sie hierhergezogen waren, hatten sie als Familie fast am anderen Ende von Pimlico gewohnt. Clarence mochte das Viertel. Ein Zeitungsbericht hatte im vergangenen Jahr die folgenden Worte darüber gefunden: »Gediegen und wertgeschätzt von Berufstätigen, die zwar nicht reich genug sind für den Luxus in Belgravia, jedoch immerhin reich genug, um in Privathäusern zu leben. Die Bewohner Pimlicos sind lebhafter als jene in Kensington, aber höher angesiedelt als in Chelsea, das durch und durch kommerziell ist.«

Vor mehr als fünfzig Jahren war der Bauherr Thomas Cubitt von Lord Grosvenor damit beauftragt worden, den Stadtteil zu entwickeln. Clarences Vater hatte ihm davon erzählt, manche der Bauarbeiten hatte dieser selbst als junger Mann miterlebt. Die größten und schönsten Häuser waren schließlich am St George’s Drive und der Belgrave Road sowie an den Plätzen Eccleston, Warwick und St George’s gebaut worden. In der Lupus Street gab es teilweise ähnliche Prachtbauten, außerdem ein Krankenhaus für Frauen und Kinder. Dorthin hatten sie ihren Sohn Theodor einmal bringen müssen, als er sich als Kind das Bein gebrochen hatte.

Ihre Tochter Adelia war inzwischen verheiratet und lebte bei ihrem Mann. Auch Theodor lebte seit einiger Zeit in einer eigenen Wohnung, sodass Clarence und Mabel den Mietvertrag für die große Familienwohnung gekündigt hatten, nachdem sein Vater gestorben war. Eine Zeit lang hatte seine Mutter noch bei ihnen gelebt, doch vor drei Jahren war auch sie aus dem Leben geschieden, sodass sie sich die Wohnung hier in der Sutherland Street mittlerweile nur noch mit Lindsey teilten. Clarence vermisste seine Eltern noch immer von Zeit zu Zeit. Oft hatte er im Atelier den seltsamen Eindruck, dass er nur zur Tür schauen müsse und sein Vater würde hereinspazieren. Das war natürlich ausgemachter Blödsinn. Er war nicht abergläubisch, glaubte auch nicht an Geister wie manch andere Londoner. Gespenstergeschichten waren etwas zur Unterhaltung, nichts weiter. Aber die Erinnerung an seine Eltern blieb ihm, selbst wenn sie gelegentlich zu solch seltsamen Einbildungen führte.

Clarence war während des Krieges aufgrund seiner Beinverletzung für kriegsuntauglich erklärt worden und war danach nie wieder als Soldat tätig gewesen. Ein innerer Zwiespalt war das; einerseits wollte er seinem Land dienen, andererseits hatte er auf den Schlachtfeldern so viele Tote gesehen, dass es etwas mit seinem Kopf angestellt hatte – etwas, was ihm ganz und gar nicht gefiel. Und er war nicht der Einzige, dem es so ergangen war.

Im Lazarett hatten die Ärzte Fälle wie ihn »Kriegszitterer« genannt – gestandene Männer, die in den Krankenbetten lagen und stundenlang regungslos vor sich ins Leere starrten. Die bei bestimmten lauten Geräuschen erschrocken zusammenzuckten und dann minutenlang nicht ansprechbar waren. Oder die jede Nacht laut schreiend erwachten, aus blutigen Albträumen, wie er sie selbst nur allzu gut kannte. Die Ärzte hatten sie beschworen, sich zusammenzureißen, keine Schwächlinge zu sein. Doch ihm hatte diese Ansprache nicht geholfen, die Bilder in seinem Kopf wieder loszuwerden, und jeder verdammte Schritt, den er vor den nächsten setzte, erinnerte ihn bis heute an seine Beinverletzung und damit an den Krieg. Anstatt also wieder die Uniform anzuziehen, hatte er im Fotoatelier seines Vaters mitgearbeitet.

»Einen Penny für deine Gedanken, mein Lieber«, sagte Mabel sanft.

Er räusperte sich. »Ach, entschuldige, ich war gerade geistig abwesend. Was gibt es heute Abend zu essen?«

Wie gut, dass seine Frau ihn aus den düsteren Gedanken gerissen hatte. Dankbar drückte er ihre Hand.

Eine halbe Stunde später saßen sie am Esstisch. Vor beiden stand ein dampfender Teller. Lindsey hatte sich bereits verabschiedet, da sie sich für den Abend freigenommen hatte.

»Ich bin immer noch fassungslos, wenn ich daran denke, was passiert ist«, sinnierte Clarence.

Mabel nickte traurig, während sie das Gemüse auf ihrem Teller mit einer Gabel zerteilte. »Das geht mir nicht anders. Hoffentlich wissen wir bald mehr. Ob die Arme vergiftet wurde?«

Clarence legte sein Besteck zur Seite. »Ich mache mir Vorwürfe«, gab er offen zu. Als seine Frau ihn fragend ansah, fuhr er bekümmert fort: »Weil ich auf der Treppe so langsam war. Wäre ich schneller gewesen, hätten wir ihr womöglich noch helfen können.«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Mabel. »Sie hat die Praline ja offenbar heruntergeschluckt, von daher waren wir sowieso zu spät.«

»Ja.« Clarence nahm das Besteck wieder auf. »Wenn ich mich recht entsinne, hat Miss Westray die Praline in dem Moment heruntergeschluckt, als ich aus dem anderen Raum wieder zu ihr zurückkam. Da konnte ich ja noch nicht wissen, was das für Auswirkungen haben würde.«

»Siehst du.« Mabel lächelte aufmunternd. »Du hast bestimmt keinen Grund, dir etwas vorzuwerfen. Ach, ich hoffe sehr, dass wir … beziehungsweise dass der Coroner bald herausfindet, woran Miss Westray tatsächlich gestorben ist.«

»Das hoffe ich auch.« Seufzend begann Clarence zu essen, doch es schmeckte ihm an diesem Abend nicht so recht. Das traurige Ereignis hatte ihm auf den Magen geschlagen und er bekam nur wenige Bissen herunter, bis er es aufgab.

Post mortem

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