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Kapitel 2 – MABEL

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Mabel wischte sich über das verweinte Gesicht. Die Tränen waren ihr peinlich, draußen vor den Leuten, aber wohin sollte sie sonst mit ihrer Trauer? Unfassbar, dass Miss Westray aus dem Leben geschieden war. Über gemeinsame Bekannte, die Porters, hatte sie die junge Frau kennengelernt. Sie war ihr auf Anhieb sympathisch gewesen. Sie hatten einmal über Mabels Familie gesprochen, und bei allen weiteren Treffen hatte sich Miss Westray nach ihren Angehörigen erkundigt und das offenbar nicht nur als höfliche Floskel gemeint.

Mabel erinnerte sich noch gut an ein gemeinsames Gespräch, als sie beide und einige andere Damen bei Mrs Porter zum Tee eingeladen gewesen waren.


»Wann möchten Sie denn eine Familie gründen, Miss Westray?«, erkundigte sich Mrs Porter.

»Das weiß ich noch nicht. Erst einmal möchte ich an der Oper singen, das hat für mich oberste Priorität.« Miss Westray schenkte den anwesenden Damen ein schiefes Lächeln. »Meine Mutter wirft mir hier Ehrgeiz an der falschen Stelle vor. Mögen Sie Musik, Mrs Porter?«

»Ja, natürlich, keine Frage! Das geht uns sicher allen so.«

Mabel und die anderen Damen stimmten dem zu.

»Sehen Sie. Musik braucht ja nicht nur Hörende, sondern auch jene, die sie zum Klingen bringen. Ich möchte Menschen mit meinem Gesang erfreuen, aber auch mich selbst, das muss ich zugeben. Dabei denke ich ganz gewiss nicht im Kleinen. Ich möchte ein ganzes Theater mit meinem Gesang füllen, das ist mein größter Wunsch. Wenn ich das erreicht habe, dann – und erst dann – werde ich über eine Ehe nachdenken.«

»Aber haben Sie denn keine Angst, dass Sie als alte Jungfer enden könnten?«, fragte Mabel. »Je älter Sie werden, desto schwieriger wird es doch mit einer Eheschließung. Wissen Sie, in meinem Haus leben zwei ältere Damen, die sich eine Wohnung teilen. Miss Clover und Miss Gettis. Beide haben nie geheiratet und auch keine Kinder zur Welt gebracht. Sie sagten mir, es hätte sich für sie einfach nicht ergeben.«

Miss Westray lächelte. »Ich kann mich nur wiederholen. Meine erste Priorität ist der Gesang. Alles andere stelle ich hintan, auch wenn es nicht den üblichen Gepflogenheiten entspricht.«

»Ich muss schon sagen, Miss Westray – ich bin ein wenig erstaunt, dass Ihre Eltern Ihnen das erlauben«, sagte Mrs Porter.

Die junge Frau zuckte mit den Schultern. »Nun, ich bin volljährig und kann meine eigenen Entscheidungen treffen. Mir ist es wichtig, meinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen – mit Musikunterricht.«

Eine ältere Dame ergriff das Wort. »Also, zu meiner Zeit wäre das undenkbar gewesen. Ich meine, in unseren Kreisen.«

Miss Westray zuckte leicht mit den Schultern. »Die Zeiten ändern sich.«

»Auf jeden Fall wünsche ich Ihnen viel Erfolg für Ihre Pläne«, sagte Mabel. Miss Westray wusste offenbar sehr genau, was sie wollte.


All diese Pläne der jungen Frau, die in Adelias Alter war – nein, gewesen war –, ihr Enthusiasmus für die Musik. Alles dahin, von einem Moment auf den anderen aus dem Leben gerissen. Mabel schauderte. Wenn sie sich vorstellte, dass ihre eigene Tochter … Der Gedanke ließ sich nur schwer abschütteln. Seit Mabel damals die Kinder geboren hatte, hatte sie die Angst begleitet, sie zu verlieren, sei es durch Krankheit, Unfälle oder gar Verbrechen. Es war eine Angst, die sie mit anderen Müttern teilte, wie sie über die Jahre immer wieder in Gesprächen festgestellt hatte. Mit der Zeit waren diese Gedanken in den Hintergrund getreten. Doch an Tagen wie diesen meldeten sie sich wieder, und mit Macht. Nein, rief sie sich zur Ordnung. Nicht weiter darüber nachdenken. Nicht jetzt!

Sie hatte den Beruf der Krankenschwester nicht zuletzt deshalb gewählt, weil sie es als praktisch empfand, entsprechende Kenntnisse auch im privaten Umfeld anwenden zu können. Zumindest im Kleinen, bei einfachen Erkrankungen. Außerdem hatte sie etwas gegen den Tod unternehmen wollen – gegen Todesfälle, die durch den Einsatz geeigneter Heilmethoden, durch Medizin verhindert werden konnten. Was Miss Westray betraf; war sie einfach zu spät hinzugekommen, oder hätte sie ihr so oder so nicht mehr helfen können?

Während Mabel weitereilte, wanderten ihre Gedanken zu Doktor Tyner, einem hochgewachsenen Mann mit hagerem, leicht eingefallenem Gesicht und dunkelblauen Augen hinter einer Hornbrille. Mabel kannte ihn seit mehr als fünfundzwanzig Jahren und sie hatten einander nie aus den Augen verloren, nachdem der Krimkrieg ein Ende gefunden hatte.

Mabel hatte damals zu den Krankenschwestern und den katholischen Nonnen gehört, die mit Florence Nightingale im November 1854 die als Lazarett eingesetzte Selimiye-Kaserne in Scutari erreichten. Was sie dort vorgefunden hatte, würde sie ihr Leben lang nicht vergessen. Es waren nicht die schrecklichen Verletzungen, die Schmerzenslaute oder die geflüsterten Gebete. Natürlich war auch das alles furchtbar gewesen, als viel schlimmer hatte sie jedoch die katastrophalen Zustände empfunden. Die viel zu wenigen Ärzte vor Ort waren völlig überarbeitet gewesen. Außerdem hatte es an allen Ecken und Enden gefehlt, die Medikamente hatten nicht ausgereicht und viele der verwundeten Soldaten waren aufgrund der schlechten hygienischen Bedingungen an einer Infektion gestorben.

Doktor Tyner zählte zu jenen Ärzten, die damals bis zur Erschöpfung gearbeitet hatten, um zu retten, was zu retten war. Trotz der chaotischen Verhältnisse in jenem Lazarett war er umsichtig geblieben, war niemals laut geworden und hatte Schwestern sowie Assistenzärzte mit ruhiger Stimme angewiesen. Doktor Tyner verfügte über eine Seelenruhe, um die Mabel ihn beneidete.

Wie es der Zufall wollte, lebten sie mittlerweile beide in Pimlico, was sie als Segen empfand, denn sie schätzte ihn sehr. Vor fünf Jahren war seine Frau gestorben, eine schwere Lungenentzündung hatte sie hinweggerafft. Mabel hatte Mrs Tyner sehr gemocht und besuchte regelmäßig deren Grab, um dort ein paar Blumen niederzulegen. Die vier Kinder der Tyners hatten schon lange eigene Familien gegründet.

Mabel fand den Arzt, wo sie ihn vermutet hatte – im Leichenschauhaus, das sich in der Buckingham Palace Road befand, gerade einmal zehn Minuten Fußweg von der Sutherland Street entfernt.

»Was ist denn passiert, Mrs Fox?«, fragte er sie mit Besorgnis in der Stimme. »Meine Liebe, Sie wirken ja völlig aufgelöst!«

Mabel holte tief Luft und schilderte ihm stockend, was vorgefallen war. Die Worte kamen ihr nicht leicht über die Lippen, immer wieder musste sie neu ansetzen, und auch die Tränen lauerten schon wieder darauf, ihre Wangen zu erobern, aber sie wollte vor Doktor Tyner nicht die Fassung verlieren.

Der Arzt lauschte ihr aufmerksam, nahm seine blutige Schürze ab und hängte sie an einen Haken.

»Das werde ich mir selbst ansehen, Mrs Fox«, sagte er stirnrunzelnd. »Danke, dass Sie hergekommen sind.«

Rasch zog er sich seinen Mantel an und sprach kurz mit einem Mitarbeiter des Leichenschauhauses, danach folgte er ihr nach draußen.

Im Eilschritt ging er neben Mabel her. »Auf das, was Sie mir geschildert haben, kann ich mir im Moment noch keinen Reim machen«, erklärte er. »Ich werde mehr wissen, wenn ich mir die Verstorbene angesehen und sie untersucht habe.«

»Ich kannte Miss Westray über eine gemeinsame Bekannte«, erklärte Mabel.

»Hatte sie Familie? Angehörige? Wissen Sie das?«

Betrübt schüttelte sie den Kopf. »Nicht hier in der Stadt, soweit ich weiß. Sie ist aus Hackney hergezogen, um eine Karriere als Sängerin zu verfolgen.«

»Ich nehme an, es gibt auch keinen Ehemann? Einen Verlobten vielleicht?«

So gut hatte sie die Verstorbene nicht gekannt. »Einen Ehemann definitiv nicht. Einen Verlobten hat sie mir gegenüber nie erwähnt. Aber ich muss dazu sagen, dass wir nicht in engerem Kontakt standen. Jedenfalls trug sie keinen Verlobungsring.«

»Aha.« Doktor Tyner beschleunigte seinen Gang und Mabel hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Sie passierten den großen Victoria-Bahnhof, der vor rund acht Jahren eröffnet worden war und zwei verschiedene Bahnlinien bediente. Zahlreiche Passanten strömten aus dem Bahnhofsgebäude. Die meisten von ihnen waren dunkel gekleidete Männer mit Zylinderhüten oder Mützen, dazwischen vereinzelt Frauen, die farbenfroher gekleidet waren. Vor dem Eingang versuchte ein Zeitungsjunge, der eine zerschlissene graue Strickmütze trug, seine Ware anzupreisen, allerdings war er heiser und hatte es sichtlich schwer, auf sich aufmerksam zu machen. Ein Mann mit einem Koffer und einer Zeitung unter dem Arm drängte sich an Mabel vorbei. Es roch nach Ruß und Rauch und von irgendwoher wehte ein fauliger Gestank zu ihnen herüber. Die Feuchtigkeit des kalten Herbsttages kroch Mabel in die Gelenke. Ihre Handschuhe halfen dagegen nur wenig.

Sie überquerten die Brücke, die über die Eisenbahntrassen führte. Stampfend rauschte eine Bahn heran, deren Räder über das Metall der Schienen ratterten, während sich der aus der Lok hervorquellende Dampf mit dem Grau des Oktobernachmittags vermischte.

Nachdem sie die Brücke passiert hatten, dauerte es zum Glück nur wenige Minuten, bis sie Clarences Atelier erreichten. Das kobaltblaue Schild mit dem weißen Schriftzug »Fotoatelier Fox« war kaum zu übersehen, selbst an einem so trüben Tag wie diesem. Ihr Mann hatte das kleine hölzerne Schild an der Eingangstür auf »Geschlossen« umgedreht. Durch eines der Fenster konnte sie undeutlich die zusammengesunkene Gestalt der armen Miss Westray sehen, die noch immer auf dem Stuhl saß oder vielmehr hing. Wieder kribbelten ihr die Augen.

Reiß dich zusammen, Mabel! Jetzt war nicht die Zeit, um zu trauern. Noch nicht.

»Guten Tag, Mr Fox«, begrüßte Doktor Tyner ihren Mann, als er das Atelier betrat. Clarence erwiderte den Gruß und fügte dumpf hinzu: »Das ist kein guter Tag, fürchte ich. Ganz und gar nicht.«

»Ja, natürlich.«

Der Coroner trat zu der Verstorbenen hinüber und fühlte an der Halsschlagader nach ihrem Puls. Dann blickte er Clarence an. »Würden Sie bitte einmal aus Ihrer Sicht schildern, was geschehen ist, Mr Fox?«

Clarence wiederholte alles, was er Mabel bereits erzählt hatte. Er sprach schnell, abgehackt.

Doktor Tyner nickte. »Zeigen Sie mir doch einmal diese Pralinenschachtel«, verlangte er.

Mabel zog die Schachtel aus Miss Westrays Handtasche.

Währenddessen fuhr sich Clarence über das Gesicht, ehe er sich wieder dem Doktor zuwandte. »Ich schätze, sie hat eine der Pralinen gegessen und sich daran tödlich verschluckt. Oder …« Er hielt einen Moment inne. »Oder irgendetwas stimmte mit der Praline nicht.«

Das war in der Tat eine gute Frage.

»Bromleys …« Doktor Tyner betrachtete die Schachtel von allen Seiten. »Das ist doch eine Konditorei in der Belgrave Road. Meine Gattin – Gott hab sie selig – hat dort früher gelegentlich Kuchen gekauft oder sich mit einer Freundin auf einen Tee getroffen. Die Konditorei gibt es schon ziemlich lange – ein Familienunternehmen, soweit ich weiß.« Er wandte seinen Blick von der Schachtel und sah Clarence fest in die Augen. »Ich sage Ihnen, was ich tun werde. Ich nehme die Pralinen mit ins Labor und untersuche sie. Nur vorsichtshalber.«

Mabel riss die Augen auf. Ihr Mund formte ein stummes »Oh«, ehe sie zu sprechen begann. »Meinen Sie, die wurden vergiftet?«

Doktor Tyner runzelte die Stirn. »Zunächst einmal meine ich gar nichts. Lassen Sie uns lieber keine voreiligen Schlüsse ziehen.« Er beugte sich ein weiteres Mal über die bedauernswerte Miss Westray. »Hm. Lippen und Augenlider sind geschwollen. Und dann diese Rötungen. Und sehen Sie hier, diese Quaddeln.« Er deutete auf eine Stelle des Halses, an der sich kleine, unregelmäßig geformte, teilweise punktförmige Erhebungen befanden, die ebenfalls leicht gerötet waren.

»Ich denke, einen Erstickungstod durch Verschlucken können wir wohl ausschließen.« Er nahm seine Brille ab und rieb sich über die Nasenwurzel. »Das sind jedenfalls keine Anzeichen, die bei einer Erstickung durch Verlegung der Luftwege entstehen. Ich musste gerade an Mumps denken, aber dabei treten Schwellungen eher im Bereich der Wangen auf, allerdings natürlich nicht binnen Sekunden. Mumps können wir also ebenfalls ausschließen.«

Doktor Tyner wirkte nachdenklich. »Wie viel Zeit ist vergangen, seit Sie den Tod festgestellt haben?«, fragte er und setzte sich die Brille wieder auf.

Clarence zog die silberne Taschenuhr aus seiner Westentasche und warf einen kurzen Blick darauf. »Etwa eine Stunde.«

Der Doktor nickte. »Ich habe heute viel zu tun«, erklärte er. »Mrs Fox, würden Sie mich zurück ins Leichenschauhaus begleiten und Miss Westrays Leichnam selbst untersuchen? Oder sind Sie befangen, weil Sie die Dame persönlich kannten?«

»Nun, also … ich …« Mabel suchte nach Worten. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihm im Leichenschauhaus half, Obduktionen durchzuführen, zumeist als Assistentin. Nachdem die Kinder ausgezogen waren, hatte sie sich nach einer Beschäftigung gesehnt, die über die Haushaltsführung hinausging. Im Anschluss an eine Einladung zum Tee bei Doktor Tyner war eines zum anderen gekommen. Sie beide hängten Mabels gelegentliche Betätigung im Leichenschauhaus nicht an die große Glocke, denn im Grunde war es unerhört, dass eine verheiratete Frau überhaupt arbeitete – zumindest in der Mittelschicht, der sie angehörte. So manch einer aus ihrem Bekanntenkreis hätte mit Befremden darauf reagiert. Aber Clarence erlaubte es ihr.

Die Männer, die im Leichenschauhaus arbeiteten, waren ein Völkchen für sich und akzeptierten sie, denn sie waren froh über die Hilfe. Gelegentlich hatte sie selbst schon unter Doktor Tyners Anleitung Obduktionen durchgeführt.

Normalerweise hätte sie dem Arzt sofort zugesagt. Angesichts dieser Situation jedoch wütete ein Wirbelsturm aus Emotionen in ihrem Kopf. Immerhin ging es um Miss Westray. Nicht gerade eine enge Freundin, aber doch eine Bekannte. Sie warf einen Blick auf den Leichnam, auf die inzwischen leicht wächserne Haut, und verspürte erneut ein verräterisches Kribbeln in den Augen. Was sollte sie nur tun? Am liebsten wäre sie hinauf in die Wohnung und hätte die Tür hinter sich zugeschlagen. Aber was geschehen war, war geschehen. Der Tod hatte Miss Westray zu sich geholt und Tränen halfen der armen Frau nun auch nicht mehr. Aber sie konnte etwas anderes für sie tun. Einen letzten Dienst.

Mabel erwiderte Doktor Tyners fragenden Blick und fasste sich ein Herz. »Doch, ich denke, ich werde dazu in der Lage sein.«

»Gut«, erwiderte er. »Ich kümmere mich darum, dass der Leichnam so schnell wie möglich ins Leichenschauhaus gebracht wird. Später informiere ich die Kollegen vom Polizeirevier. Wir können dann mit dem Leichenwagen direkt mitfahren. Möchten Sie sich dafür umziehen, Mrs Fox?«

»Nein, das hier wird gehen.« Sie deutete auf ihr Kleid, das aus vier Teilen bestand – das graue geknöpfte Oberteil aus Leinen mit den am Saum aufgestickten Blüten, der hinten leicht aufgebauschte Rock in einem anderen Grauton, die etwas hellere Rockschürze, die darüber getragen wurde, sowie der Unterrock. Es war eines ihrer schlichteren Ensembles und schon etwas älter. Sie hatte es mehrfach geändert, um es an die neue Mode mit der Tournüre anzupassen, deren Silhouette in diesem Jahr vergleichsweise schmal war; weniger voluminös als in den Jahren zuvor.

»Gut, dann sehen wir uns gleich, ich beeile mich«, erwiderte der Coroner, legte grüßend zwei Finger an seinen Bowler und verließ das Atelier.

Während das Läuten der Türglocke verklang, wandte sich Mabel an Clarence. Sie griff nach seiner Hand, streichelte seinen Handrücken, eine Geste des Trostes. Er blickte sie traurig an und drückte leicht ihre Finger. »Hast du die Abbildung entwickelt?«, fragte sie ihn.

»Ja, das schon. Aber sie ist etwas verwischt, vermutlich weil Miss Westray sich in ihrem … ihrem Todeskampf noch eine Weile bewegt hat.« Er hielt ihr einen rötlichen Albuminpapierabzug entgegen. Das gesamte Bild wirkte leicht verschwommen. Miss Westrays Kopf war gesenkt, sodass ihr Gesicht nicht zu erkennen war. Allerdings war die Rötung auf ihrem Hals nicht zu übersehen, zumal sie sich dunkel von den helleren Hautpartien abhob.

»Ich denke, ich schließe das Atelier für heute«, sagte Clarence mit gefurchter Stirn. Seine Haltung war kraftlos und sein Gesicht blass. Er sah so aus, wie sie sich fühlte. »Ich werde mich wohl kaum noch aufs Ablichten und schon gar nicht auf Kundschaft konzentrieren können.«

Mabel umarmte ihn. »Das kann ich gut verstehen, mein Lieber.«

Er seufzte. »Wenn ich doch irgendetwas für die arme Frau hätte tun können!«

Mabel strich ihm liebevoll über den Arm. »Ich bin selbst fassungslos. Aber vielleicht wissen wir bald mehr. Ich meine, woran sie gestorben ist.«

Das Warten auf Doktor Tyner war eine Qual. Mabel war, als säße sie auf Kohlen. Unter anderen Umständen hätte sie oben in der Wohnung ihre Bedienstete Lindsey gebeten, einen Tee zuzubereiten. Diesen zu trinken, das war in jeder Lebenslage möglich und hatte etwas Tröstliches. Aber dafür war nun keine Zeit.

Zum Glück hielt der Coroner sein Wort: Eine halbe Stunde später fuhr er mit der schlichten schwarzen Kutsche vor, die dem Leichenschauhaus für Leichentransporte diente.

Williams, einer der Mitarbeiter, der auch die Aufgabe des Kutschers innehatte, kam mit einer großen Trage aus grobem, festem Stoff ins Atelier. Nachdem er sie beide begrüßt hatte, legte er den Leichnam mit Clarences Hilfe behutsam auf die Trage, was angesichts der Stoffmassen von Miss Westrays Kleid keine leichte Aufgabe war. Mabel musste an sich halten, um nicht wieder zu weinen.

»Kommen Sie, Mrs Fox. Wir sollten uns beeilen. Die einsetzende Totenstarre ist zwar kein Hinderungsgrund für eine Untersuchung, aber wenn sich etwas in Miss Westrays Hals befindet, das zu ihrem Tod geführt hat, wird es sich mit der Zeit zersetzen, und das würde uns die Angelegenheit erschweren.«

Sie straffte sich, nickte ihm zu und drehte sich zu ihrem Mann um. »Bis später, mein Lieber!«

Er wagte den Versuch eines aufmunternden Lächelns, doch es wirkte eher gequält. Mabel konnte es ihm nachfühlen. Zunächst einmal würde sie Doktor Tyner unterstützen und damit der Verstorbenen einen letzten Dienst erweisen. Was war bloß mit der armen Frau geschehen? Hoffentlich fanden sie es bald heraus. Sie griff nach der Tasche der Toten und vergaß es auch nicht, die Pralinenschachtel hineinzulegen.

Kurz darauf saß sie in der geräumigen Kutsche auf der schmalen Bank, der Coroner neben ihr und die Trage mit dem Leichnam auf dem Boden des Gefährts. Das Gesicht der Sängerin wirkte wächsern, ihr Hals war noch immer gerötet und von den Quaddeln bedeckt. Der Prozess der Verwesung streckte seine kalten Finger aus und würde schon bald sein Werk vollendet haben. Mabel schauderte. Natürlich, der Tod gehörte zum Leben dazu. In ihrem Bekanntenkreis gab es zahlreiche Menschen, die Angehörige verloren hatten – totgeborene Kinder, Kinder, die früh gestorben waren, Ehemänner und Söhne, die im Krieg gefallen waren, und einige andere. Pauline Westray hatte glänzende Aussichten auf eine Karriere als Sängerin gehabt, aber nun war ihre begnadete Stimme für immer verstummt.

»Ach, es ist jedes Mal so schwierig, sich um Todesfälle zu kümmern, wenn die Angehörigen nicht in der Stadt leben und man keine Adresse von ihnen hat«, sagte der Coroner mit gerunzelter Stirn.

»Warten Sie, vielleicht liefert uns ihre Tasche einen Hinweis.« Mabel lächelte gegen die Traurigkeit an, die wieder von ihr Besitz zu ergreifen drohte. »Frauen tragen für gewöhnlich recht viel mit sich herum – ich bilde da keine Ausnahme.« Sie öffnete die Handtasche der Verstorbenen und kramte darin herum, auch wenn ihr das unangenehm war. Es gehörte sich schließlich nicht, den Besitz anderer Leute zu durchwühlen. Aber in diesem Fall war es unumgänglich. Außer der Pralinenschachtel befand sich in der Handtasche eine kleine Geldbörse und ein zusammengefaltetes, spitzenbesetztes Taschentuch mit feinem Blumenmuster. Mabel kramte weiter. »Hm … hier ist eine Karte für ein Konzert in der Canterbury Music Hall in Lambeth – eine Operette von Jacques Offenbach. Das war vor zwei Wochen. Aber das hilft uns wohl nicht weiter.« Schließlich zog sie zwei handbeschriebene Visitenkarten der Verstorbenen und einen Schlüsselbund mit zwei Schlüsseln heraus. »Ich vermute, das sind ihre Hausschlüssel.«

Doktor Tyner rückte seine Brille zurecht. »Würden Sie mir einen Gefallen tun, Mrs Fox? Ich habe im Moment sehr viel zu tun. Es wäre mir eine große Erleichterung, wenn Sie später in der Wohnung der Verstorbenen nachsehen könnten, ob Sie dort einen Hinweis auf mögliche Angehörige finden. Vielleicht auch Briefe. Ich meine, Sie waren ja miteinander bekannt, da sollte es kein Problem darstellen, nehme ich an?«

»Wir kannten uns allerdings nicht näher«, gab Mabel zu bedenken. »Und was ist, wenn mich ihr Vermieter fragt, warum ich mir so ohne Weiteres Zugang zu ihrer Wohnung verschaffe? Er könnte mich des Diebstahls verdächtigen. Ich kenne ihn nicht und er weiß nicht, dass ich eine Bekannte von Miss Westray bin … war.«

Doktor Tyner winkte ab. »Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Ich setze Ihnen ein kurzes offizielles Schreiben auf, das mit einem Stempel der Metropolitan Police versehen ist. Entsprechend vorbereitetes Papier steht mir im Leichenschauhaus zur Verfügung. Sagen Sie ihm, ich hätte Sie geschickt. Und wenn der Vermieter Ihnen dann immer noch Schwierigkeiten macht, schicken Sie ihn direkt zu mir.« Er hielt kurz inne, bevor er weitersprach: »Wohnte sie in Pimlico?«

Mabel blickte auf eine der Visitenkarten. »Ja, in der Vauxhall Bridge Road. Das ist gar nicht weit entfernt von der Straße, in der Clarence und ich wohnen. Also gut, ich werde sehen, was ich tun kann.«

Die Kutsche hielt vor dem Leichenschauhaus, ein verhältnismäßig großes Gebäude, das sich in derselben Straße wie das Belgravia Polizeirevier befand. Williams holte einen der anderen Mitarbeiter herbei. Gemeinsam schleppten sie die Trage mit dem Leichnam in das Innere des Gebäudes, während der Coroner und Mabel ihnen folgten. Der süßlich-faulige Geruch von Verwesung schlug ihr an der Tür zur Leichenhalle entgegen, vermischt mit dem von Karbolseife und verschiedenen Chemikalien.

Diese Ausdünstungen waren ihr doch vertraut. Warum wurde ihr davon heute übel? Mabel ignorierte ihren rebellierenden Magen und straffte sich, ehe sie die Leichenhalle betrat.

Acht Tische befanden sich darin, auf sechs von ihnen lag je ein Leichnam. Bis auf den, an dem John Gerston gerade arbeitete, waren alle mit Tüchern abgedeckt.

»Guten Tag, Mrs Fox«, begrüßte sie der junge Mann, ein Medizinstudent aus einem der höheren Semester, der hier arbeitete, wenn es seine Vorlesungen erlaubten. Sein Plan war es, sich später auf Gerichtsmedizin zu spezialisieren.

»Guten Tag, Mr Gerston«, erwiderte Mabel.

»Legen Sie den Leichnam dorthin«, verlangte Doktor Tyner mit einem Fingerzeig.

Williams und ein weiterer Kollege betteten die Leiche auf den gewünschten Tisch und rollten die Textiltrage zusammen.

Der Coroner bedankte sich und die beiden verließen den Raum.

John Gerston kam zu ihnen herüber und betrachtete Miss Westrays sterbliche Überreste. »Was für einen Fall haben Sie uns gebracht?«, erkundigte er sich bei Doktor Tyner.

»Tod durch Ersticken oder eine andere Ursache. Mrs Fox wird die Leiche untersuchen, Sie können mit dem Strangulierungsopfer fortfahren.«

»Wie Sie wünschen.« John Gerston durchquerte den Raum und beugte sich wieder über den Leichnam, an dem er zuletzt gearbeitet hatte und dessen Körper nackt und bleich auf der Bahre lag.

Doktor Tyner zog sich eine helle Jacke über, wie immer, wenn er Leichen obduzierte. »Falls Sie Fragen haben, Mrs Fox, sagen Sie mir Bescheid, ja?«

»Selbstredend, Doktor!« Mabel zog sich eine der Schürzen über, die an einem Garderobenhaken bereithingen und die sowohl ihr Oberteil als auch einen Großteil ihres Rocks bedeckte. Mit Schaudern dachte sie an die hygienischen Verhältnisse in den Lazaretten des Krimkrieges. Damals hatte es kaum Sicherheitsvorkehrungen gegeben. Medizinisches Besteck war nicht gereinigt worden und Chlorkalk, der der Desinfektion diente, hatte es noch nicht gegeben. Ganz zu schweigen davon, dass aufgrund der katastrophalen hygienischen Bedingungen mehr als tausend britische Soldaten an Cholera, Dysenterie und anderen Durchfallerkrankungen gestorben waren, bevor die Streitkräfte überhaupt zum Einsatz gekommen waren.

Der Gedanke an all das verstärkte ihre Übelkeit. Nicht daran denken. Das alles war ja auch schon mehr als zwanzig Jahre her und die heutige Zeit bot Anlass für Hoffnung: Seit damals hatte sich in der Medizin und der Krankenpflege vieles verändert. Sie selbst hatte eine ganze Menge dazugelernt, seit die Kinder aus dem Haus waren. Einen nicht unwesentlichen Anteil daran hatte Doktor Tyner, der sich ebenfalls stetig weitergebildet hatte.

Mabel betrachtete das bleiche Gesicht von Miss Westrays Leichnam. Fast wollten ihr wieder die Tränen kommen, doch sie drängte sie zurück. Vielleicht konnte sie wenigstens herausfinden, woran die junge Frau gestorben war, oder zumindest bei einer entsprechenden Aufklärung mitwirken. Und sie würde nicht eher ruhen, bis die Todesursache feststand. Der Tod war unwiderruflich, aber er legte auch alles bloß – die ganze nackte Wahrheit über einen Menschen. Ein Leichnam konnte weder lügen noch sich verbergen oder ein Geheimnis hüten. Einem geschickten Mediziner war es gegeben, so manches an einer Leiche abzulesen. Auch wenn es zugegebenermaßen einiges gab, was der medizinischen Forschung bis heute ein Rätsel war, das wusste sie aus unzähligen Gesprächen mit dem Arzt und dem Medizinstudenten.

Ihr Blick wanderte zu Miss Westrays bleichem Leib. Der grässliche Geruch in der Halle und die Tatsache, dass hier eine Bekannte vor ihr lag, das beides trat allmählich in den Hintergrund. Stattdessen setzte Mabels Forscherdrang ein, eine Neugier, die ihr schon während ihrer Ausbildung als Krankenschwester innegewohnt hatte. Zu verstehen, wie der menschliche Körper aufgebaut war und wie er im Zusammenspiel all seiner Organe funktionierte, das hatte sie schon als Jugendliche fasziniert. Die Totenstarre begann fast immer an den Kaumuskeln. Mit spitzen Fingern tastete Mabel Miss Westrays erkalteten Kiefer ab. Die Starre hatte dort noch nicht eingesetzt, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis es so weit war. Vorsichtig schälte sie den Leichnam aus dem Oberteil, das sich aufknöpfen ließ. Danach das dünne Hemd, das sich über dem Korsett befand. Sie öffnete Letzteres, legte es beiseite und zog dem Leichnam auch die darunter liegende Chemise aus zarter Baumwolle aus. Für diese erste Untersuchung zudem die Röcke abzustreifen, war zum jetzigen Zeitpunkt wohl nicht gegeben. Das konnten später die Mitarbeiter des Leichenschauhauses übernehmen.

Mabel betrachtete den Oberkörper der Toten. Wie sie erwartet hatte, war die Haut blass. Miss Westray hatte keinerlei Narben, nur ein, zwei Muttermale. Auch keine blauen Flecken oder andere Anzeichen von Gewalteinwirkung. An ihren Fingern fanden sich keine jener typischen Abdrücke, die Menschen zeigten, die dauerhaft Ringe trugen. Wie schon am Hals erblickte Mabel auch auf dem Brustkorb jene fleckenförmigen Rötungen und Quaddeln. Ob das als ein Anzeichen für eine Vergiftung zu werten war?

Behutsam öffnete Mabel den Mund der Verstorbenen. Auf der deutlich geschwollenen Zunge klebten die Reste von Schokolade. Würde sie ihr etwa den Hals aufschneiden müssen?

Mabel wandte sich an den Coroner. »Doktor Tyner, wie sehen Sie das, soll ich die Speiseröhre und die Trachea aufschneiden, damit wir wissen, ob Miss Westray sich einfach nur unglücklich verschluckt hat?«

Er blickte von der Leiche auf, an der er gerade arbeitete. »Tun Sie das ruhig, Mrs Fox.«

Mabel straffte sich, nahm sich ein Skalpell und setzte die entsprechenden Schnitte an. Vorsichtig zog sie danach die Haut an den Rändern der Schnitte auseinander.

»Die Luftröhre zeigt deutliche Anzeichen einer starken Anschwellung. Aber es ist kein verschlucktes Stück einer Praline darin«, sagte sie zu Doktor Tyner. »Ich frage mich nur, wodurch diese Anschwellung entstanden ist. Pralinen mit einer Apfel-Zimt-Füllung? Das kann unmöglich die Ursache gewesen sein.«

»Ich werde einige Tests mit diesen Pralinen durchführen lassen«, sagte Doktor Tyner, ohne aufzusehen. »Falls da Gift im Spiel sein sollte, werden wir es sicher herausfinden. Ich frage mich allerdings, wie jemand Gift in die Pralinen gebracht haben könnte, ohne dass dies nach außen hin sichtbar ist.«

Mabel überlegte. »Wäre es nicht möglich, dass jemand selbst Pralinen hergestellt hat, die Gift enthalten, und sie dann in die Schachtel dieser Konditorei gelegt hat?«

»Ja, in der Tat, das ist allerdings denkbar. Die Pralinen sehen jedoch äußerst professionell aus, finde ich. Wenn Sie mit Ihrem Gedanken richtigliegen, wusste derjenige offenbar genau, was er tat. Oder sie.« Er kam zu ihr herüber. »Lassen Sie mich bitte einmal sehen.« Schweigend betrachtete er den aufgeschnittenen Kehlkopf und den Hals der Toten.

»Hm. Merkwürdig. Diese Rötungen auf der Haut und die Quaddeln könnten tatsächlich ein Anzeichen für eine Vergiftung sein. Es gibt ja zig verschiedene Gifte mit den unterschiedlichsten Wirkungen. Aber um das ganz genau herauszufinden, brauche ich eine richterliche Anordnung für eine größere Sektion. Wir werden dann auch die Halsweichteile entnehmen können und sie in ihrer Gesamtheit präparieren. Erst dann können Gerston und ich die Schwellungen genauer untersuchen. Ich spreche heute noch mit den Kollegen auf dem Revier, auch wegen des richterlichen Beschlusses.«

Mit der stumpfen Seite eines Skalpells drückte er die geschwollene Zunge der Toten leicht herunter. »Hm«, machte Doktor Tyner ein weiteres Mal. »Geben Sie mir bitte die Pralinenschachtel. Ich hole in der Zwischenzeit eine Pinzette und einen Träger.«

Mabel griff nach Miss Westrays Tasche und zog die Pralinenschachtel daraus hervor.

Wenig später kam Doktor Tyner mit einer Pinzette und einer dünnen Glasschale zurück. Mit dem kleinen, silbern glänzenden Werkzeug zog er vorsichtig eine Praline aus der Schachtel und legte sie auf den Boden der flachen Schale. Danach zerteilte er die Praline mit der Pinzette in der Mitte, hob eines der beiden Stücke hoch und betrachtete es eingehend. Anschließend roch er vorsichtig daran. »Wenn Sie mich fragen, sieht das darin nicht nach einer Apfel-Zimt-Füllung aus, wie es auf dem Etikett steht, sondern nach einer Erdnusscreme-Füllung. Es riecht auch eher danach.«

»Oh.« Ein kalter Schauder lief ihr über den Rücken, als sie darüber nachsann, was das bedeuten mochte. »Wenn jemand Miss Westray vergiften wollte, dann wäre es demjenigen wohl recht egal, was auf der Schachtel steht, sofern die Pralinen den Anschein erwecken, tatsächlich aus einer Konditorei zu stammen«, sagte sie. Die Übelkeit in ihrem Magen hatte sich während der Untersuchung gelegt, doch nun kehrte sie zurück.

»In der Tat. Das wäre eine Erklärung. Oder aber die Konditorei Bromleys hat die Schachtel falsch beschriftet.«

Er runzelte die Stirn. »Ich denke, so etwas kommt schon mal vor. Fehler passieren doch in allen Berufszweigen. Ich werde diese Pralinen auf jeden Fall auf Gift hin untersuchen lassen. Mein Kollege, Doktor Philmore, kennt sich damit besser aus als ich. Ich werde heute noch mit ihm sprechen.«

Mabel besann sich auf das, was sie gelernt hatte. Auf die kalten, harten Fakten. »Arsenik können wir wohl ausschließen, nicht wahr, Doktor?« Diese Substanz wurde teilweise als Heilmittel verwendet, unter anderem gegen die Syphilis, aber wenn sich Ärzte mit der Dosierung vertaten, kam es nicht selten zu Vergiftungen. »Da kommt es dann doch eher zu schweren Magen-Darm-Entzündungen mit Erbrechen, starken Schmerzen, Übelkeit und massiven wässrigen Durchfällen.«

»Ganz recht«, stimmte der Coroner ihr zu. Seine Stimme klang sachlich, fast als ob er einen Vortrag vor Studenten hielt. »Und irgendwann im weiteren Verlauf versagen Nieren, Herz und Kreislauf.« Er hob eines der Lider der Verstorbenen an. »Bei einer Belladonna-Vergiftung kann es ebenfalls zu Hautrötungen kommen, aber schauen Sie sich ihre Pupillen an, die sind nicht erweitert. Diese Hautrötungen und Quaddeln … es sieht fast aus wie Nesselfieber, aber das verläuft ja in der Regel nicht tödlich.«

Er blickte Mabel direkt an. »Wie schon gesagt, wir werden die Tote genauer untersuchen müssen. Bei manchen Giften sind Erstickungssymptome oder starke Hautrötungen die Folge, aber da werde ich weiter nachforschen. Möglicherweise war Zyankali im Spiel – bei einer entsprechenden Einnahme kommt es zu Atemnot.«

Er wandte sich an den Medizinstudenten. »Mr Gerston, wir hatten hier doch Anfang des Jahres einen Fall von Zyankalivergiftung. Was sind in einem solchen Fall die entsprechenden Symptome? Zählen Sie bitte auf, was Sie gelernt haben.«

John Gerston trat einen Schritt von dem Leichnam zurück, an dem er gerade arbeitete. »Die Vergiftungssymptome sind Atemnot, eine Reizung der Schleimhäute, die Bindehäute röten sich«, sagte er, als würde er aus einem Lehrbuch zitieren. »Laut Angaben einer Angehörigen litt unser Fall vor dem Eintritt des Todes an Schwindelgefühlen, er musste sich erbrechen und krampfte, bis schließlich eine Ohnmacht eintrat. Am Leichnam fiel auf, dass die Leichenflecken leuchtend rot waren.«

»Das ist hier ja nicht der Fall«, sagte der Doktor und zeigte auf den Leichnam. »Außerdem riechen die Pralinen nicht nach Bittermandel.«

Mabel überlegte. Sich auf die Fakten zu konzentrieren, half ihr gegen ihren noch immer rebellierenden Magen und auch gegen die aufkeimende Wut darüber, dass möglicherweise jemand Miss Westray nach dem Leben getrachtet hatte. »Und wenn nur diese eine Praline, die sie gegessen hat, Zyankali enthielt?«

»Nun, in dem Fall müsste es eine sehr hohe Konzentration gewesen sein. Wie gesagt, für eine gründlichere Untersuchung des Leichnams benötige ich einen richterlichen Beschluss. Und unter Umständen auch die Zustimmung der Angehörigen. Sagen Sie, Mrs Fox, würden Sie mir einen großen Gefallen tun und noch heute bei Miss Westray zu Hause nach der Adresse von deren Angehörigen forschen? Die Schlüssel befinden sich ja wohl in der Handtasche, zumindest gehe ich davon aus.«

Mabel zögerte. Wie schon auf dem Weg hierher erschien es ihr ganz und gar nicht richtig, in den Sachen der Verstorbenen zu wühlen. Andererseits mussten sie die Verwandten von Miss Westray verständigen und sie hatte keine Ahnung, wo diese wohnten. Eine Alternative wäre es, zunächst in ihrem Bekanntenkreis herumzufragen. Doch womöglich würde es Tage in Anspruch nehmen, wenn sie erst entsprechende Nachrichten schrieb und dann auf Antwort wartete. Einen Moment lang war sie hin- und hergerissen.

Doktor Tyner musterte sie mit gerunzelter Stirn, er wartete natürlich auf ihre Antwort.

»Das ist ein guter Gedanke«, erwiderte sie schließlich und nickte.

Der Arzt seufzte. »Danke. Das würde mir einiges an Lauferei ersparen. Wie schon gesagt, ich gebe Ihnen ein Schreiben mit, das Sie dem Vermieter vorlegen können. Damit dürften Sie keine Schwierigkeiten bekommen.«

Mabel lächelte traurig. »Ich habe die Zeit, mich darum zu kümmern. Es ist wirklich kein Problem.« Sie machte sich daran, die Schnitte wieder zuzunähen.

Später verließ sie mit dem Schreiben des Coroners, Miss Westrays Schlüsselbund sowie einer Visitenkarte, auf der die Adresse der Verstorbenen stand, das Leichenschauhaus. Die Handtasche und die Pralinenschachtel behielt Doktor Tyner vor Ort. Ob die Pralinen tatsächlich vergiftet worden waren? Wer um alles in der Welt würde etwas so Niederträchtiges tun? Hatte Pauline Westray jemanden so sehr verärgert, dass dieser sich auf mörderische Weise rächen wollte? Oder steckte etwas anderes dahinter? In Gedanken versunken machte sich Mabel an den Rückweg in die Sutherland Street, während ein unangenehmer Nieselregen einsetzte, der ihr Gesicht mit winzigen, kalten Tropfen bedeckte.

Post mortem

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