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Kunstgriff

Egal, was Tamara sich zusammenreimte, es half nichts. Statt in Trauer verfiel sie in einen Zustand, den man wohl `groggy´ nennt. Als es hell wurde, hat sich Roland verabschiedet, was gut war, denn Tamara brauchte das Wohnzimmer. Sie wollte ein Bild malen. Das hat sie oft getan, schon seit ihrer Kindheit, aber heute sollte es ein sehr großes Bild werden. - Vielleicht lag diesem Vorhaben eine unbewusste Motivation zugrunde: nachdem sie erst wenige Wochen zusammen waren, hatte Stelios auf dem Sofa liegend „I love you“ gesagt, während Tamara am Fenster stand und an einem Bild malte. Am Fenster deshalb, weil sie dort das große Holzbrett anlehnen konnte, worauf sie die Leinwand befestigt hatte. - Jetzt suchte Tamara immer noch nach einer brauchbaren Leinwand. Alles war zu klein. Weil sie keine Zeit zum Nachdenken hatte, benutzte sie einen großen Kopfkissenbezug passend für das Bild, das in ihrer Vorstellung aufgetaucht war. Zuerst nahm sie Nadel und Faden und nähte jeweils eine Art Schlinge in die vier Ecken ein, damit sie das Bild später ohne Rahmen aufhängen könnte. Sonst malte sie immer aus der Fantasie, heute ging sie professionell vor. Es musste schnell gehen. Sie wollte, dass es bis zum Abend fertig wird, weil sie etwas Bestimmtes vorhatte.

Tamara bemalte den Bezug zuerst mit diesem gemütlichen Terra Farbton, so wie die Wände vom Restaurant waren. Das machte ihn platt und fest wie eine echte Leinwand. Nie zuvor hatte sie Schablonen ausgeschnitten, um ein Bild zu malen. Schablonen von einem zerbrochenen Herzen, einem Auge, der Iris, der Pupille, sogar von den Wimpern, einer großen Träne und von kleinen Sternen. Als die letzte Farbschicht getrocknet war, zeigte sich auf 80 x 80 cm ein großes Auge mit einer blauen Iris in Anlehnung an Tamaras eigene Augenfarbe und langen, schwarzen Wimpern. Es war rechts oben plaziert. Aus dem Auge floss eine hellblaue Träne mitten in ein zerbrochenes Herz, dessen zwei Teile in der Mitte links und rechts unten in tiefrot gehalten waren. Acht Sterne malte sie in gelb, die links oben funkeln sollten. Einen kleinen Stern malte sie noch in die schwarze Pupille. Um 17 Uhr, also zehn Stunden später, hämmerte sie schnell vier Haken in die Mauer um das Balkonfenster herum. Mithilfe der eingenähten Fadenschlingen spannte sie das Bild dann vor dem Fenster auf. Da würde Stelios es bestimmt irgendwann entdecken, wenn er aus seinem Zimmerfenster zu ihr raufschaute oder wenn er über den Hof ins Lager oder zu den Müllcontainern gehen musste. Der Hinterhof von dem Haus, in dem sich das Restaurant befand, war nur noch durch zwei Häuser ums Eck von der Rückseite des Wohnblocks getrennt, wo Tamara wohnte. Weil der Balkon ihrer Wohnung in diese Richtung, nach Süden lag, konnte sie alles überblicken. Von Stelios aus betrachtet, konnte man ihren Balkon auch ganz gut einsehen, dafür war er wiederum weit genug entfernt.

Daran musste Tamara denken, als sie nur von Wasser und Brotstückchen genährt auf das Sofa in der Küche fiel und eine Art Halbschlaf übte. Weil sie so gut auf sein Fenster sehen konnte und durch den Aufenthalt bei ihm wusste, wieviel er sehen konnte, erinnerte sie sich an gewisse Vorkommnisse: Eifersuchtsszenen hatte es vorher schon gegeben. Nicht nur Stelios war ein leidenschaftlicher und eifersüchtiger Mensch. Das war Tamara auch. Und genauso wie er hatte sie diesen Fluchtreflex und ist einfach weggelaufen. So ist es halt: Es gibt Menschen, die aus Eifersucht nicht mehr normal denken können und schon gar nicht in aller Ruhe darüber sprechen. Wenn es so weit kam, dass beide nicht mehr in der Lage waren, miteinander zu kommunizieren, konnten sie anscheinend auch beide nicht schlafen. Tamara lag dann im Bett und überlegte hin und her, ob sie eine Zigarette auf dem Balkon rauchen soll, ob das vielleicht helfen würde. Dann überlegte sie es sich wieder anders, weil Rauchen wach macht und ist noch fünf Minuten liegengeblieben, bis sie es doch getan hat. Das Eigenartige daran war, dass sie Stelios dann am Fenster auch eine rauchen sah. Sie rechnete nach: Wenn sie nicht so lange überlegt hätte, wäre sie schon längst fertig gewesen, bis er an sein Fenster kommt. Andererseits hatte er Tamara vielleicht in Gedanken gerufen, sich gewünscht, dass sie auf den Balkon kommt. Welche Mystik hier auch immer zur Anwendung gelangte, es war so: Sie stand da und rauchte und er saß am Fenster und rauchte. Sie sahen beide in der Ferne die Glut des Anderen, bis sie fertig waren und alles wieder dunkel wurde. Das waren nicht die einzigen Zufälle. Die ereigneten sich auch tagsüber, wenn Tamara zum Beispiel Wäsche auf dem Balkon aufgehängt oder Betten zum Lüften auf die Balkonstühle gelegt hatte. Stelios kam dann gerade aus dem Lager oder er war auf dem Weg dorthin. Sie sah ihn den Müll wegbringen oder draußen vor der Eisentür eine Zigarette rauchen. In guten Zeiten haben sie sich Handzeichen gegeben oder Küßchen zugeworfen.

Tamaras Sohn Sidney kam heim und forderte das gewohnte Abendessen. Ihr Chef rief an und fragte, warum sie nicht zur Schicht erschienen sei und war sauer. Sie meldete sich gleich krank, wollte am nächsten Tag zum Arzt gehen. Sofort betätigte sie den kleinen Lichtschalter über der Steckdose in Augenhöhe links neben der Balkontür, weil es dunkel geworden war. Dadurch ging eine Lampe an der rechten Mauer des Balkons an, welche das Gemälde perfekt beleuchten sollte, was sie gleich überprüfte. Von Stelios weit und breit keine Spur. Klar, abends war in der Küche die Hölle los. Da konnte er keine fünf Minuten vor die Tür gehen. Sie hatte nichts vorbereitet, nichts eingekauft und ist mit Sidney per Bus ein Stück zu einem Fast Food Restaurant gefahren. Dort erzählte sie ihm, was alles passiert ist. Er hatte selbst so viel zu erzählen, dass er es gar nicht richtig verstanden hat und es sich überhaupt nicht vorstellen konnte. Sein einziger Kommentar war: „Ach ja, wir haben euch kurz vom Fahrrad aus gesehen, als ihr Richtung Park gegangen seid.“ Es nervte ihn, weil seine Mutter genau wissen wollte, wie Stelios und sie in dem Moment ausgesehen hätten. Er sagte nur: „Ganz normal, warum?“ Sie beneidete ihn um seine Naivität. Sie dachte, eigentlich ist es gut, dass er es nicht ernst nimmt. Das hatte eine beruhigende Wirkung, als gäbe es doch noch eine andere, eine heile Welt, von der sie abgeschnitten zu sein schien. Endlich konnte sie sich vorstellen, in ihr Bett zu gehen und wirklich zu schlafen.

Am nächsten Tag ist Tamara mit der U-Bahn und dem Bus zu ihrem Hausarzt gefahren, hat ihm erzählt, was sie getan hatte und verlangte einen Überweisungsschein zum Psychologen plus eine Adresse. Er nannte ihr eine Psychologin etwas weiter weg. Die wollte Tamara nicht. Sie wollte einen Mann, weil der die Männer besser verstünde. Der Arzt fand im Internet einen Psychologen zwei Straßen weiter. Tamara ging sofort los und klingelte bei der Praxis. Der Türöffner wurde betätigt. Sie stieg die vielen Stufen des Altbaus hinauf, kaum noch fähig zu atmen. Ein weißhaariger, sympathischer Mann öffnete eine Wohnungstür. Sie sah, dass er gerade im Begriff war, das Haus zu verlassen, weil er seine Jacke anhatte und sich den Kragen hochzog. „Ja, Sie wünschen?“ fragte er. Sie antwortete: „Ich brauche dringend einen Termin. Ich habe meinen Freund verprügelt!“ „Tja, ich wollte zwar gerade gehen, aber ich glaube, ich habe eine halbe Stunde Zeit“, sagte er sanft und verständnisvoll. Der Psychologe bat Tamara in ein schönes Zimmer mit Samtcouch, Decke und Kissen, zwei Ledersesseln und einem Beistelltisch. An der Wand hingen Gemälde, an der Decke war ein Ventilator. Das Zimmer war klein und hatte einen winzigen Balkon. Während der Psychologe in einem anderen Raum versicherungstechnische Dinge erledigte, versuchte Tamara sich auf einem der Ledersessel zu entspannen. Als sie, nachdem sich der Psychologe in den anderen Ledersessel gesetzt hatte, in seine blauen Augen blickte, strömte eine Lawine der Information über ihre Lippen, so schnell konnte er gar keine Notizen machen. Danach machte sie eine Verschnaufpause. Der Psychologe meinte: „Die Liebe ist groß, aber die Verletzungen sind auch groß.“ Die halbe Stunde war sehr schnell vergangen. Er gab ihr einen neuen Termin mit dem Rat `die Schleusentore zu schließen´. Darüber machte sich Tamara auf der Heimfahrt Gedanken: Schleusentore schließen. Es stimmte, sie war irgendwie außer sich, sie befand sich nicht bei sich, so als wäre ihre Seele rausgehüpft und nicht mehr da, wo sie eigentlich sein sollte, nämlich i n ihrem Körper. Sie musste unbedingt ruhiger werden.

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