Читать книгу Entstellt - Amanda Leduc - Страница 8
Einleitung
ОглавлениеDie Idee zu diesem Buch kam mir passenderweise in einem Wald. Im Sommer 2018 hatte ich das außerordentliche Glück, für ein dreiwöchiges Aufenthaltsstipendium in Hedgebrook auf Whidbey Island vor der Küste von Seattle ausgewählt worden zu sein. Ich arbeitete gerade an einem Roman, und nach einem besonders anstrengenden Tag beschloss ich, auf der Suche nach etwas Aufmunterung in den Wald zu gehen. Neben der Eingangstür meiner Hütte lehnte ein Spazierstock, den ich ohne groß nachzudenken mitnahm, bevor ich mich zum hinteren Teil des Anwesens aufmachte. Irgendwo an seinem nördlichen Ende stand ein Brombeerstrauch, und ich konnte es kaum erwarten, dort ganze Hände voller Beeren zu sammeln.
Während ich so ging, dachte ich darüber nach, wie viel einfacher das Gehen mit dem Stock doch war: ein unbelebter Begleiter, der mir durch die Höhen und Senken des Waldes half. Selbst auf dem gepflasterten Boden in der Nähe meiner Unterkunft war er nützlich. Mit dem Stock in der Hand fühlte ich mich sicher. Er half mir, mein Gewicht beim Wechsel vom einen auf den anderen Fuß auszubalancieren, auf eine Weise, die ich aufregend und überraschend fand.
Heißt das, ich sollte im normalen Leben auch einen Stock benutzen?, fragte ich mich auf dem Weg zu den Brombeeren. Ob das wohl hilfreich wäre? Wie würde sich dadurch die Art verändern, wie ich mich durch die Welt bewege?
In meinem Alltag nutze ich keinen Gehstock. Ich habe eine leichte Zerebralparese und spastische Hemiplegie, und obwohl ich sichtbar hinke, war mein Gleichgewichtssinn in den ersten dreieinhalb Jahrzehnten meines Lebens gut genug, dass ich ohne Hilfsmittel gehen konnte.
Doch mein Blick ist beim Gehen auf den Boden gerichtet – eine Tatsache, die mir überhaupt erst bewusst wurde, als eine Podologin mich vor einigen Jahren darauf aufmerksam machte. Es brauchte noch einige weitere Jahre, bis mir klarwurde, dass ich deshalb auf den Boden sehe, weil er voller Gefahren ist, unberechenbar und launisch: Lücken zwischen Betonplatten, unebenes Pflaster, Risse im Bürgersteig. Wenn ich nicht ständig aufpasse, wohin ich meine Füße setze, ist es so gut wie sicher, dass ich irgendwann stürze.
Ein Stock, überlegte ich, wäre wahrscheinlich hilfreich.
Für viele von uns mit körperlichen Behinderungen kann der Wald ein gefährlicher Ort sein. Es ist aussichtslos, mit einem Rollstuhl zwischen die Bäume fahren zu wollen, wo es keinen deutlich markierten und planierten Weg gibt; selbst mit einem Blindenhund an der Seite ist die Navigation mitunter schwierig. Ich würde wetten, dass der Wald sogar denen Probleme bereitet, deren Behinderung oft als unsichtbar erachtet wird; ein finsterer Ort, voller Gerüche und sensorischer Angriffe, an dem sogar nichtbehinderte Menschen sich verlieren können.
Eine Prinzessin im Rollstuhl hätte wohl ihre Schwierigkeiten, die Brombeeren zu finden, dachte ich, während ich mich durchs Gebüsch schlug. Kurz hielt ich inne und musste lächeln. Eine Prinzessin im Rollstuhl? Wo gibt’s denn so was?
Doch als ich zum Brombeerstrauch durchgedrungen war, konnte ich an nichts anderes mehr denken als an die unbekannte Prinzessin in ihrem Rollstuhl. An die Prinzessin, an die sieben Zwerge, die Schneewittchen geholfen haben, und an Rumpelstilzchen. An die Hässlichkeit des Biests in ›Die Schöne und das Biest‹, an die böse Königin in ›Schneewittchen‹, die sich in eine bucklige Alte verwandelt, an den Prinzen, der erblindet, nachdem die Zauberin Rapunzel aus ihrem Turm entführt hat, an die Prinzessin, die in einen langen, verwunschenen Schlaf fällt. An die Hexe mit der Krücke in ›Hänsel und Gretel‹, an Aschenputtels Stiefschwestern, denen die Tauben die Augen auspicken, und an all die hässlichen Prinzen und Prinzessinnen, die dank ihrer List den Thron erobern und deren Schönheit sich schließlich offenbart oder ihnen geschenkt wird.
Und plötzlich war ich nicht mehr alleine im Wald; plötzlich eröffneten sich all diese Zusammenhänge: Behinderung und Märchen, wie offensichtlich, warum war ich bloß vorher noch nie darauf gekommen?
Daraus musste ein Essay werden, dachte ich mir. Aber zweifellos gab es das bereits, zweifellos war über den Zusammenhang von Märchen und Behinderung schon millionenfach geschrieben worden. Es gab so viel daran, worüber man schreiben konnte. Klügere Leute als ich hatten das sicher schon getan, und zwar gut. Ich labte mich an den Brombeeren, ging zurück zu meiner Hütte und machte mich wieder an meinen Roman.
Doch zwischendurch kreisten meine Gedanken immer wieder um die Momente im Wald. Behinderung und Märchen. Behinderung im Märchen.
Als ich wieder zu Hause war, recherchierte ich ein bisschen und fand erstaunlich wenig zu dem Thema. Überzeugt davon, dass ich etwas übersehen hatte, grub ich etwas tiefer. Bei meinen Grabungen stieß ich auf Ann Schmiesing und ihr wunderbares Buch Disability, Deformity, and Disease in the Grimms’ Fairy Tales. Ich stieß auf Sharon Snyder und David T. Mitchell und ihre Arbeiten über narrative Prothesen, auf den Disability-Forscher Tobin Siebers und auf die fantastische Bandbreite der Forschungen von Jack Zipes.
Und ich kam auch wieder zu den Märchen. So viele düsterere Versionen der Disney-Geschichten, die ich als Kind gekannt hatte – und auch so viele düsterere Elemente in den Disney-Geschichten. Warum war Scar, der Bösewicht aus dem König der Löwen, nur unter der Narbe bekannt, die sein Gesicht zeichnete? Warum jagte mir die Darstellung des »buckligen« Quasimodo Schauer über den Rücken? Warum hatte ich beim Anblick der kleinen Meerjungfrau Arielle, nachdem ihr Beine wachsen und sie an Land kommt, nie mich selbst in ihrer unsicheren Haltung und ihrem Stolpern wiedererkannt?
Warum war es in all den Geschichten über jemanden, der oder die jemand oder etwas anderes sein möchte, immer das Individuum, das sich ändern musste, und nie die Welt?
Entstellt ist mein Versuch, einige der bekannteren westlichen Märchen-Archetypen aus der Perspektive der Behindertenrechtsbewegung zu beleuchten. Wenn wir die Schäden, die diese Archetypen anrichten, überwinden wollen, müssen wir zunächst verstehen, wie sie entstanden sind – warum der entstellte Körper historisch als weniger vollkommen angesehen wurde; warum Märchen, die häufig mit scheinbarem Empowerment assoziiert werden, einen Nährboden für behindertenfeindliche Narrative geschaffen haben; und wie die Anziehungskraft und Wirkmacht dieser Geschichten die Wahrnehmung von Behinderung bis heute beeinflussen.
Um uns das Narrativ von Behinderung zurückzuerobern, müssen wir verstehen, warum Erzählungen wie Märchen von Anfang an so davon fasziniert waren, und warum sie Differenz – und Behinderung – verleumdet haben, um der Welt einen Sinn zu geben.
Einige Anmerkungen. Als jemand, die mit westlichen Märchen und deren Bearbeitungen aufgewachsen ist, beabsichtige ich, sozusagen in meinem Metier zu bleiben und mich in diesem Buch überwiegend auf Märchen und popkulturelle Held*innen zu konzentrieren, die einem westlichen Publikum bekannt sind. Auch wenn ich gelegentlich Märchen aus anderen Kulturen erwähnen werde, um die Verbreitung bestimmter Archetypen zu zeigen, handelt der Großteil dieses Buchs von westlichen Märchen und den zahlreichen modernen Bearbeitungen, die in überwiegend europäischem Kontext aus ihnen hervorgegangen sind. Ich hoffe sehr, dass dieses Buch auch etwas zum Gespräch über Behinderung in Märchen aus anderen Kulturen beitragen kann, und freue mich darauf, mehr darüber zu erfahren.
Es ist mir außerdem wichtig zu betonen, dass es sich bei diesem Buch nicht um ein Werk der Märchenforschung handelt. Meine Absicht ist es, Märchen aus der Perspektive von jemandem zu betrachten, die Märchen immer geliebt, die jedoch den Großteil ihres Lebens in laienhafter Kenntnis damit hantiert hat. Da mich insbesondere die Schnittstellen von Märchen-Narrativen und ihren Archetypen mit der Darstellung von Behinderung interessieren, mag es gelegentlich so scheinen, als würde ich bei meinen Interpretationen Märchen miteinander gruppieren, die traditionell als unterschiedlich gelten (etwa in den Abschnitten über die Brüder Grimm und Hans Christian Andersens ›Kleine Meerjungfrau‹).
Dieses Buch soll auch kein Werk der Behindertenforschung sein. Ich bin eine körperlich behinderte Frau, die zudem mit einer schweren depressiven Störung zu tun hat. Auch wenn ich meine eigenen Erfahrungen nutze, um Märchen und ihren kulturellen Einfluss in der Welt zu untersuchen, ist es weder meine Absicht, für das Feld der Behindertenforschung zu sprechen, noch für alle behinderten Menschen oder für all jene, die sich regelmäßig den Herausforderungen ihrer eigenen psychischen Gesundheit stellen müssen. Behinderung ist keine monolithische Erfahrung – jede behinderte Person hat ihre eigene Geschichte, und wie wir uns in der Welt bewegen, ist ebenso vielfältig und komplex.
Es ist mir außerdem wichtig, anzumerken, dass ich aufgrund meiner Erfahrungen als weiße behinderte Frau über Mehrfachmarginalisierungen innerhalb der Behinderten-Community zwangsläufig nur eingeschränkt Aussagen machen kann. Wir müssen den Geschichten behinderter Menschen aus BIPoC-Communitys (Black, Indigenous and People of Colour) Raum geben, sie anhören und fördern. Die Frage, wie westliche Märchen zu den kolonialistischen und kapitalistischen Strukturen beigetragen haben, die behinderte BIPoC bis heute marginalisieren, sollten alle weißen behinderten Menschen stellen, unabhängig von den Intersektionen innerhalb unserer eigenen Communitys. Ich wünsche mir, dass die in diesem Buch thematisierten Fragen zu Gesprächen darüber beitragen können, wie insbesondere behinderte Menschen aus BIPoC-Communitys durch Märchen beeinflusst und verletzt wurden. Ich hoffe, dass dieses Buch zu den Menschen auf jeweils die Weise spricht, die sie brauchen. Indem ich meine eigene Geschichte erzähle und untersuche, wie Behinderung in einigen der bekanntesten westlichen Märchen funktioniert, hoffe ich außerdem, den Diskurs über die Repräsentation von Behinderung in unseren heutigen Erzählungen voranbringen zu können.
Im Buch verstreut finden sich Konsultationsberichte des ersten Neurochirurgen, der mich operierte, als ich vier Jahre alt war. Ich habe Auszüge aus diesen Berichten eingefügt, weil für mich das Verständnis dessen, was meinen Eltern über meine Behinderung gesagt wurde – und auch dessen, was meine Ärzt*innen sich selbst darüber sagten –, entscheidend ist für mein eigenes Verständnis davon, wie meine Behinderung sich auf mein heutiges Leben auswirkt. Indem ich die Aussagen meines Arztes hier veröffentliche, versuche ich, mir mein eigenes Narrativ zurückzuerobern. Ich möchte dennoch betonen, dass niemand von behinderten Menschen erwarten darf, dass sie ihre Krankenakten mit der Öffentlichkeit teilen. Bei meinen Erfahrungen mit der medizinischen Welt hatte ich großes Glück – und Privilegien –, und mir ist bewusst, dass dies für viele nicht gilt.
Ich habe, während ich Entstellt schrieb, mit vielen behinderten Menschen gesprochen. Sofern es von den Betreffenden nicht anders gewünscht war, nutze ich im Text durchgehend identity-first language. Identity-first language (»behinderter Mensch«) drückt aus, dass die behinderte Identität ein wichtiger Teil dessen ist, was eine Person ausmacht, dass sie untrennbar damit verbunden ist, wie sie sich in der Welt bewegt. Im Gegensatz dazu argumentiert die person-first language (»Mensch mit Behinderung«), dass jemand in erster Linie ein Mensch ist und erst danach jemand mit einer Behinderung. Der allgemeine Konsens unter Behindertenaktivist*innen ist, dass die person-first language, wenngleich sie gut gemeint sein mag, Behinderung und Identität trennt und so die Abwertung von Behinderung, die Vorstellung von Behinderung als etwas Negativem fortschreibt.
Die Behinderungen und Pronomen jeder Person in diesem Buch wurden entsprechend den jeweiligen Wünschen der Betreffenden verwendet.
Ich bin allen dankbar, die ihre Zeit und Expertise mit mir geteilt haben, und hoffe sehr, dass die Untersuchungen in diesem Buch ihnen allen gerecht werden.