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Rationale Dummköpfe: Eine Kritik der Verhaltensgrundlagen der Ökonomischen Theorie I
ОглавлениеIn seinen 1881 erschienenen Mathematical Psychics behauptet Edgeworth1, dass »das erste Prinzip der Ökonomie« darin bestehe, »dass jeder Akteur einzig durch Eigeninteresse angetrieben wird.«2 Diese Sichtweise auf den Menschen hält sich in ökonomischen Modellen hartnäckig. Auch der Grundcharakter ökonomischer Theorie wurde von dieser grundlegenden Prämisse stark beeinflusst. In diesem Essay möchte ich einigen Problemen nachgehen, die von diesem Konzept des Menschen herrühren.
Es sollte Erwähnung finden, dass Edgeworth selbst sich durchaus dessen bewusst war, dass dieses sogenannte erste Prinzip der Ökonomie keineswegs der Realität entspricht. Tatsächlich fühlte er, dass »der konkrete Mensch des 19. Jahrhunderts zu meisten Teilen ein unreiner Egoist, ein gemischter Utilitarist ist«.3 Dieser Umstand wirft die interessante Frage auf, aus welchem Grund Edgeworth dann derart viel Zeit und Talent in die Ausarbeitung einer Untersuchung investiert hat, deren erstes Prinzip er bereits als falsch ansah. In dieser Angelegenheit geht es nicht darum, warum in der Verfolgung allgemeiner ökonomischer Fragen Abstraktionen zur Anwendung kommen sollten (die Art der Untersuchung macht dies unvermeidbar), sondern warum jemand eine Behauptung aufstellen sollte, die er selbst nicht bloß als ungenau, sondern als grundlegend falsch erachtet? Wie wir sehen werden, bleibt diese Frage auch für die moderne Ökonomie von anhaltendem Interesse.
Ein Teil der Antwort, zumindest in Bezug auf Edgeworth, liegt ohne Zweifel in seinem Ansatz, diese Behauptung in jenen bestimmten Arten von Aktivitäten nicht als grundlegend falsch zu verstehen, auf die er, wie er es nennt, »ökonomisches Kalkül« anwendet: (i) Krieg und (ii) Vertrag. Unter der Voraussetzung, dass man »eingesteht, dass in den höheren Bereichen der menschlichen Natur eine Tendenz zu und ein Empfinden nach utilitaristischen Institutionen existiert«, stellt er die rhetorische Frage: »Könnten wir ernsthaft annehmen, dass diese moralischen Überlegungen im Krieg und Handel relevant wären; könnten den kontrolllosen Kern der menschlichen Selbstsucht ausmerzen oder eine bemerkenswerte Kraft ausüben im Vergleich zum Impuls des Eigeninteresses«4? Er interpretiert Sidgwick5 dahingehend, dass dieser mit der »Illusion« aufgeräumt habe, dass »das Interesse aller das Interesse des Einzelnen ist«, und stellte fest, dass Sidgwick die »zwei höchsten Prinzipien – Egoismus und Utilitarismus« als »unvereinbar, es sei denn durch die Religion« verstehe. Es liege »fernab vom Geiste der Philosophie des Glücks, die Wichtigkeit der Religion zu missachten«, schreibt Edgeworth, »doch in der gegenwärtigen Untersuchung, und im Umgang mit den niederen Eigenschaften der menschlichen Natur sollten wir uns um eine eindeutigere Überführung bemühen, einen robusteren Übergang vom Prinzip des Eigeninteresses zum Prinzip oder zumindest zur Praxis des Utilitarismus.«6
Für dieses Argument ist es bedeutsam, den Kontext der Debatte im Auge zu behalten. Edgeworth war der Meinung, dass er für seine Untersuchung die Akzeptanz des »Egoismus« als fundamentale Verhaltensannahme begründet hatte, indem er die Akzeptanz des »Utilitarismus« als Beschreibung des faktischen Verhaltens zerstörte. Natürlich stellt der Utilitarismus bei Weitem nicht den einzigen nicht-egoistischen Ansatz dar. Zwischen den eigenen Ansprüchen und den Ansprüchen aller liegen zudem die Ansprüche einer Vielfalt an Gruppen – zum Beispiel von sowohl Familien, Freunden, lokalen Gemeinschaften und Bezugs- als auch wirtschaftlichen und sozialen Gruppen. Das Konzept der familiären Verantwortung, der Geschäftsethik, des Klassenbewusstseins u. a. gründen in diesen Zwischenbereichen des Interesses, und die Zurückweisung des Utilitarismus als eine deskriptive Verhaltenstheorie lässt nicht nur Egoismus als einzige Alternative zu. Die Relevanz einiger dieser Überlegungen für die Ökonomie der Verhandlungen und Verträge ist schwer von der Hand zu weisen.
Es muss dabei beachtet werden, dass Edgeworths Erforschung der Folgen des ökonomischen Kontakts zwischen eigennützigen Individuen den Verdienst für sich in Anspruch nehmen darf, unmittelbar bedeutend für eine abstrakte Untersuchung zu sein, die bereits seit mehr als 100 Jahren im Gange war und die in den Debatten zwischen Herbert Spencer7, Henry Sidgwick und weiteren führenden Denkern jener Zeit viel diskutiert wurde. Zwei Jahre, bevor Edgeworths Mathematical Psychics erschienen, hatte Herbert Spencer seine ausführliche Analyse der Beziehung zwischen Egoismus und Altruismus in The Data of Ethics veröffentlicht. Er war zu der tröstlichen, wenn auch etwas unklaren Schlussfolgerung gekommen, »dass allgemeines Glück hauptsächlich durch ein entsprechendes Streben aller Individuen nach ihrem eigenen Glück, das Glück der Individuen dagegen zum Theil durch ihr Streben nach dem allgemeinen Glück erreicht werden kann«.8 In Hinblick auf diese recht abstrakte Untersuchung gab Edgeworths strenge ökonomische Analyse, die auf einem wohldefinierten Vertragsmodell zwischen eigennützigen Individuen oder zwei Typen von (identischen) eigennützigen Individuen aufbaut, eine klare Antwort auf eine alte hypothetisch gestellte Frage.
In Edgeworths auf egoistischem Verhalten basierenden Modell schien es eine bemerkenswerte Entsprechung zwischen Tauschgleichgewichten in wettbewerbsfähigen Märkten und dem im modernen ökonomischen Jargon sogenannten »Kern« der Ökonomie zu geben. Ein Ergebnis gilt als sich im »Kern« der Ökonomie befindend dann und nur dann, wenn es eine Reihe an Bedingungen erfüllt, die keine Verbesserung mehr zulassen. Diese Bedingungen beinhalten nicht nur, grob gesprochen, dass niemand bessergestellt werden kann, ohne dass ein anderer schlechtergestellt wird (diese Situation wird »Pareto-Optimum« genannt), sondern auch, dass niemand schlechtergestellt wird, als er ohne Handel gestellt wäre, und dass kein Zusammenschluss von Individuen durch eine Änderung ihrer Handelsumstände untereinander eine Verbesserung der eigenen Stellung erzielen könnte. Edgeworth zeigte, dass unter bestimmten allgemeinen Annahmen jedes Gleichgewicht, das in einem wettbewerbsfähigen Markt entstehen kann, diese Bedingungen erfüllen und im »Kern« sein muss. Somit werden unter der Voraussetzung der unveränderten Verteilung der Güter wie zu Beginn die kompetitiven Marktgleichgewichte in Edgeworths Modell gewissermaßen nicht von irgendwelchen realisierbaren alternativen Ordnungen dominiert. Überraschender war in mancher Hinsicht das gegenteilige Resultat, dass dann, wenn die Anzahl der Individuen jeder Art grenzenlos erhöht wurde, der Kern (welcher solche unkontrollierten Ergebnisse repräsentiert) auf das Set kompetitiver Gleichgewichte schrumpft; das heißt, der Kern würde nicht umfangreicher als das Set der kompetitiven Gleichgewichte. Diese beiden Ergebnisse wurden in jüngerer Literatur zum allgemeinen Gleichgewicht mit ähnlichen Modellen und grundsätzlich denselben Verhaltensannahmen stark ausgearbeitet und erweitert.9
Sich im Kern zu befinden ist allerdings aus Perspektive der Wohlfahrt gesehen an sich keine bedeutsame Leistung. Eine Person, die schlecht ausgestattet beginnt, kann auch nach Geschäftsvorgängen arm und unterprivilegiert bleiben, und wenn im Kern zu sein alles ist, was der Wettbewerb bietet, dann soll der besitzlosen Person verziehen sein, diese Leistung nicht als »Big Deal« anzusehen. Edgeworth nahm dies auch zur Kenntnis, indem er das Problem der Wahl zwischen verschiedenen miteinander im Wettbewerb stehenden Gleichgewichten einbezog. Er beobachtete, dass für die utilitaristisch gute Gesellschaft »der Wettbewerb die Ergänzung durch Willkür benötigt und dass die Basis der Willkür zwischen eigeninteressierten Vertragspartnern den größtmöglichen Gesamtnutzen darstellt«.10 Auf die institutionellen Aspekte einer solchen Willkür sowie deren weitreichenden Auswirkungen auf die Verteilung des Grundbesitzes ging Edgeworth jedoch nicht weiter ein, trotz eines oberflächlich gegenteiligen Anscheins. Auf der Grundlage der Wettbewerbsleistung, wie begrenzt diese auch immer war, fühlte Edgeworth sich »zu einer eher zurückhaltenden Vorsicht in der Reform« berufen. Durch die Einberechnung »des Nutzens prä-utilitaristischer Institutionen« zeigte Edgeworth sich beeindruckt durch »eine Sicht auf die Natur, die nicht, wie das bei Mill hinterlassene Bild, gänzlich schlecht, sondern eine erste Annäherung zum Besten« ist.11
In diesem Essay geht es mir nicht darum, ob diese Annäherung an die Sache eher eine abgelegenere Annäherung ist. (Meiner Meinung nach ist dies selbst innerhalb der Struktur der von Edgeworth aufgestellten Behauptungen der Fall, doch ist dies für die Thematik dieser Abhandlung nicht von zentraler Bedeutung.) Vielmehr geht es mir hierbei um die Sichtweise auf den Menschen, welche einen Teil von Edgeworths Analyse darstellt und mehr oder weniger vollständig in einem Großteil der modernen ökonomischen Theorie aufrechterhalten wurde. Die Sicht ist natürlich stilisiert und spezifisch darauf abgestimmt, einen relativ abstrakten Streit, an dem Spencer, Sidgwick und einige weitere führende zeitgenössische Denker beteiligt waren, zu lösen – nämlich in welchem Sinn und in welchem Ausmaß egoistisches Verhalten zu allgemeinem Wohl führt. Ob egoistisches Verhalten eine angemessene Ansicht der Realität darstellt oder nicht, spielt sicherlich keine tragende Rolle im Zusammenhang mit der Frage nach der Richtigkeit der Antwort, die Edgeworth auf die gestellte Frage gibt. Innerhalb der Struktur eines begrenzten ökonomischen Modells liefert sie eine eindeutige Entgegnung auf die abstrakte Erforschung von Egoismus und allgemeinem Wohl.
Diese spezielle Debatte ist seit langer Zeit geführt worden und bietet weiterhin Anregung für viele neue Betätigungen in Fragen der heutigen ökonomischen Theorie. Die begrenzte Ausrichtung der Untersuchung hat entscheidenden Einfluss auf die Wahl der ökonomischen Modelle sowie auf die Konzeption des Menschen in jenen Modellen. In ihrem bedeutenden Text zur Theorie des allgemeinen Gleichgewichts stellen Arrow und Hahn fest (vi–vii):
Inzwischen gibt es eine lange und ziemlich eindrucksvolle Reihe von Ökonomen, von Adam Smith bis in die Gegenwart, die zu zeigen versuchten, dass eine dezentralisierte, durch Eigeninteresse angetriebene und Preissignale gelenkte Ökonomie kompatibel wäre mit einer kohärenten Einteilung wirtschaftlicher Ressourcen, welche, in einem wohldefinierten Sinn, einer großen Klasse an möglichen alternativen Einteilungen überlegen gesehen werden kann. Die Preissignale würden außerdem dazu dienen, den Grad der Kohärenz zu begründen. Es ist wichtig zu verstehen, wie überraschend dieser Ansatz für jemanden sein muss, der nicht der Tradition ausgesetzt war. Die unmittelbare Common-Sense-Antwort auf die Frage »Wie wird eine Ökonomie aussehen, die von individueller Gier motiviert und von einer großen Anzahl verschiedener Akteure kontrolliert wird?« lautet wahrscheinlich: Es wird Chaos herrschen. Die Tatsache, dass eine durchaus andere Antwort lange als wahr proklamiert wurde und damit das ökonomische Denken vieler Menschen, die keineswegs Ökonomen waren, prägte, bietet einen ausreichenden Grund dafür, um hier ernsthaft nachzuforschen. Da die These aufgestellt und mit Nachdruck vertreten wurde, ist es nicht nur wichtig zu wissen, ob sie wahr ist, sondern auch, ob sie wahr sein könnte. Ein nicht geringer Teil des Folgenden richtet sich an diese Frage, welche bedeutende Ansprüche auf die Aufmerksamkeit der Ökonomen zu haben scheint.
Das Hauptinteresse liegt hier nicht auf der Frage, ob die postulierten Modelle und die reale ökonomische Welt einander entsprechen, sondern ob solche Antworten auf wohldefinierte Fragen mit vorausgewählten Annahmen, die das Wesen der zur Analyse zugelassenen Modelle gravierend einschränken, richtig sind. Ein spezifisches Konzept des Menschen ist in der Fragestellung an sich tief verwurzelt, und solange man noch mit der Beantwortung der Frage beschäftigt ist, besteht keine Möglichkeit, von diesem Konzept abzuweichen. In diesen gängigen ökonomischen Modellen stellt die Natur des Menschen eine kontinuierliche Reflektion der besonderen Formulierungen bestimmter allgemeiner Fragestellungen dar, die in der philosophischen Vergangenheit gestellt wurden. Die Frage, ob die gewählte Konzeption des Menschen tatsächlich realistisch ist, ist dabei schlicht und einfach kein Thema dieser Untersuchung.