Читать книгу Die Drachenprinzessin, Band 2 - Ambros Chander - Страница 6
Das Erwachen
ОглавлениеEmma schreckte schweißgebadet hoch. Ihr Herz raste von diesem Traum.
Erinnerungen, sagte eine Stimme in ihr.
Sie versuchte sich zu beruhigen und sich daran zu erinnern, was passiert war und vor allem, wo sie war. Sie sah sich um, während ihr Kopf weiterhin versuchte, Erinnerungen abzurufen.
Sie war durch den Spiegel gegangen.
War sie das wirklich oder glaubte sie es nur? Das hier war zumindest nicht ihr Zuhause und auch nicht ihr Bett. Obwohl, Bett? Ineinander verschlungene Zweige und mit Blättern bewachsene Äste bildeten ihr Lager. Gebettet war sie auf herrlich duftendem Moos. Auch sonst war an dem Raum und seiner Einrichtung nichts Künstliches zu entdecken. Alles war …
Natürlich, meldete sich wieder die Stimme in ihrem Kopf.
Emma fasste sich an die Schläfen, schloss die Augen und versuchte, sich an weitere Details der Geschehnisse zu erinnern.
Was war dann passiert?
Ein Bild tauchte vor ihrem geistigen Auge auf. Riesige braune Augen, die sie freundlich, fast liebevoll ansahen. Nur dass diese Augen zu etwas noch Riesigerem gehörten.
Drache! Wieder diese Stimme in ihrem Kopf.
Energisch schüttelte Emma den Kopf. Sie wollte die abstrusen Gedanken und diese Stimme abschütteln. Langsam erhob sie sich und sah sich in dem Raum um. All das kam ihr vor wie ein Traum. Zweige, Äste und Blätter überall um sie herum. Der Raum bestand aus nichts anderem. Ihr Blick wanderte zur Decke und ihr stockte der Atem.
Baumkronen!
Diese verdammte Stimme. Konnte sie nicht mal für fünf Minuten ruhig sein? Emma ging zu der Aussparung, die ihr vorhin aufgefallen war und in der sie eine Art Fenster vermutete. Vielleicht konnte sie durch einen Blick nach draußen herausfinden, wo sie sich befand. Als sie am Fester angekommen war und gerade hinausschauen wollte, schob sich ein massiger weißer Kopf mit einem riesigen Maul voll spitzer Zähne in ihr Blickfeld. Emma stieß einen gellenden Schrei aus, woraufhin der Kopf und somit der Drache, dem dieser gehörte, zurückschreckte.
Faennarthan war untröstlich. Er hatte sie doch nicht erschrecken wollen. Er hatte ihre Angst und Unsicherheit gespürt und deshalb im Geist mit ihr Kontakt aufgenommen. Er wollte ihr helfen, all dies besser zu verstehen. Er war so froh, dass sie nun hier war. Endlich hatten die Jahre der Suche für ihn ein Ende. Nun fühlte er sich endlich vollständig, nun, da er wusste, dass sie heimgekehrt war. »Was ist los?«, hörte Emma plötzlich eine Stimme hinter sich. »Aemiliana, ist alles in Ordnung mit dir?«
Diese Stimme. Emma kannte sie, doch all das passte nicht zusammen. Emma drehte sich um und sah in das Gesicht ihrer Freundin. Doch irgendwie schien diese verändert. »Sophie?«, fragte Emma ungläubig. »Bist du das?« »Ja, Aemiliana«, begann sie und hob beschwichtigend die Hände. »Doch in dieser Welt heiße ich Meridiana.«
Emma wich zurück, als Meridiana sich ihr langsam näherte. Ihr Herz begann zu rasen und schlug ihr bis zum Hals. Irgendetwas stimmte hier nicht. Ganz und gar nicht! Sie betrachtete die Frau, die vor ihr stand. Die Frau, die sie für ihre Freundin gehalten hatte. Sie sah so anders aus. Ihre Kleidung in warmen Braun- und Grüntönen, ein Lederwams, welches sich an sie schmiegte wie eine zweite Haut. So hatte sie etwas Kriegerisches an sich. Denn auch das Messer an ihrer Hüfte und der Bogen und der Köcher mit Pfeilen, die sie über die Schulter gehängt auf dem Rücken trug, waren Emma nicht entgangen.
Was zum Teufel war hier bloß los? Wurde sie langsam verrückt? Oder war das alles bloß ein böses Spiel, das jemand mit ihr trieb? Emma war verunsichert und die Stimme in ihrem Kopf, die versuchte, beschwichtigend auf sie einzureden, machte es nicht einfacher, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Es war der Drache, der mit ihr sprach. Sie wusste es, hatte es in dem Augenblick gewusst, als sein Kopf in der Fensteröffnung erschienen war. Am liebsten wäre sie einfach davongerannt, wäre es nur irgendwie möglich gewesen. Doch hinter ihr war der Drache und vor ihr stand Sophie.
Meridiana, berichtigte die Stimme in ihrem Kopf. »Hör auf damit!«, schrie sie aufgebracht und drehte sich zur Fensteröffnung, in der nun wieder der riesige weiße Kopf zu sehen war. Sie funkelte den Drachen wütend an, doch dieser blickte nur traurig zurück. Emma hatte die Nase gestrichen voll. Sie wusste absolut nicht, was hier los war, aber ihre anfängliche Angst schlug nun in Wut um. Sie fürchtete, dass man sie ganz gewaltig auf den Arm nahm. Und das machte sie sauer. Stinksauer! Und doch wusste ein Teil von ihr es besser …
Plötzlich veränderte sich etwas. Die Anspannung im Raum, die eben noch greifbar gewesen war, verschwand. Sie wich einer sanften Ruhe, die bis in Emmas Innerstes strömte. Ihr Puls und Herzschlag verlangsamten sich und auch ihr Atem wurde ebenmäßig und ruhig, als ein hochgewachsener, schlanker Mann mit langem schlohweißem Haar den Raum betrat. Emma starrte fassungslos zu ihm hinüber, doch sie blieb noch immer absolut ruhig. Vor ihr stand ihr Therapeut und zugleich der Mann aus ihrem Traum, dem die Frau das kleine Bündel entgegengestreckt hatte.
Dich!
Emma warf dem Drachen einen resignierten Blick zu und schüttelte den Kopf. Und wieder …
Tut mir leid!
Sie sah dem Drachen kurz und ruhig in die Augen und ein Erkennen überkam sie. Emma seufzte und sah dann wieder zu dem Mann mit dem schlohweißen Haar zurück, der genauso bewegungslos dastand wie in ihrem Traum. Er hatte darin keine Anstalten gemacht hatte, das Bündel
…sie, korrigierte sie sich nun selbst, entgegenzunehmen.
Sie wusste, dass dies Wirklichkeit war, hatte es in ihrem Traum mit erschreckender Klarheit gewusst.
»Mein Name ist Vásíphel«, sagte er nun. Seine Stimme war wie das Rascheln des Laubes im Wald, wenn der Wind wie ein Flüstern durch die Bäume weht. »Setz dich bitte!«
Emma ging zu dem Lager, auf dem sie eben noch gelegen hatte, und ließ sich darauf nieder. Alle Anspannung schien mit einem Mal von ihr gewichen zu sein und die eben noch empfundene Wut und Verwirrung waren von einer inneren Ruhe hinweggespült worden. Emma hatte das Gefühl, dass dies nicht von ungefähr passierte, sondern dieser Mann dafür verantwortlich war.
Sie saß da, ließ die Schultern hängen und lauschte dem, was er ihr nun erzählte. Er begann seine Geschichte mit einem Königspaar, das eine Tochter hatte, Aemiliana. Ihr Glück war perfekt, doch eines Tages starb die Königin völlig unerwartet.
Die genauen Umstände und die Rolle, die er selbst darin gespielt hatte, verschwieg Vásíphel. Er war noch nicht bereit, sich dem zu stellen, zumindest nicht ihr gegenüber.
Er fuhr fort, die Geschichte von Aemiliana zu erzählen. Davon, wie der König sich eine neue Frau nahm und wie diese ihren Mann so manipulierte, dass er seine eigene Tochter töten lassen wollte. Ein wehrloses Kleinkind von gerade mal einem Jahr. Doch dieses Kind hatte Glück, denn es hatte einen persönlichen Schutzengel. Seine Amme Catríona, die ehemalige Zofe der ersten Königin. Catríona wollte das Kind in Sicherheit bringen und lief mit ihm davon. Doch die neue Königin, Morla, schickte ihre Schergen hinter ihnen her, um ihren bösartigen Plan zu Ende zu bringen.
»Sie rannte durch einen Wald, der immer dichter wurde«, murmelte Emma leise vor sich hin, während sie zu Boden starrte. Ihr Traum lief noch einmal vor ihrem geistigen Auge ab. »Und dann traf sie …« Emma hob den Kopf und sah Vásíphel an, der sie anlächelte. »Mich«, beendete er ihren Satz. »Und bat mich um Hilfe.« »Aber du hast ihr nicht geholfen«, sagte Emma. Es war kein Vorwurf, nur das nüchterne Benennen einer Tatsache.
Vásíphel sah sie unverwandt an, noch immer dasselbe Lächeln auf dem Gesicht, das zuvor auf Emma so beruhigend gewirkt hatte. »Habe ich nicht?«
Er warf die Frage in den Raum und die Erkenntnis traf Emma blendend hell wie ein Blitz. »Das Licht!«, sagte sie.
Vásíphel nickte nur. »Das Licht öffnete ein Tor in eine andere Welt, aus der du nun zurückgekehrt bist, Aemiliana.« Seine Augen blickten sie freundlich an und Emma hielt seinem Blick stand. Sie wusste, worauf er hinauswollte. Und so unwirklich, so unglaublich es sich auch anhörte, tief in ihrem Innern fühlte sie doch, dass er die Wahrheit sagte.
Sie war Aemiliana!
»Ich wusste, dass Morla nicht aufhören würde, nach dir zu suchen«, fuhr Vásíphel fort. »Auch, dass sie dich finden würde, wenn du in dieser Welt bleiben würdest. Also schickte ich dich fort, zusammen mit deiner Amme. Damit du leben und erwachsen werden konntest, bis du schließlich zurückkehren und die Prophezeiung erfüllen würdest.« »Welche Prophezeiung?«, fragte Emma. Vásíphel setzte die Geschichte fort und erzählte, wie Morla in all den darauf folgenden Jahren Angst und Schrecken verbreitet und den Tod über das Land gebracht hatte. Er erzählte Emma von der Prophezeiung der Elfen, die gewoben worden war, lange bevor Morla an die Macht kam und auch lange bevor Aemiliana das Licht der Welt erblickte.
Die rechtmäßige Erbin des Drachenthrons, Sie kehrt schon bald zurück. Sie floh in die andre Welt davon. Doch getrübt, so ist ihr Blick. Sie weiß nichts von ihrem wahren Ich, Hat sich auf ihr neues Leben eingestellt. Doch fühlt sie so einsam sich, In der für sie so fremden Welt. Der Wolf wird sich mit dem Drachen paaren, Und bricht damit den Bann. Das bringt Frieden nach all den Jahren. Wenn sie ihn denn lieben kann. Doch ist der Wolf in die andre Welt gereist, So lausche still und gib gut Acht, Denn alles verlangt doch seinen Preis. Mit unaufhaltsam großer Macht. Für den Tod ein Leben, Damit bleibt das Gleichgewicht. Einer muss es geben, Das verhindern lässt sich nicht!
Er ließ die alten Worte wirken und beobachtete seine Tochter genau. Dann führte er die Geschichte zu Ende und offenbarte ihr, dass sie dazu auserkoren sei, das Land von Morlas Schreckensherrschaft zu befreien und wieder Frieden nach Laingladhdôr zu bringen.
Doch das war zu viel für Emma. Ihr schwirrte der Kopf von alldem. Sie musste hier raus. Als sie aufstand, war sie äußerlich ruhig, doch in ihrem Innern wütete ein Orkan. »Ihr irrt euch«, sagte sie nur. »Ich bin nicht die, für die ihr mich haltet.« Mit diesen Worten wandte sie sich zum Gehen. »Aemiliana!«, rief Meridiana und wollte sie aufhalten. »Nicht«, warf Vásíphel ein. »Lass sie gehen.« »Aber sie muss doch …«
»Gar nichts muss ich!« Scharf klangen die Worte der Frau, die bis vor kurzem noch Meridianas Freundin gewesen war und von der so viel abhing. »Und ich heiße Emma, nicht Aemiliana!« Sie drehte sich um und rannte aus dem Raum, die Stufen hinunter. Sie bemerkte nichts von der Idylle und Zauberhaftigkeit ihrer Umgebung. Nahm nicht wahr, dass sie sich im Innern eines riesigen Baumes den Weg nach unten bahnte und auch nicht, wie friedlich und ruhig alles um sie herum war. Denn sie war alles andere als das. Sie war aufgewühlt, durcheinander und konnte nicht begreifen, was hier gerade passierte. Mit ihr passierte. Und das machte ihr Angst. Eine Angst, die ihre eisigen Klauen in sie schlug und sie dazu brachte davonzurennen.
Ja, davonrennen, dachte sie. Das kannst du wirklich gut.
Doch sie rannte weiter, von ihrer Furcht getrieben, bis sie schließlich nicht mehr konnte. Erschöpft hielt sie an und stützte sich an einem Baum ab. Sie rang nach Atem, als sie das Plätschern von Wasser vernahm. Sie lauschte dem Geräusch und nahm noch etwas anderes wahr. Stimmen, die sie flüsternd zu rufen schienen. Sie lauschte weiter und merkte kaum, dass sie sich bewegte. Sie ging vorwärts und setzte einen Fuß vor den anderen, bis sie schließlich eine kleine Lichtung erreichte. Magisch angezogen, steuerte sie darauf zu und blieb vor einer Felsformation stehen. In einem natürlich entstandenen Becken sammelte sich das Wasser einer Quelle, die weiter oben im Fels entsprang. Oben auf dem Felsen stand eine riesige Esche, deren Äste sich über das ganze Land auszubreiten schienen. Sie kannte diesen Ort, hatte ihn schon einmal gesehen. In einem Traum. Die Wasseroberfläche hatte ihr in einem Bild gezeigt, wie sie durch ihren Spiegel in diese Welt ging. Genau so, wie sie es am Ende auch getan hatte.
Aemiliana schloss die Augen und lauschte den Geräuschen um sich herum. Dem Plätschern der Quelle und dem Flüstern im Wind. Doch jetzt war da noch etwas anderes. Ein leises, monotones Surren. Sie öffnete ihre Augen wieder und versuchte das Geräusch zu lokalisieren. Sie blickte am Felsen hinauf zu der riesigen Esche und sah dort drei Frauen in langen, dunklen Kapuzenumhängen. Die Frau links hielt eine Waagschale, die sich ungleich neigte. Die Frau auf der rechten Seite saß an einem Spinnrad, mit dem sie weiße Fäden spann, die wie Nebel in alle Winde verstreut wurden. Von ihr kam das leise Surren, das Aemiliana gehört hatte. Doch die Frau in der Mitte war es, die sie in ihren Bann zog. Sie trug einen mit schwachroten Zeichen verzierten Umhang, dessen Kapuze sie tief ins Gesicht gezogen hatte. Ihre linke Hand hielt sie mit der Innenfläche nach oben. Darüber schwebten in einem Halbkreis sieben kleine ovale Steine. Nur schwach konnte Aemiliana erkennen, dass auf ihnen etwas abgebildet war. Abwechselnd traten alle sieben Steine in die Mitte des Halbkreises, einer nach dem anderen. Parallel dazu zeichneten sich auf dem Umhang der Frau leuchtende Zeichen in feurigem Rot ab. Zu jedem Zeichen sprach sie ein Wort. Immer nur eines, aber alle hörten sich für Aemiliana seltsam an.
Ansuz!
Kenaz!
Hagalaz!
Eihwaz!
Perthro!
Algiz!
Tiwaz!
»Wir sind die Nornen, auch Schicksalsschwestern genannt«, sprach die Frau Aemiliana nun direkt an. »Das Schicksal, das deine Zukunft bestimmt, wurde bereits vor langer Zeit von meiner Schwester Urd gesponnen. Meine Schwester Skuld wägt deine bisherigen Taten und deine Schuld ab. Mein Name ist Verdandi. Ich sehe mit Hilfe der Runen das, was ist, und das, was sein kann.« Aemiliana hörte wie gebannt auf ihre Worte und rührte sich nicht. »Ansuz steht für den Verstand und die Weisheit«, fuhr Verdandi fort. »Kenaz steht für das Licht, das dich aus dem Dunkel führt und deinen Weg beleuchten wird. Hagalaz steht für die Verbindung zwischen Gut und Böse. Eihwaz steht in Verbindung mit Yggdrasil, dem Weltenbaum, den du hinter uns siehst, und bildet die direkte Verbindung zwischen Leben und Tod. Perthro verknüpft die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft miteinander. Algiz wird dir den Schutz durch höhere Wesen gewähren. Tiwaz steht für Selbstaufopferung und Kampfbereitschaft, um ein höheres Ziel zu erreichen. Die Runen weisen dir den Weg, doch gehen musst du ihn selbst! Dabei wirst du Hilfe brauchen, aber auch Freunde, sonst wirst du scheitern.«
Nebel wallte auf und hüllte Yggdrasil und die Schicksalsschwestern ein. Als der Nebel sich legte, waren sie verschwunden. Nur der Baum, die Quelle und Aemiliana blieben zurück.
Aemiliana hörte hinter sich ein Rascheln und seufzte resigniert. »Was willst du hier?«, fragte sie, ohne den Blick nach hinten zu wenden. »Verschwinde!« Sie brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer hinter ihr stand. Sie fühlte es und war daher nicht überrascht oder gar erschrocken, als sie sich schließlich doch umdrehte und in große, warme, braune Augen sah. Der Drache!
Dein Drache! Dein Freund!
Wieder hörte sie die Stimme in ihrem Kopf. »Ich hab dir vorhin schon gesagt, dass du damit aufhören sollst«, sagte sie und entfernte sich ein Stück von ihm. »Geh weg und lass mich in Ruhe!«
Das kann ich nicht, hörte sie die prompte Antwort, ohne dass sie diese wirklich hörte.
Er tapste unbeholfen hinter ihr her, folgte ihr in geringem Abstand.
Wir sind verbunden, du und ich, fuhr er fort. Du spürst es auch. Deshalb hast du keine Angst vor mir.
Aemiliana blieb stehen, drehte sich um und sah ihn an. Er lief weiter auf sie zu, bis sie nur noch wenige Zentimeter voneinander trennten. Dann erst hielt er inne. Aemiliana betrachtete ihn. Sein Kopf war riesig, seine Zähne furchteinflößend. Doch er hatte recht. Sie verspürte keine Angst. Und er hatte auch recht damit, dass da etwas zwischen ihnen war. Etwas in ihr ließ sie fühlen, dass sie sich vor ihm nicht fürchten musste. Mit einer unerklärlichen Gewissheit wusste sie, dass er ihr niemals etwas antun würde. Mehr noch. Sie wusste, dass er sein Leben für sie geben würde.
Aemiliana seufzte und setzte sich an den Fuß eines Baumes. Tapsig und unbeholfen kam er zu ihr und legte sich direkt vor sie, die riesigen Vorderpranken übereinandergelegt, den Kopf aufrecht und den Blick sanft auf sie gerichtet.
Du bist verwirrt, begann er erneut. Doch du weißt, dass alles wahr ist. Du fühlst es.
Sie sah in seine schönen braunen Augen, die so viel Wärme ausstrahlten, und wieder überkam sie dieses Gefühl von Zuhause.
Du musst noch so vieles erfahren, damit du verstehst, wie wichtig es ist, dass du dich deiner vorherbestimmten Rolle stellst, fuhr er fort.
Dann erzähle es mir, sagte sie, nun auch nur im Geiste, während sie in seinen Augen versank. Erzähle mir alles!
Und Faennarthan begann, ihr die ganze Geschichte zu erzählen. Ihre Geschichte.
Die Tür flog auf und Kegan schreckte von dem Lager hoch, welches man ihm zugewiesen hatte. Wider Erwarten war er doch eingeschlafen und blickte nun schläfrig drein. Daher dauerte es einen Moment, bis ihm dämmerte, wer da vor ihm stand. Es war Iain, König von Lucglénnos und Burgherr von Wolffshall, der ihn mit grimmigem Schweigen anstarrte. Wollte er ihn nun doch noch töten? Kegan zitterte und Angst begann in ihm aufzusteigen. Den Brief in des Königs Hand sah er erst, als dieser nun das Wort ergriff. »Du wirst Morla nun meine Antwort überbringen.« Der Blick, mit dem Iain den Rotschopf bedachte, war vernichtend.
Kegan erhob sich und ging zögernd auf Iain zu. Mit zittrigen Händen nahm er den Brief und ging vorsichtig an Iain vorbei. Noch immer befürchtete er, man könne ihm den Garaus machen, wenn er sich zu sicher fühlte.
Als er in den Burghof hinaustrat, stand einer der Krieger von Wolffshall schon bereit und hielt sein Pferd am Zügel. Langsam ging er zu ihm und stieg auf. Der Krieger ließ die Zügel los und Kegan trieb das Tier vorwärts. In ruhigem Schritt bewegte er sich auf das Tor zu, das sich bereits mit einem Knarren für ihn öffnete. Seine Augen zuckten nervös hin und her und er behielt die Krieger auf den Zinnen im Blick, die ihre Bögen im Anschlag hielten. Er konnte es immer noch nicht fassen, dass er heil aus dieser Angelegenheit herauskommen sollte und er würde es vermutlich auch erst dann wirklich begreifen, wenn er in Sicherheit war.
Er ritt durch das Tor und aufs Feld hinaus, auf Morlas Armee zu. Der Körper von Madwegdaw hob sich noch immer dunkel von der weißen Winterlandschaft ab.
Als Kegan sein Pferd schließlich anhielt, kam ihm schon ein wilder Orluk grunzend entgegengesprungen. Kegan wagte nicht, sich zu rühren oder vom Pferd zu steigen. Er traute diesen Kreaturen nicht, hatte er doch schon zu viel von dem Grauen gesehen, welches sie imstande waren anzurichten. Bedrohlich stand der Orluk neben seinem Pferd, das nervös zu tänzeln begann, als ein alter, buckliger Mann mit langem weißem Haar und einem ebenso langen und ebenso weißen Bart aus der Menge hervortrat. Kegan wusste genau, wer er war. Maendier, ein schmieriger kleiner Wicht, dem Morla geringe Zauberkräfte übertragen hatte. Nicht so viele, dass er für sie eine Gefahr darstellen würde, aber doch ausreichend, dass er als ihr verlängerter Arm agieren konnte. Er selbst jedoch hielt sich für den größten Magier aller Zeiten und schmiedete insgeheim Pläne, Morla zu stürzen. Doch er würde scheitern, denn sie würde sich seiner entledigen, wenn sie ihn nicht mehr brauchte. So, wie sie es immer tat.
Ohne ein Wort zu sagen, streckte Maendier seine Hand vor Kegan aus, um die Nachricht in Empfang zu nehmen. Zögernd übergab dieser sie dem Magier, während er den Orluk, der noch immer neben seinem Pferd stand, nervös und misstrauisch beobachtete. Alles an ihm strahlte Aggressivität und Bedrohung aus. Morlas Orluks waren aufs Kämpfen und Töten ausgerichtet. Das war alles, was sie konnten, und darüber hinaus auch etwas, das sie brauchten. Schon lange Zeit hatten sie ihre Natur nicht mehr ausleben können, deshalb waren sie unberechenbar. Kegans Furcht war also durchaus berechtigt.
Maendier begann vor sich hin zu murmeln. Nebel wallte vor ihm auf und Morlas Gesicht erschien. »Hast du die Antwort?«, fragte sie ungeduldig. »Ja, Gebieterin«, antwortete Maendier unterwürfig. »Dann lies vor!« Morla war zum Zerreißen gespannt. Es war spürbar, obwohl sie nicht direkt anwesend war.
Maendier faltete den Brief auseinander und begann zu lesen.
Morla, auch ich will Frieden für mein Volk. Deshalb willige ich ein. Doch sei gewarnt. Solltest du eine Hinterlist planen, wird meine Rache fürchterlich sein. Iain
Morla lachte verächtlich. »Was könnte er schon ausrichten?«, sagte sie mehr zu sich selbst. »Aber sei's drum, mein Plan geht auf. Also zieht euch zurück!« Ihr Abbild verblasste und der Nebel löste sich auf.
»Ihr habt es gehört«, sagte Maendier an die Orluks gewandt und ein wütendes Gebrüll erhob sich, denn sie fühlten sich um ihren Kampf betrogen. Maendier wusste, dass er gegen die Übermacht der Orluks nichts ausrichten könnte, sollten sie sich gegen ihn wenden. Daher nickte er dem Orluk neben Kegans Pferd leicht zu. Es war nur eine leichte Kopfbewegung, doch Kegan hatte sie bemerkt. Er ahnte, was sie zu bedeuten hatte und was ihm bevorstehen würde, wenn er nicht ganz schnell eine Entscheidung träfe. Also riss er die Zügel herum und wendete sein Pferd so hart, dass es zuerst stieg und dann im gestreckten Galopp davonpreschte. Nun erhob sich Gebrüll unter den Orluks und Bewegung kam in die Menge, als sie ihm nachsetzten. Kegan trieb sein Pferd immer stärker an, doch sein zuerst gewonnener Vorsprung schwand schnell.
Ein Brüllen ließ die Erde erbeben, als Madwegdaw sein Maul weit aufriss. Der Drache breitete seine Schwingen aus und schwang sich in die Lüfte. Wütend spie er Feuer, als er über die wilde Horde hinwegflog. Die ersten Orluks hatten den Jungen schon erreicht. Einer von ihnen brachte sein Pferd zu Fall. Er stürzte sich darauf und verbiss sich voller Mordlust in dessen Flanke. Kegan fiel aus dem Sattel und rollte einige Meter über den Boden. Er versuchte sich aufzurappeln, doch er ging immer wieder in die Knie. Mehrere Orluks scharten sich um das Pferd und rissen das arme Tier nun brüllend in Stücke. Ein anderer setze gerade zum Sprung auf den Jungen an. Doch ein Feuerstrahl aus Madwegdaws Rachen löschte die Kreatur auf der Stelle aus. Kegan warf einen Blick über die Schulter, während er auf allen Vieren zu entkommen versuchte. Er sah die brennende Gestalt, die nun reglos am Boden lag. Er wusste nicht, ob er sich darüber freuen sollte. Denn durch Madwegdaws Feueratem zu sterben, war keine wirkliche Alternative. Doch er hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, denn schon packten ihn die riesigen Pranken des Drachen und er wurde in die Luft gehoben. Er war so starr vor Angst, dass er noch nicht einmal mehr schreien konnte.
Iain stand auf den Zinnen und beobachtete die Szenerie durch das Fernrohr seiner Mutter. Was für ein furchtbares Schicksal, dachte er, als er sah, wie ein einzelner Reiter aus Morlas Armee ausbrach und die Horde ihm brüllend nachsetzte. Er erkannte den Jungen, der ihm Morlas Botschaft überbracht hatte, und empfand tiefes Mitgefühl für ihn. Insbesondere, da nun Madwegdaw in den Kampf eingriff, was das Schicksal des Jungen besiegeln würde. Als der Drache einen Orluk niederstreckte und den Jungen packte, war für Iain klar, dass Madwegdaw ihn als Beute für sich beanspruchte.
Er wollte den Blick abwenden, wollte den Tod des Jungen nicht mit ansehen. Doch etwas an Madwegdaws Verhalten war merkwürdig und ließ ihn stutzig werden. Wenn er den Jungen für sich als Beute beanspruchte, warum hatte er ihn dann nicht mit dem Maul statt mit den Pranken gepackt? Er hätte ihn mit einem Mal verschlingen können, doch das hatte er nicht getan. Auch flog er nun auf Wolffshall zu. Die Sehnen der Bogenschützen auf den Zinnen spannten sich schon, um einem Angriff des Drachens entgegenzutreten.
Durch das Fernrohr sah Iain Madwegdaws gequälten Blick. »Nicht schießen!«, rief er. Doch zu spät. Als der Drache tiefer kam, ließen die Bogenschützen ihre Sehnen los und die Pfeile flogen surrend in den Nachthimmel hinauf. Am Rumpf des Drachens prallten sie ab, wie Spielzeuge, doch sie durchbohrten die dünne Haut seiner Flügel. Auch seine einzige ungeschützte Stelle wurde von einem Pfeil getroffen. Eine Stelle in seinem Nacken wurde nicht wie der Rest seines Körpers von Panzerplatten bedeckt. Er hatte sie seinen Angreifern präsentiert, als er rücklings an den Zinnen vorbeiflog und nun ragte dort ein Pfeil hervor. Madwegdaw stürzte rücklings zu Boden. Im freien Fall legte er seine Flügel schützend um den Körper des Jungen, bis er schließlich mit einem lauten Krachen auf dem Boden aufschlug und eine tiefe Furche in die Erde zog. Wie gebannt starrten alle auf den Drachen, der wie ein riesiger Berg vor den Mauern von Wolffshall lag. Ein Berg, der sich rhythmisch bewegte. Auf und ab. Auf und ab.
Auch Iain starrte für eine Weile regungslos hinab, bis er sich endlich wieder gefasst hatte. Er warf seiner Mutter das Fernrohr zu, noch während er die Treppen hinunterrannte, in der Hoffnung Madwegdaw retten zu können. Marcellus vielleicht…, dachte er.
Doch als er bei dem Drachen angekommen war und in seine trüben Augen blickte, wusste er, dass es zu spät war. Noch atmete er, doch mit jedem schwachem Atemzug entwich ihm ein Pfeifen. Iain wusste, es würde nicht mehr lange dauern, bis dieses mächtige Wesen seinen letzten Atemzug tun würde.
Iains Eiswolff war ihm gefolgt und stand nun neben ihm. Auch er betrachtete Madwegdaw. Seinen Freund! Seinen Bruder! Sie beide waren verschieden und dennoch von der gleichen Art, magische Geschöpfe, zum Schutz der Menschen auf dieser Welt. Doch wer beschützte sie?
Andächtig ging Edan ganz nah an Madwegdaw heran und berührte mit seiner Schnauze ganz sanft die des Drachen. Noch einmal blinzelte Madwegdaw, bevor das Licht in seinen Augen endgültig erlosch und Edans Geheul die Nacht erfüllte.
Iain starrte auf den Koloss, der vor ihm lag. Er konnte es nicht glauben. Doch was war das? Einer der Flügel des Drachen bewegte sich. Nur ganz leicht zuerst, dann immer mehr. Hoffnung stieg in Iain auf. Sollte Madwegdaw doch noch am Leben sein? Es wäre ein Wunder, aber schon oft geschah Unerwartetes.
Der Flügel hob sich leicht vom Boden ab und Kegan kam darunter hervorgekrochen. Er schien etwas benommen, aber unverletzt. Iain starrte ihn ungläubig an. Madwegdaw hatte dem Jungen das Leben gerettet. Derselbe Drache, der all die Jahre Zerstörung über das Land gebracht hatte. Doch auch wenn er viel Leid verursacht hatte, so wusste doch jeder, dass Madwegdaw nicht aus eigenem Antrieb so handelte. So schmerzte es Iain sehr, dass es nun so enden musste. Auch Edan trauerte um Madwegdaw, denn er war sein Bruder und auch seine Taten änderten nichts daran.
Kegan rappelte sich langsam auf. Seine anfängliche Benommenheit wich nun blankem Entsetzen, als er in Iains Gesicht blickte. »Bitte schickt mich nicht zurück«, flehte er. »Wenn ihr mich zurückschickt, werden sie mich töten.« Er sah Iain an, dessen Gesicht keine Regung zeigte. Es herrschte absolute Stille und als Iain sich umwandte, dachte Kegan, dass er ihn einfach seinem Schicksal überlassen würde. »Komm«, sagte Iain im Gehen.
Das ließ sich Kegan nicht zweimal sagen. Er beeilte sich, dem König von Lucglénnos zu folgen. Am Tor angekommen, warf dieser einen Blick zurück über die Schulter. Auch Edan, der noch immer bei Madwegdaw saß, wendete den Blick Iain zu. Ein letztes Mal berührte er die Schnauze des Drachen mit der seinen. Zum Abschied. Dann lief er auf die Burg und das Tor zu, wo Iain auf ihn wartete, während Kegan bereits hineingegangen war.
Edan blieb neben Iain stehen. Sanft berührte der Eiswolff die Hand seines Freundes und sah zu ihm auf. Sein Blick war so traurig. Beide gingen stumm hinein und das Tor wurde hinter ihnen geschlossen.
Im selben Augenblick wurde das Feld vor der Burg in gleißendes Licht getaucht. Drei Elfen erschienen. Einer von ihnen stach mit seinem langen schlohweißen Haar besonders heraus. Vásíphel Deldúwath! Jeder kannte ihn und auch die anderen beiden Elfen waren den Menschen bekannt. Fornósûl Beor war ein Elf, der nicht besonders gut auf die Menschen zu sprechen war, auch das wusste jeder. Doch Calolorn Vanyar bildete als Dritte im Bunde das perfekte Gegenstück dazu. Sie war eine feinfühlige und besonnene Elfenfrau, wohingegen Fornósûl aufbrausend und unbeherrscht war. Vásíphel einte beider Gegensätze durch seine Weisheit. Zusammen bildeten sie den Elfenrat, der über wichtige Belange der Elfen, aber auch die anderer magischer Wesen beriet, Entscheidungen fällte und diese umsetzte. So wie jetzt. Die Elfen positionierten sich im Kreis um Madwegdaw.
Wie gebannt beobachteten die Bewohner von Wolffshall von den Zinnen aus das Ritual, das nun vollzogen wurde. Auch Iain hatte sich inzwischen dort eingefunden und blickte gespannt hinab.
Worte der Elfensprache durchbrachen die seit Madwegdaws Tod herrschende Stille, als die drei nun ein Klagelied anstimmten. Heute war ein schwarzer Tag, der schwärzeste seit Morlas Herrschaft. Noch nie hatten die Elfen den gewaltsamen Tod eines magischen Geschöpfs beklagen müssen. Und noch nie hatte eines von ihnen diesen selbst gewählt. Es wurde Zeit, dass sich das Blatt wendete, und Vásíphel wusste, was er als nächstes zu tun hatte. Doch zunächst galt es, seiner Pflicht als Mitglied des Elfenrates nachzukommen.
Der letzte Ton ihres Klageliedes verklang und Madwegdaw erhob sich ein letztes Mal in die Luft. Sein Körper schwebte zwischen den Elfen in leuchtend grünes Licht getaucht. Schlaff hingen seine sonst so starken Pranken und seine riesigen Flügel herab. Ein letztes Wort erklang.
Eden!1
Nebel hüllte das Schauspiel und seine Beteiligten ein. Noch immer waren die Augen der Menschen auf die Szene gerichtet, die sich vor den Mauern ihrer Burg abspielte. Sie versuchten den Nebel mit ihren Blicken zu durchdringen, doch sie sahen nichts. Nichts als das leuchtend grüne Licht. Als es verblasste und sich der Nebel langsam lichtete, war das Feld leer. Die Elfen waren verschwunden, ebenso Madwegdaw. Nur die tiefe Furche, die der Drache bei seinem Absturz in die Erde gezogen hatte, zeugte davon, dass sie je da gewesen waren.