Читать книгу Die Drachenprinzessin, Band 2 - Ambros Chander - Страница 7
Wer sonst?
ОглавлениеIn der großen Ahnenhalle saßen sie alle zusammen. Salérimä Aanon, der Elfenrat und Nálani. Selbst die Trolle und die Zwerge hatten einen der ihren abgesandt, um an dieser Versammlung teilzunehmen. Die Geschehnisse um Madwegdaw erforderten, dass sie handelten, mehr denn je. »Sie wird die richtige Entscheidung treffen!«, versuchte Vásíphel den Versammelten zu versichern. »Das kannst du nicht mit Bestimmtheit sagen«, ergriff nun Nálani das Wort. »Sie ist nicht hier. Wo ist sie denn, wenn sie doch so genau weiß, was auf dem Spiel steht?«
Die anderen nickten zustimmend. »Die Vermählung meines Sohnes Iain mit Morlas Tochter Gale ist die einzige Möglichkeit, um dem Land, den Menschen und allen Geschöpfen, die darin leben, endlich Frieden zu bringen«, fuhr sie fort. »Die einzige sichere Möglichkeit.« »Also willst du deinen Sohn Morla ausliefern?«, fragte Salérimä ungläubig. »Denn genau das wird es sein!« »Von wollen kann keine Rede sein«, antwortete Nálani. »Außerdem hat er die Entscheidung getroffen und sie ist ihm schwer genug gefallen. Ich werde nicht zulassen, dass ihr ihm falsche Hoffnungen macht!« Nálani hatte sich von ihrem Platz erhoben und ihr Ton war schärfer gewesen, als beabsichtigt. Sie atmete tief durch, um sich wieder zu beruhigen. »Es tut mir leid, aber die Entscheidung ist gefallen.« Mit diesen Worten verließ sie den Raum. Auch die anderen Versammlungsteilnehmer erhoben sich und wanden sich zum Gehen. Zurück blieben die Königin und der Elfenrat.
Vásíphel konnte es Nálani nicht verdenken. Er selbst war sich gar nicht so sicher, welche Entscheidung Aemiliana am Ende tatsächlich treffen würde. Er wusste noch nicht einmal, wo genau sie jetzt war. Fornósûl und Calolorn entschwanden in Nebelschwaden, während Salérimä auf ihren Bruder zuging und ihm die Hand auf die Schulter legte. Sie sagte nichts. Keine Worte hätten Vásíphel die Last nehmen können, die er trug. Auch Salérimä verließ den Raum und er blieb allein zurück. Er setzte sich am Fuß des Thrones nieder, auf dem eigentlich er hätte sitzen sollen. Er dachte darüber nach, ob er seine Entscheidung von damals bereute. Ob er sich wünschte, er hätte eine andere getroffen. Wie so oft schon in all den Jahren, die seither vergangen waren. Und wieder einmal stellte er fest, dass er froh war, nicht auf diesem Thron zu sitzen. Er fühlte sich dem nicht gewachsen. Immer noch nicht. Mit Andreana an seiner Seite hätte er es wohl geschafft. Doch ohne sie, ohne ihre Liebe, die ihn gestärkt und geleitet hätte, wäre er kein guter König gewesen.
Vásíphel erhob sich und ging hinaus. Er lief durch die Wälder von Laeg Eryn. Sein Ziel war das Ufer der Elfeninsel. Er hätte die Distanz mit Magie überwinden können, doch er wollte den Weg auf ganz normale, menschliche Art zurücklegen. Den Blick schweifen lassen, seine Welt in sich aufnehmen in all ihren Einzelheiten. Doch was er sah, machte ihn traurig. Die Veränderung, das langsame Sterben war so spürbar wie nie, selbst hier. Am Ufer angekommen, setzte er sich auf den Platz, an dem er immer saß. Ein Stein, den die Sonne erwärmte. Früher hatte er an einem anderen Ort gestanden, in Dracobéria an einem Fluss. Auf ihm hatte er damals mit Andreana gesessen und ihre Herzen hatten zueinandergefunden. Die Erinnerung daran war noch immer so präsent wie eh und je. Wie er ihre Hand hielt, während sie ihren Kopf an seine Schulter legte. Wie sie kein Wort sprachen und sich doch verstanden. Und wie er ihr mit einem kleinen bisschen Magie ein Lächeln ins Gesicht zauberte, als er das herzförmige Blatt einer Birke in einen kleinen, zarten Schmetterling verwandelte. Ein Lächeln, so bezaubernd, und er würde es nie wieder sehen. Nach Andreanas Tod hatte er sich diesen Platz erschaffen. Er hatte den Ort nachgebildet, an dem sie sich immer getroffen hatten. So hatte er das Gefühl, sie wäre noch immer bei ihm.
Sein Herz schmerzte unglaublich, als er auf den See Lim Hen hinausstarrte, der die Insel umgab. So oft war er hierher gekommen, hatte an Andreana gedacht und sich seinem Schmerz und seiner Einsamkeit hingegeben.
Doch dieses Mal war er nicht allein. Ein Drache lag im seichten Wasser. Seine Schuppen schimmerten wie Feuer und sein Blick war starr, aber er atmete. Die Elfen hatten ihm ein neues Leben geschenkt. Ein Geschenk für das Opfer, welches er gebracht hatte, bereit gewesen war, zu bringen. Er hatte sein Leben gegeben, damit das sinnlose Töten endlich ein Ende nähme.
Alle glaubten, seine Entscheidung sei voller Edelmut und völlig selbstlos gewesen. Doch der Drache selbst fühlte sich elend, denn er hatte Verrat geübt. Vielleicht hatte er dadurch viele Leben gerettet, aber seinen Freund König Natháir hatte er im Stich gelassen. Durch seinen, wenn auch nur vorübergehenden Tod war das Band getrennt worden, doch seine Freundschaft zu ihm verblasste nicht. Aber er wusste nicht, was Morla tun würde. Ohne die Verbindung zu seinem Drachen war der König nutzlos für sie. Vielleicht hatte er mit seiner Entscheidung das Schicksal seines Freundes besiegelt.
Vásíphel ging zu dem Drachen hinüber und setzte sich vor ihn ans Ufer. Er sagte nichts, denn er sah Madwegdaws Schmerz. Dieser war ganz deutlich an der Färbung seiner Schuppen zu erkennen. Sie pulsierten in allen Nuancen des Feuers und schienen tatsächlich zu brennen, denn große Hitze ging von dem massigen Körper aus. Der Schmerz hatte sein inneres Feuer entzündet, welches er sonst nur in äußerster Not einsetzte. Es brannte mit einer solchen Intensität, dass selbst das kühle Wasser des Sees es kaum mildern konnte.
Auch Magie hätte Madwegdaw nicht helfen können. Käme er in die Nähe von Bäumen oder Häusern, würde er alles sofort in Flammen setzen. Deshalb lag er hier im Wasser, um keinen Schaden anzurichten. Die Elfen hatten ihm das Leben geschenkt, doch ein wirkliches Leben war das nicht. Er hatte sterben wollen, als er auf die Burg zugeflogen war, denn er ertrug den Schmerz einfach nicht mehr.
Vásíphel spürte ihn, bevor er ihn sah. Faennarthan landete neben Madwegdaw und legte den Kadaver eines Rehs vor ihm ab, doch der Drache rührte ihn nicht an. Vorsichtig schob Faennarthan das Reh näher an Madwegdaws Maul heran. Auch der Blick des weißgoldenen Drachen war von Trauer durchzogen. Sie waren Brüder und der Schmerz, den Madwegdaw nun fühlte, war bis vor kurzem noch sein eigener gewesen. Da erst bemerkte Vásíphel sie. Aemiliana saß auf dem Rücken ihres Drachen. Mit einer Selbstverständlichkeit, als hätte sie nie etwas anderes getan. Ihr Blick war auf Madwegdaw gerichtet. Es lag mehr Mitgefühl darin, als Vásíphel je gesehen hatte. Langsam ließ sie sich vom Rücken ihres Drachen gleiten, der sich so flach auf den Boden gelegt hatte, wie es ging. Sie näherte sich Madwegdaw, der ursprünglich der Drache ihrer Mutter gewesen war. Doch als Andreana starb, hatten die Elfen das Band erneuert. Es musste immer mindestens einen Drachen in Dracobéria geben und da Aemiliana noch zu jung war, um die Verbindung mit ihrem Drachen zu vollziehen, hatte Natháir dieses Geschenk erhalten. So etwas kam nur sehr selten vor und brachte meist auch nichts Gutes, was man an der Geschichte von Madwegdaw ganz deutlich sehen konnte. Denn die Kinder aus dem Königshaus von Dracobéria waren stärker als die anderer Häuser von Laingladhdôr. So war auch nur der Bund zwischen ihnen und einem Drachen absolut rein. So rein, dass er selbst durch dunkle Magie nicht vergiftet werden konnte.
Madwegdaw wendete den Kopf ab, als er Aemiliana sah. Er erkannte sie und wusste sofort, wer sie war. Um so mehr erfasste ihn Scham darüber, ihren Vater, seinen Freund, im Stich gelassen zu haben und seine Schuppen flammten noch stärker auf. Doch Aemiliana ließ sich davon nicht beeindrucken. Sie ging um den Kopf des Drachen herum, bis sie wieder in seinem Blickfeld stand.
Nun sah er sie traurig an, hielt ihrem Blick aber stand. Aemiliana ging weiter auf ihn zu, bis sie nur noch wenige Zentimeter voneinander trennten. Sie streckte die Hand nach Madwegdaw aus.
Vásíphel stand da und beobachtete sie. Stolz erfüllte ihn, als Aemiliana ihre Hand auf die Nüstern des Drachen legte. Ja, sie war die Drachenprinzessin. Die, welche die Prophezeiung beschrieb. Jeden anderen hätte die Hitze verbrannt, die Madwegdaw ausstrahlte. Mehr noch. Das Feuer, das in ihm loderte, schien schwächer zu werden, als sie ihn berührte. Auch die feuerrote Färbung seiner Schuppen verblasste langsam. Er selbst lag immer noch reglos im Wasser, die Augen geschlossen. Sein Atem ging ruhig. Auch Aemiliana hatte die Augen geschlossen. Vásíphel war sich sicher, dass sie sich im Geiste mit ihm unterhielt. Dass sie versuchte, ihm den Schmerz zu nehmen, indem sie ihm die Vergebung zuteilwerden ließ, die er so dringend brauchte.
Nach einer Weile ließ sie ihre Hand sinken und ging auf Vásíphel zu. Madwegdaw kam aus dem Wasser ans Ufer und legte sich neben Faennarthan.
Vásíphel stand nun Aemiliana gegenüber, blickte in ihre Augen, die denen ihrer Mutter so ähnlich waren, und fühlte sich der Worte beraubt. So oft hatte er diesen Augenblick herbeigesehnt. So oft hatte er sich überlegt, was er ihr wohl sagen würde. Doch nun schien ihm nichts davon richtig. »Ich kenne diesen Ort«, begann Aemiliana und ging zu dem Stein hinüber, auf dem Vásíphel eben noch gesessen hatte. Sie ließ sich darauf nieder und fuhr mit der Hand über die raue Oberfläche. »Hier habt ihr euch getroffen, meine Mutter und du.« Sie sah Vásíphel an. »Und ich weiß auch, wer du bist … Vater.« Ruhig und entspannt sah sie ihm in die Augen, doch ihr Gesicht verriet nichts.
Vásíphel ging zu ihr und setzte sich neben sie. »Woher weißt du das?«, fragte er. »Hat Faennarthan es dir erzählt?« Auch er war ruhig. Nun war der Moment da. Der Moment, der ihm zeigen würde, ob er damals richtig gehandelt hatte. Ob seine Tochter seine Entscheidung verstehen oder ihn dafür hassen würde. Er zwang sich, sie anzusehen, auch wenn er fürchtete, dass ihre Reaktion ihm das Herz zerreißen würde.
»Nein.« Aemiliana schüttelte den Kopf. »Meine Träume haben es mir verraten. Jede Nacht, immer wieder Bruchstücke, die nun einen Sinn ergeben.« Aemiliana ging zu einer Birke hinüber und flüsterte. »Gwilwileth.«
Ein Blatt fiel vom Baum. Doch bevor es den Boden berührte, verwandelte es sich in einen Schmetterling, klein und zart mit schwarzen Flügeln, die im Sonnenlicht wie ein Regenbogen schimmerten. Er flatterte scheinbar ziellos durch die Luft, bevor er sich neben Vásíphel auf dem Stein niederließ. Der Schmetterling breitete die Flügel aus und genoss die Wärme der Sonnenstrahlen.
»Du sprichst die Elfensprache?«, fragte Vásíphel überrascht. Wieder schüttelte Aemiliana den Kopf. »Auch dieses Wort habe ich in meinem Traum gehört.« Langsam ging sie wieder zu dem Stein hinüber. Sachte hielt sie ihre Hand dem Schmetterling entgegen, der sich nicht lange bitten ließ. Er schlug mit den Flügeln und landete auf ihrer Hand. Aemiliana setzte sich wieder, ohne dass der Schmetterling davonflog. Sie hielt den Blick fest darauf gerichtet, während sie ihrem Vater von ihren Träumen erzählte. Von den schönen, doch auch von den schrecklichen, die sie aus dem Schlaf rissen.
Vásíphel hörte zu und betrachtete sie dabei. Sie war ihrer Mutter so ähnlich. Nicht nur äußerlich, auch sonst erinnerte ihn vieles an ihr an Andreana. Sie hatte denselben scheuen Blick, dasselbe Verstehen und Akzeptieren der Dinge. Und dieselbe Stärke, auch wenn Andreana sich nie für stark gehalten hatte. Selbst das hatte Aemiliana mit ihrer Mutter gemeinsam. »Renio!«, sagte Aemiliana und der kleine schwarze Schmetterling flog davon. »Ich habe Angst«, wandte sie sich nun an Vásíphel. »Was ist, wenn sich die Prophezeiung irrt?« »Eine Prophezeiung irrt sich nie«, antwortete er. »Das stimmt wohl«, erwiderte Aemiliana. »Aber sie kann unterschiedlich gedeutet werden, oder nicht? Was ist, wenn ihr sie falsch gedeutet habt?« »Das ist natürlich möglich. Aber du bist hier und wenn du die Prophezeiung nicht erfüllst …«
»… wer sonst.“, seufzte Aemiliana. Doch es war mehr eine Feststellung als eine Frage. »Dann lass uns gehen.« Sie erhob sich und war schon auf halbem Weg zu Faennarthan, als sie sich noch einmal umdrehte.
Bevor sie etwas sagen konnte, lächelte Vásíphel und verschwand in Nebelschwaden. Auch Aemiliana lächelte, als sie zu den beiden Drachen hinüberging. Der Rehkadaver war verschwunden und sie meinte, für einen kurzen Moment ein verlegenes Lächeln bei Madwegdaw gesehen zu haben. Es konnte aber auch nur das Spiel von Licht und Schatten gewesen sein. Sie ging zu ihm hinüber und strich ihm noch einmal über seine Nüstern. Madwegdaw stieß mit einem kurzen Schnauben kleine Flammen daraus hervor, die an Aemilianas Hand züngelten. Doch sie verbrannten sie nicht.
Faennarthan stieß sie sanft, beinahe zärtlich von hinten an die Schulter.
Wir müssen gehen!
Aemiliana sah ihn amüsiert an, ohne ein Wort zu sagen.
Fliegen, verbesserte er sich und grinste dabei, was auf einen Fremden eher bedrohlich gewirkt hätte. Doch Aemiliana grinste zurück und stieg schließlich über seine Pranke hinauf auf seinen Rücken. Auch Madwegdaw erhob sich. Beide Drachen breiteten ihre Flügel aus und erhoben sich in die Luft. Eine ganze Weile flogen sie nebeneinander her. Aemiliana schloss die Augen und ließ sich treiben. Sie vertraute Faennarthan, so schwer das für ihren Verstand auch zu fassen war.
Plötzlich stieß Madwegdaw ein Brüllen aus, so dass sie erschrocken die Augen aufschlug. Noch immer flogen beide Drachen nebeneinander her. Beide völlig ruhig, doch Aemiliana spürte, dass sich etwas geändert hatte. Noch einmal brüllte Madwegdaw und Faennarthan erwiderte seinen Ruf, bevor sich ihre Wege schließlich trennten.
»Wo fliegt er hin?«, fragte Aemiliana. Faennarthan antwortete nicht, sondern drehte nur den Kopf zu ihr um. Aemiliana rollte mit den Augen. »Ist ja gut.« Wo fliegt er hin? Sie wiederholte ihre Frage in Gedanken. Geht doch! erhielt sie nun auch Antwort. Faennarthan wandte den Kopf wieder nach vorn. Er fliegt zur Dracheninsel, der Insel der freien Drachen. »Die Insel …« Wieder drehte er sich zu ihr um und runzelte leicht die Stirn. Tut mir leid, grinste Aemiliana. Auch Faennarthan konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, bevor er wieder nach vorn schaute.
Also, was ist die Insel der freien Drachen? setzte Aemiliana das Gedankengespräch mit ihrem Drachen fort. Die Insel der freien Drachen liegt an einem Ort, den niemand kennt, begann Faennarthan die Geschichte. Dort finden alle Drachen ein Zuhause, wenn die Verbindung zwischen ihnen und ihrem menschlichem Partner getrennt wird. Also wenn der Mensch stirbt. Dann sind sie frei und tun das, was jedes Lebewesen tut.
Das da wäre?, fragte Aemiliana etwas verwirrt. Der Drache blickte diesmal nicht nach hinten, sondern schmunzelte nur schelmisch. Aemiliana musste kichern, weil sie nicht gleich darauf kam, was er meinte.
Einen Partner suchen und für die nächsten Generationen von Drachen sorgen, fuhr er fort. Oder dachtest du, die Drachen, die mit deiner Familie seit Jahrhunderten eine Verbindung eingehen, fallen vom Himmel?
Das klingt einleuchtend, meinte Aemiliana. Doch etwas passte an Faennarthans Geschichte nicht. Sie überlegte und dann fiel es ihr auf. Wenn niemand weiß, wo die Insel liegt …
Faennarthan unterbrach sie. Niemand weiß es, doch ein jeder Drache spürt es instinktiv, nachdem die Verbindung getrennt wurde. Es ist wie ein Rufen, ein Pulsieren in seinen Adern.
Hast Du es auch gespürt, nachdem ich … Aemiliana verstummte. Sie wusste nicht, wie sie sich ausdrücken sollte. Sie fühlte Traurigkeit, doch es war nicht ihre eigene, sondern die des Drachen. Sie dachte schon, er würde dazu nichts sagen, als er eine ganze Weile schwieg.
Halt dich fest, sagte er schließlich und Aemiliana hatte kaum Zeit dazu, denn er setzte fast im selben Augenblick zum Sinkflug an. Wahnsinnig schnell näherten sie sich dem Boden und sie hatte Mühe sich festzuhalten. Der Wind zerrte an ihrem Haar und ihre Augen begannen zu brennen. Sie hatte keine Angst, aber sie spürte seinen Schmerz wie ihren eigenen. Er war grenzenlos und sie bekam eine Vorstellung davon, was Faennarthan während der ganzen Jahre ihrer Abwesenheit erlitten hatte.
Kurz über dem Boden bremste er ab und richtete sich auf. Er schlug mit den Flügeln, um die Geschwindigkeit zu verringern, und landete sanft auf seinen Hinterbeinen auf einer kleinen Lichtung inmitten des langsam sterbenden Waldes. Er legte sich flach auf den Boden, damit Aemiliana hinabgleiten konnte. Er blieb liegen, suchte nur eine bequemere Position und schlug die Vorderpranken wieder übereinander. Den Kopf legte er darauf ab. Aemiliana setzte sich im Schneidersitz vor ihn. Ganz nah, so dass sie ihn berühren konnte, wenn er es brauchte. Sie sagte nichts und wartete einfach nur, bis er bereit war, ihr zu erzählen, was sie im Grunde schon spürte.
Unsere Verbindung wurde nie vollzogen und auch nie getrennt, begann er. Und doch waren wir füreinander bestimmt. Ich fühlte mich, als fehlte ein Teil von mir, doch ich wusste nicht, was es war. Ich bin auf der freien Insel aufgewachsen, doch ich war anders. Ich gehörte dort nicht hin. Noch nicht! Ich fühlte mich dort so fremd, so dass ich umherzog. Immer auf der Suche, ohne genau zu wissen, wonach.
Faennarthan verstummte. Er brauchte auch nichts weiter zu sagen. Aemiliana kannte das so gut und verstand genau, wie er sich fühlte. Sie stand auf. Faennarthan hob den Kopf, so dass sie über seine starken Pranken klettern konnte. Sie suchte sich einen bequemen Platz und lehnte sich an sein linkes Bein. Er senkte den Kopf wieder, wodurch der Platz für Aemiliana zwar kleiner wurde, sie sich aber ganz nah waren. Sie veränderte ihre Position und schmiegte sich an seine warme Schnauze, die viel weicher war, als sie erwartet hatte.
Das kenne ich nur zu gut, mein Freund, dachte sie schließlich. Doch nun können wir beide aufhören zu suchen, denn wir sind vereint. Und wir sind …
… zu Hause, beendete er ihren Gedanken mit einem tiefen Seufzen.
Er mochte es, den Wind zu spüren. Wie ein sanftes Streicheln fuhr er über seine Schuppen, kühl und beruhigend. Noch immer spürte er sein inneres Feuer. Es brannte nach wie vor sehr intensiv, trotz der Linderung, die Aemilianas Vergebung ihm gebracht hatte. Doch mit jedem Flügelschlag und mit jedem weiteren Streicheln des Windes wurde es schwächer. Er war nun ein freier Drache und steuerte seine letzte Heimat an. Ein innerer Kompass zeigte ihm den Weg. Dennoch würde ein Teil von ihm nie wirklich frei sein, sondern dem nachtrauern, was er zurückgelassen hatte.
Immer höher flog er und das Land unter ihm war nur noch schemenhaft zu erkennen. Braune Flächen wechselten sich ab mit gelben oder grünen, manche durchzogen von grauen Streifen. Äcker, Felder, Wälder und Gebirge ließ Madwegdaw hinter sich, während er sich der Küste im Norden von Laingladhdôr näherte. Dort angekommen, landete er sanft am Strand. Der Sand wurde durch seinen Flügelschlag wild aufgewirbelt. Noch einmal blickte er zurück auf das Land, das so lange Zeit sein Zuhause gewesen war, und ein tiefes Gefühl der Traurigkeit überkam ihn.
Irgendwann kehre ich zurück, mein Freund!
Mit diesem Gedanken erhob er sich erneut in die Luft und flog aufs offene Meer hinaus, der Insel der freien Drachen entgegen.
Aemiliana ging langsam voran. Sie bahnte sich ihren Weg durch die Welt, die jetzt die ihre war, schon immer ihre gewesen war. Sie wusste es, hatte es gewusst, seit sie hier angekommen war. Zu Beginn hatte sich ein Teil von ihr dagegen gesperrt. Ihr Verstand. Er hatte es ihr schwer gemacht, all das hier anzunehmen, ihr Schicksal anzunehmen. Doch etwas hatte sich geändert. Sie fühlte zunehmend, statt zu denken. Ihre Verbindung mit Faennarthan gab ihr ein unbeschreibliches Gefühl. Ein Gefühl, richtig zu sein. So lief sie durch den Wald und sog die Luft tief ein. Sie roch nach Erde, Moos und Frische. Mit jedem Atemzug, den Aemiliana von diesem Gemisch in sich aufnahm, wurde sie entspannter. Ein tiefes Gefühl innerer Ruhe breitete sich in ihr aus. Noch nie hatte sie so empfunden. Stets war sie getrieben durch ihr Leben gegangen, immer auf der Suche. Inzwischen wusste sie, wonach sie gesucht und dass sie es gefunden hatte. Ihren Seelenpartner Faennarthan.
Er war weit entfernt, schwang sich hoch oben durch die Luft und berührte die Wolken. Aemiliana hatte sich von ihm auf einer kleinen Lichtung absetzen lassen, nachdem sie Laeg Eryn erreicht hatten. Sie wollte diese Welt, ihre Welt, mit all ihren Sinnen wahrnehmen. Doch sie spürte ihn, als wäre er ganz nah bei ihr. Sie sah, was er sah, und er teilte ihren Blick. Sie nahm alles in sich auf und fühlte sich, als würde sie mit dieser Welt verschmelzen. Es war nicht so, dass diese Welt sie einfach verschluckte, vielmehr wurde sie ein Teil des Ganzen. Mit jedem Schritt mehr, der sie zur Ahnenhalle führte.
Aemiliana trat aus dem Wald heraus auf die große Lichtung vor der Halle und Faennarthan landete im selben Moment neben ihr. Sie ging zu der kleinen Schwarzweide hinüber, in deren Baumkrone ein kleiner Kristall zu schweben schien. Nur noch wenige Blätter wuchsen an den Ästen des kleinen Baumes und selbst diese waren tiefschwarz und ihre Ränder wölbten sich bereits. Bald würden auch sie abfallen und dann wäre es zu Ende. Laingladhdôr wäre tot, ebenso wie dieser Baum und viele andere. Faennarthan hatte ihr die ganze Geschichte erzählt und Aemiliana wusste, was sie tun musste. Sanft legte sie ihre Hände auf die dünnen Zweige, beschützend, eine rechts, eine links und der Kristall glomm grün auf. Ganz schwach nur, doch sie konnte es sehen. Der Kristall pulsierte wie ein Herzschlag, der jedoch immer schwächer wurde.
Sie wandte sich von der Trauerweide ab und das Licht erlosch. Entschlossen, mit jedem Schritt federnd stieg sie die Treppe aus dünnem Wurzelgeflecht hinauf und betrat die Halle.
Salérimä saß auf ihrem Thron, ihr Bruder neben ihr. Stumm saßen sie dort und doch wusste Aemiliana, dass sie sich unterhielten. Die beiden so dort sitzen zu sehen, brachte Aemiliana zum Lächeln. Familie. Ihre Familie! Ja, sie war tatsächlich endlich zu Hause.
»Schön, dass du zurückgekommen bist, Aemiliana«, begann Salérimä. Vásíphel schwieg. Seine Schwester war die Königin und ihr oblag es, das Wort an seine Tochter zu richten. Er hingegen würde schweigen, hatte er doch alles gesagt, was er sagen konnte. Nun lag es an Aemiliana, eine Entscheidung zu treffen, und er fühlte unendlichen Stolz, als er sie sah. Alles an ihr zeigte absolute Entschlossenheit. Er fühlte, wie ihre Entscheidung ausgefallen war, mehr als dass er es wusste. Oft hatte er sie in der anderen Welt beobachtet, in die er sie damals geschickt hatte. Immer hatte sie so traurig und verloren gewirkt. So zerbrechlich! Nur ein schwaches Glimmen in ihr verriet damals schon, wer sie wirklich war und was sie eines Tages leisten würde. Nur für die, die mit dem Herzen sahen, war es zu erkennen. Doch von ihrer früheren Zerbrechlichkeit war nun kaum noch etwas zu sehen. Mit stolz erhobenem Haupt stand sie vor ihnen und wirkte wie eine der ihren. Nun war die Zerbrechlichkeit nur noch wie ein Hauch in ihrem Innern wahrzunehmen. Aber sie IST wahrzunehmen, dachte Vásíphel.
»Ich habe viel nachgedacht«, ergriff nun Aemiliana das Wort. »Habe viel gehört und gesehen. Und gefühlt!« »Und du hast eine Entscheidung getroffen«, meldete sich Vásíphel nun doch zu Wort.
Aemiliana sah ihn an. Ihr Gesicht war regungslos. Nichts daran verriet, was sie wirklich dachte. »Ja!«, sagte sie. »Ich werde mich meinem Schicksal stellen und tun, was auch immer getan werden muss!«
Iain saß im Burggarten auf einer der steinernen Bänke vor dem Brunnen, in dem die heiße Quelle sprudelte. Die Sonne ließ den gläsernen Berg in seiner Mitte in bunten Farben erstrahlen. Der Anblick hätte jeden in Verzückung versetzt, doch nicht so Iain. Nicht in diesem Moment. Sein Herz wog schwer wie Blei, denn seine Vermählung stand bevor. Er würde die Drachenprinzessin zur Frau nehmen. Wie lange hatte er diesen Augenblick herbeigesehnt. Doch es war die falsche. Die falsche Prinzessin würde bald an seiner Seite weilen. Iain zerriss es das Herz, denn er liebte Aemiliana und nicht Gale, die kaum halb so alt war wie er. Er musste sein Volk von Zerstörung und Tyrannei befreien, da war kein Platz für Liebe. Liebe ist ein Luxus, der nur den Armen vorbehalten ist, hatte seine Mutter zu ihm gesagt. So weh es auch tat, sie hatte recht.
Edan gab ein leises Winseln von sich. Der Eiswolff fühlte den Schmerz seines Freundes und legte den Kopf auf Iains Bein ab. Es war vollkommen ruhig um die beiden. Nicht einmal die Blätter der Bäume raschelten und auch die Vögel schienen verschwunden zu sein, obwohl sie sonst zu Hunderten in den Ästen der Pfirsichbäume zwitscherten. Doch nun herrschte absolute Stille. Nur das Plätschern des Brunnens war zu hören. Iain und Edan waren ineinander versunken, teilten sich ihre Seelen und den Schmerz. Eine ganze Weile saßen sie da und der Eiswolff war es, der bemerkte, dass sie nicht mehr allein waren. Doch nichts an ihm zeugte von Abwehr, was Iain zeigte, dass er den heimlichen Beobachter kannte. Auch er wusste, wer sich zwischen den Bäumen verbarg.
»Komm hervor«, sagte Iain und eine Gestalt trat aus dem Schatten hervor. Klein und zierlich stand sie da. Ein junges Mädchen mit blondem lockigem Haar ging zaghaft auf Iain zu. »Peigi, was ist los?«, fragte ihr großer Bruder. Sie sagte kein Wort und stand nur reglos da. Plötzlich rannte sie auf ihn zu und schlang ihre Arme um ihn. Sie schluchzte und zitterte am ganzen Körper. Iain war überrascht. Er hatte seine kleine Schwester noch nie so gesehen. Er überlegte. Noch nie hatte er sie weinen gesehen. Peigi, oder Margarete, wie seine Schwester eigentlich hieß, lachte stets und war immer zu Späßen aufgelegt. Ein Wirbelwind, der jedermanns Stimmung hob, dessen Weg er kreuzte. Doch nun hing sie kraftlos in seinen Armen und weinte hemmungslos. Iain hielt sie fest und versuchte, der starke große Bruder zu sein, den sie jetzt brauchte. Ihr Kummer lenkte ihn von seinem eigenen Schmerz ab und er konzentrierte sich mit aller Macht auf das Verantwortungsgefühl, das an dessen Stelle trat. Sanft strich er ihr über ihre blonden Locken, bis sie sich schließlich langsam beruhigte.
Prinzessin Margarete löste sich aus seiner Umarmung und sah ihn traurig an. Sie weinte nicht mehr, aber ihre Wangen waren noch feucht von ihren Tränen. »Du wirst sterben«, sagte sie schließlich, so ruhig und klar, dass Iain ein eiskalter Schauer über den Rücken lief. »Ich habe es gesehen«, fuhr sie fort.
Prinzessin Margarete hatte in ihren Träumen schon oft die Zukunft gesehen. Bisher waren es stets gute Träume gewesen, geboren aus ihrem kindlichen Wesen, doch in letzter Zeit schlief sie kaum noch und hielt sich wach, da ihre Träume Grausiges zeigten. Sie hatte bisher mit niemandem darüber gesprochen. Weder über den Wandel ihrer Träume noch über das, was sie ihr zeigten. Doch nun konnte sie es nicht länger zurückhalten. Jetzt, wo der Tag immer näher rückte. Die Hochzeit stand bevor und sie wusste, dass diese Feierlichkeit ihren Bruder töten würde.
Prinzessin Margarete liebte ihre beiden Brüder, hatte beide geliebt. Doch Iain war ihr stets ein Stück näher gewesen als Jock, welcher der Thronfolger gewesen war. Man hatte Großes von ihm erwartet und er hatte versucht, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Da blieb keine Zeit für Späße und Albereien, die aber tief in Margarete verwurzelt waren. Iain hingegen teilte ihre Unbeschwertheit. Er hatte sie zumindest früher geteilt, bis er die Last tragen musste, die vorher auf Jocks Schultern gelegen hatte. Nun war auch er ernst und unnahbar geworden. Und er fehlte ihr so sehr.
Iain hörte ihre Worte, doch er sagte nichts. Was hätte er auch darauf erwidern sollen? Die Nornen hatten bereits vor langer Zeit sein Schicksal bestimmt. Es stand festgeschrieben und was immer er auch tat, er konnte es nicht umkehren. »Ich weiß«, sagte er, gab seiner Schwester einen zarten Kuss auf die Stirn und erhob sich. »Lass uns gehen!« Er hielt ihr seine Hand entgegen.
Margarete blickte auf. Noch immer glitzerten Spuren vergossener Tränen in ihren Augen. Sie schob ihre zarten Finger in seine große starke Hand, die sich schneeweiß von ihrer Bräune abhob. So verließen sie den Burggarten. Keiner sprach mehr ein Wort. Edan folgte ihnen, während sich der Himmel verdunkelte und schwarze Wolken aufzogen.