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Eins Der Funke

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Wie jede große amerikanische Liebesgeschichte begann auch unsere auf dem Abschlussball. Okay, eigentlich war es die Abschlussballfolge von Gossip Girl. 2009 verfolgten wir, wie alle Popkultur-Fans, passioniert diese trashige Teenie-Seifenoper, die in der Welt der wohlhabenden Privatschulen Manhattans spielt. Unsere gemeinsame Freundin Dayo beschloss, einen Serienabend zu veranstalten, und wir wurden beide eingeladen, von einem Halbkreis aus schäbigen Sofas in dem alten Reihenhaus in Washington, DC, das sie sich mit mehreren Mitbewohnerinnen teilte, dabei zuzusehen, wie die melodramatischen Szenen sich entfalteten.

Aminatou erkannte ein paar der Namen in der Einladungs-E-Mail wieder, hatte die anderen Gäste aber noch nie gesehen. Sie fühlte sich ein bisschen eingeschüchtert davon, sich mit dieser längst etablierten Gruppe zu treffen, aber sie wusste, wenn sie neue Freundschaften schließen wollte, musste sie aus dem Haus gehen, die Initiative ergreifen und zu solchen Anlässen auftauchen. Außerdem besaß sie das perfekte Kleidungsstück für den Abend: ein T-Shirt mit dem Aufdruck »CHUCK+BLAIR«, das verzogenste Teenie-Pärchen der Serie. Ihre beste Freundin aus dem College, Brittany, hatte es für sie gemacht.

An jenem Abend fiel Ann Aminatous T-Shirt sofort auf, und sie war beeindruckt, wie ernst diese das Motto der Party genommen hatte. Während Ann an ihrem Manhattan nippte – eine Anspielung auf den Schauplatz der Serie und ein bewusst »schicker« Cocktail, den Dayo passend zur Ästhetik von Gossip Girl ausgewählt hatte –, bemerkte sie, dass die bissigsten Kommentare zur Handlung auf dem Bildschirm stets von Aminatou zu kommen schienen. Ann war es gewohnt, ihre Zeit mit Menschen zu verbringen, die an der Schnittstelle von Medien und Politik arbeiteten, daher flossen die Kommentare und Scherze in ihrem Freundeskreis immerzu mühelos. Aber an jenem Abend hing Ann Aminatou an den Lippen und lachte extralaut über all ihre Witze.

»Wie habt ihr beide euch kennengelernt?« Auf Partys ist es unser Lieblings-Eisbrecher, ein Freund*innenpaar zu fragen, woher es sich kennt. Meistens wird diese Frage wohl eher romantischen Paaren gestellt. Aber die Entstehungsgeschichten von Freundschaften sind nicht weniger machtvoll. Wenn ihnen die eigene Version dieser Geschichte besonders gut gefällt, nehmen die Gesichter der Freund*innen sofort einen begeisterten Ausdruck an. Und selbst wenn sie sich nur zögerlich öffnen, geben die Leute nach einem leichten Anstoß üblicherweise preis, was sie von der anderen Person dachten, ehe sie sich mit ihr anfreundeten. Wir lieben es, wenn Freund*innen gemeinsam Bericht erstatten und dabei die Sätze der anderen beenden oder Fehlendes ergänzen, sich aufeinander abstimmen, während sie ihre vertraute Geschichte in rasantem Tempo wiedergeben. Und beinahe genauso sehr lieben wir es, wenn offensichtlich wird, dass diese Freund*innen noch nie zuvor aufgefordert wurden, darüber nachzudenken, und wir ihrer Geschichte lauschen können, während sie sie zum ersten Mal erzählen.

Aus der Art und Weise, wie sie über ihre Freund*innen redet, können wir so viel über eine Person erfahren. Und aus einer gemeinsamen Nacherzählung ihrer Anfänge können wir vieles über eine Freundschaft erfahren. Sind die beiden brandneue Freund*innen, die gerade besessen voneinander sind? Kennen sie einander schon seit Jahrzehnten? Waren sie mal zusammen? Gibt es eine Unausgeglichenheit in ihren Erzählungen, als würde eine Person mehr investieren als die andere? All das wird beim Erzählen ihrer Geschichte enthüllt.

Wir haben unsere eigene Kennenlerngeschichte Dutzende Male erzählt, und oft sprechen wir von unserer ersten Begegnung, als wäre sie ein glücklicher Zufall gewesen. In Wahrheit war sie womöglich unausweichlich. Aminatous Wohnung lag fünfzehn Gehminuten von Anns entfernt. Auch zwischen unseren Arbeitsplätzen befanden sich nur ein paar Blocks. Altersmäßig liegen wir zwar drei Jahre auseinander, aber wir waren beide gerade Mitte zwanzig und bewegten uns in sich überschneidenden sozialen Kreisen. Wir waren an jenem Abend auf derselben Party, weil wir eine Menge gemeinsamer Bekanntschaften hatten – unsere Freundin Dayo eingeschlossen.

Ann hatte Dayo im Jahr zuvor kennengelernt, und ihr waren rasch deren feste Meinungen, ihr ungezwungenes Lachen und ihre phantastische Handtasche aufgefallen. Es hört sich albern an, die Handtasche zu erwähnen, aber an ihresgleichen – allesamt unterbezahlte politische Journalist*innen – sah man normalerweise ausschließlich Jutebeutel und Rucksäcke. Niemand hatte eine hübsche Ledertasche. Wohin auch immer diese Frau ging, Ann wollte mitkommen. Sie und Dayo sahen einander bald regelmäßig bei Gruppen-Dinners und Fernsehabenden, wenn sie sich im Wohnzimmer einer Freundin mit Kabel-TV stapelten. Dayo war eine Small-Talk-Königin mit unbändiger Energie, die es irgendwie fertigbrachte, langweilige »Wie läuft’s auf der Arbeit?«-Fragen in intensive philosophische Debatten zu verwandeln. Vor Hauspartys an Samstagabenden, die am Ende jedes Mal enttäuschend verliefen, brach Ann oft früh zu Dayo auf, um auf einem Haufen verworfener Outfits Platz zu nehmen und an einem Whiskey zu nippen, während Dayo sich fertig machte. »Kein Rock ist zu kurz, wenn man Strumpfhosen trägt«, trillerte Dayo einmal, während sie mitten im Winter in einen Minirock schlüpfte. Bei Dayo hatte Ann stets das Gefühl, sie sollte sich Notizen machen und die urkomischen Aphorismen festhalten, die diese andauernd fallenließ.

Aminatou kannte Dayo wiederum von der Arbeit. Oder besser gesagt, sie hatte von Dayo gehört. Aminatou arbeitete bei einem Thinktank, oftmals am Empfang, wo sie Besucher*innen begrüßte. Dayo hatte dort ein Stipendium, was bedeutete, dass sie nur gelegentlich im Büro vorbeischaute. Sie waren sich noch nicht über den Weg gelaufen, aber Aminatou war bereits mehr als einmal »Dayo« genannt worden. Aminatou ärgerte sich über diesen Fehler, aber sie wollte diese mysteriöse andere Schwarze Frau mit dem nigerianischen Namen unbedingt kennenlernen. Als sie dann endlich einmal über Schüsseln mit Ramen zusammensaßen, lachten sie gemeinsam wissend über ihre Doppelgängerinnensituation – sie sahen sich kein bisschen ähnlich. Sie unterhielten sich über Themen der afrikanischen Diaspora. Sie stellten fest, dass sie dieselben ausländischen Filme und dieselbe Musik mochten. Die zwei hatten eindeutig Zukunft.

O mein Gott, du musst unbedingt meine Freundin Ann kennenlernen, dachte Dayo. Ein paar Wochen später schickte sie Ann eine Nachricht darüber, dass sie einen Gossip Girl-Serienabend veranstalten wollte.

Dayo: Es gibt da diese Aminatou, die ich total mag.

Ann: Ich würde Aminatou Sow wahnsinnig gern kennenlernen. Die Frau kennt alle, die ich kenne, trotzdem bin ich ihr noch nie begegnet.

Dayo: Oh, sie ist großartig. Was ist mit Gossip Girl? Sie ist ein Riesen-Fan.

Ein Plan wurde ausgeheckt: Dayo würde die Gastgeberin sein und Aminatou einladen. »Ich würde gern behaupten, ich hätte hinterher gedacht: ›Oh, wie nett, dass das geklappt hat‹«, sagte Dayo viele Jahre später zu uns. »Aber wenn ich jetzt darüber nachdenke, steckte viel mehr Absicht dahinter.« Sie wusste, dass wir im Leben der anderen sein sollten, noch bevor wir selbst es wussten.

Es fällt uns schwer, uns daran zu erinnern, wer wir vor jenem Abend in Dayos Haus waren, bevor wir Freundinnen wurden. Nicht nur, weil es so lange her ist, sondern auch, weil wir einander seither auf unzählige Weisen verändert haben, von tiefgreifenden Dingen bis zu kaum wahrnehmbaren. Wir lernten uns an jenem Abend nicht nur kennen. Wir begannen den Prozess, uns gegenseitig zu jenen Menschen zu machen, die wir heute sind. Auch wenn wir selbstbewusst genug sind, um zu wissen, dass wir auch super geworden wären, wenn unsere Wege sich niemals gekreuzt hätten, können wir uns doch nicht vorstellen, wie diese alternative Wirklichkeit aussehen würde. Es ist unmöglich, uns beide aufzudröseln.

Dieses Gefühl der Untrennbarkeit ist ein Kennzeichen einer Echten Freundschaft. Als Menschen werden wir alle intensiv geprägt durch die Personen, die wir kennen und lieben. Tag für Tag beeinflussen unsere Freund*innen unseren Geschmack und unsere Laune. Langfristig können sie sich auch darauf auswirken, wie wir zu unserem Körper stehen, wie wir unser Geld ausgeben und welche politischen Ansichten wir teilen. Wir wachsen als Reaktion aufeinander, sowohl auf absichtliche als auch auf unbewusste Weise.

Hinter jedem Kennenlernen steckt eine emotionale Entstehungsgeschichte, die eine tiefere Frage beantwortet. Nicht: »Wie habt ihr beide euch kennengelernt?«, sondern: »Warum seid ihr beide mittlerweile so tief im Leben der anderen verwurzelt?«

»Wir haben uns über eine Freundin kennengelernt«, ist die oberflächliche Antwort, die wir Fremden geben. Unsere wahre Entstehungsgeschichte erzählt jedoch davon, wie wir uns zu einer Zeit in unserem Leben begegneten, als wir beide gerade ein wenig verloren waren. Wir versuchten, Kurs auf ein Ziel zu nehmen, das wir zu erreichen hofften. Und ineinander fanden wir jeweils eine Person, die bereits verstand, wer wir sein wollten.

Vier Jahre bevor sie Aminatou begegnete, zog Ann für ihren ersten Job bei einer Zeitschrift nach San Francisco. Es war eine befristete Stelle als Fakten-Checkerin bei einer linken Publikation, die für ihre investigativen Reportagen bekannt war. (Im Grunde war es ein Praktikum mit einem kleinen Gehalt, das Ann mit den Ersparnissen aufstockte, die sie im Jahr zuvor mit einem nichtjournalistischen Job angehäuft hatte.) Sie hatte sofort das Gefühl, am richtigen Ort zu sein. Sie liebte es, im Konferenzraum am Rand zu sitzen und den Redakteur*innen am Tisch zuzuhören, wie sie darüber debattierten, welche Themen der Zeitschrift würdig waren, und sich für Geschichten einsetzten, die sie in Auftrag geben wollten. Sie freundete sich mit ein paar der anderen Fakten-Checkerinnen an, außerdem mit mehreren Frauen, die in den Abteilungen für Fundraising und Marketing arbeiteten, und ging manchmal mit ihnen etwas trinken und tanzen. Sie verliebte sich sogar in einen der Journalisten auf der Arbeit und begann, mit ihm auszugehen. Ann und ihr Freund verbrachten die Wochenenden damit, Pizza mit selbstgemachtem Teig zu backen und Tagesausflüge den Highway 1 hinauf zu unternehmen. Nachts lief sie häufig über die Achterbahnhügel der Stadt nach Hause zu dem kleinen Zimmer in einem viktorianischen Haus in der Nähe des Alamo Square Park, in dem sie zur Untermiete wohnte, betrunken von Whiskey Ginger und dem Gefühl, dass sie aus ihrem Leben etwas machte, das ihr gefiel. Allerdings wusste sie, dass es nicht von Dauer sein konnte – sie ernährte sich von Bohnen aus der Dose und war sich im Unklaren über ihren nächsten Karriereschritt. San Francisco glitzerte mit einem Knapp-außer-Reichweite-Charme.

Als dieses verherrlichte Praktikum dem Ende zuging, gelang es Ann, eine Kaffeeverabredung für eine Vollzeitstelle bei einem Onlinemagazin in der Bay Area zu ergattern. Es fühlte sich an wie ein kleines Wunder, da es in Kalifornien kaum Medienjobs gab. Sie hatte ein paar junge Frauen flüstern hören, dieser potenzielle neue Chef sei ein Monster, aber sie befand sich nicht in der Position, um eine Chance auszuschlagen. Als sie das Café erreichte, bestätigte der Chef die Gerüchte, indem er augenblicklich einen bizarren Kommentar zu ihrem Körper abgab. (»Mmmmm … wirklich große Frauen stehen auf große Sonnenbrillen, was?«) Das Treffen war so zwanglos, dass Ann überhaupt nicht begriff, dass es sich um ein Vorstellungsgespräch gehandelt hatte, bis sie das Angebot bekam. Aber sie ignorierte die blinkende Neonleuchtschrift mit den Worten: »Das wird total schrecklich.« Sie sagte rasch zu, da das Jahresgehalt mehr war, als sie sich vorstellen konnte – 40000 Dollar –, und es in professioneller Hinsicht einen großen Schritt nach vorn bedeutete: Sie würde selbst Überschriften verfassen und kurze Artikel redigieren. Wie schlimm konnte dieser Chef schon sein?

Wichtiger Tipp: Wenn ihr bei einem Treffen, das derart zwanglos ist, dass euch nicht in den Sinn käme, es könnte sich um ein Vorstellungsgespräch handeln, das Gruseln bekommt, dann lauft weg, so schnell ihr könnt.

Für einen lüsternen Tyrannen zu arbeiten war schlimmer, als Ann sich vorgestellt hatte. Bei ihrem Mitarbeiter*innengespräch nach einem Monat wollte der Chef wissen, weshalb sie ihr Privatleben nicht mit ihm besprach, und fügte in einem unmissverständlich drohenden Tonfall hinzu: »Weißt du, die meisten Angestellten versuchen, dem Chef zu gefallen.« (Er erhielt seine verdiente Strafe viele Jahre später, als sich eine ganze Folge der Radiosendung This American Life seinem Fehlverhalten widmete.) Ann konnte sich nicht vorstellen, noch viel länger für ihn zu arbeiten, wusste jedoch nicht, wo sie sich sonst überhaupt bewerben sollte.

Dann zog Anns Freund für eine prestigeträchtige, wenn auch unterbezahlte Stelle bei einer politischen Zeitschrift nach Washington, DC. Aus einer anderen Untermietwohnung in einem anderen viktorianischen Haus (Ann zog in jenem Jahr dreimal um) sprach sie mit gegen das Fenster gehaltenem Telefon mit ihm, da ihr Schlafzimmer sich in einem Funkloch befand. Er gab die Gespräche und Insider-Witze weiter, die er mit seinem neuen Freundeskreis teilte, allesamt junge Journalist*innen. Ann musste sich zum Mitlachen zwingen.

Während sie in San Francisco nach einem neuen Job suchte, schaltete sich ihr Freund mit einem Plan ein: Er würde eine Einstiegsposition als Redakteur ablehnen, für den er von einer anderen Zeitschrift in DC angeworben worden war, und er könnte Ann für diese Stelle vorschlagen. In mancherlei Hinsicht war es für sie eine Erleichterung: Die Jobsuche in Kalifornien war ein Albtraum. Außerdem vermisste sie es, dieselbe Postleitzahl zu haben wie ihr Freund. Und wenn sie ehrlich war, hungerte sie danach, sich beruflich zu beweisen.

Gleichzeitig hatte Ann Sorgen, sie wisse nicht genug über Politik, um in der Welt des politischen Journalismus zu bestehen, und dass diese Zeitschrift sie nur aus Gefälligkeit gegenüber ihrem Freund einladen würde. (Ihr Ego ist bei dem Gedanken daran immer noch empfindlich.) Bekäme sie den Job, würde dies ein um beinahe 10000 Dollar geringeres Gehalt bedeuten. Und dann war da noch ihre tiefe Traurigkeit bei dem Gedanken daran, sich von Kalifornien und ihren Freund*innen dort zu verabschieden, die ihr so schnell ans Herz gewachsen waren. Aber sie entschied, es könnte schließlich nicht schaden, sich zu bewerben. Als sie den Job bekam, schien es einfach sinnvoll zuzusagen. Sie hasste jedoch die Tatsache, dass diese Lebensentscheidung die Überschrift tragen könnte: »Mein Freund hat mir einen Job beschafft, und ich habe meine Freund*innen verlassen, um bei ihm zu sein.« Zwei Wochen im Voraus kündigte sie ihrem tyrannischen Chef, der ihr seine Bürotür vor der Nase zuknallte, und sie versicherte ihren Freund*innen in Kalifornien, sie werde allerhöchstens für ein Jahr nach DC gehen. So laufen Karrieren natürlich nicht! Allerdings konnte Ann selbst sich nur auf diese Weise von dem Umzug überzeugen.

Als Ann quer über das Land gen Osten fuhr, war ihr verbeulter grüner Honda schwer beladen mit der Last all ihrer irdischen Besitztümer sowie eines wachsenden Gefühls von Angst. Sie hatte wiederholt versucht und war daran gescheitert, sich diesen Umzug auszureden. Auf beruflicher Ebene war sie überzeugt davon, dass es eine gute Entscheidung war. Sie war sich ebenfalls sicher, dass es das Richtige für ihre Fernbeziehung war. Es ergab in jeder Hinsicht Sinn, abgesehen davon, dass sie eigentlich nicht in einem Sumpf voller statusbesessener ehemaliger Debattiermeister*innen leben wollte. Ann, die Politik stets verfolgt hatte und ein paar Jahre lang selbst Mitglied des Debattierclubs ihrer Highschool gewesen war, hielt sich Washington, DC, gegenüber für überlegen, noch ehe sie dort ankam. Der Umzug war ihre eigene Entscheidung gewesen, aber sie hatte sie nur widerwillig getroffen. Und so tauchte sie mit der Energie einer schmollenden Vorschülerin auf, die beim Spielen in eine Auszeit geschickt wurde: gefügig, aber mit einer herablassenden Haltung.

Bei Anns neuem Job waren die Gründer und leitenden Redakteure der Zeitschrift ältere Männer, die ihre männlichen Kollegen eifrig mit Lob und Chancen überschütteten. Sie hatte das Gefühl, darum kämpfen zu müssen, selbst Gehör zu finden. An mehreren Abenden in der Woche gingen die Mitarbeiter*innen in ihren Zwanzigern (plus gelegentlich ein älterer Redakteur) für Happy-Hour-Biere und Hähnchensticks in eine Spelunke auf der anderen Straßenseite. Auf Ann wirkte es wie die Erweiterung des Büros und nicht wie eine Erholung davon. Es war ihre Entscheidung mitzukommen, aber nach diesen Abenden fühlte sie sich erschöpft und oft auch einsam. Dennoch war es leichter, ihrem Arbeitsplatz, der Stadt selbst und allem Möglichen die Schuld zu geben, als ihrer eigenen beschissenen Einstellung gegenüber dieser Veränderung in ihrem Leben. Sie schrieb einer ihrer besten Freundinnen aus dem College: »Ich fühle mich unwohl und frage mich, ob dieses Überholspur-Journalismus-Ding das Richtige für mich ist (und wenn nicht, was dann?). Ich glaube langsam, ich muss mich von der Ostküste insgesamt fernhalten.« Wie konnte es sein, dass es sich anfühlte, als würde ihre Karriere sich zu schnell und zu langsam zugleich bewegen?

Aber angesichts der apokalyptischen Prophezeiungen für ihre Branche war sie dankbar, überhaupt einen Job zu haben. Ann hielt durch und arbeitete sich hoch bis zum Redigieren langer Artikel für die Printausgabe – was ein kleines Wunder war, da das Land sich gerade inmitten einer historischen Rezession befand. Sie verbrachte ihre Tage damit, die Zähne zusammenzubeißen, während sie Meinungsartikel darüber redigierte, weshalb dieser Wirtschaftskollaps tatsächlich eine »einmalige politische Gelegenheit« sei. Trost fand Ann in ihrem Nebenprojekt, für einen feministischen Blog zu schreiben, wo sie sich über den Lohnunterschied aufregte und sich fragte, wie dem Papst wohl Vorschriften für den Umgang mit seinem Körper gefallen würden. Außerdem verbrachte sie viel Zeit damit, sich durch einen Ordner mit Kalifornienbildern zu klicken, den sie auf ihrem Arbeitsrechner gespeichert hatte.

Die Stelle fühlte sich weiterhin nicht recht passend an. Aber Ann hatte Kolleg*innen, die sie wirklich mochte und respektierte. Nach ein paar Jahren war sie besser darin, Grenzen zu ziehen und jene Veranstaltungen nach der Arbeit zu meiden, die sich häufig in durch Bier angeheizte politische Debatten verwandelten. Sie zog mit ihrem Freund in eine kleine Zweizimmerwohnung, die trotz ihres schäbigen Teppichbodens und des übelkeiterregenden Ginkgo-Geruchs, der jeden Herbst durch die Fenster wehte, ziemlich gemütlich war.

Nun, da sie nicht mehr ganz neu in der Stadt war, hatte Ann sich auch außerhalb der Arbeit mit ein paar exzellenten Leuten angefreundet, die sich gern mit ihr auf Konzerten in die Menge begaben und sie auf Secondhand-Shoppingtouren in die Vororte von Virginia begleiteten, die eine Goldmine für Vintage-Seidentücher und Lederröcke waren. Ein paar Menschen, wie Dayo, waren von beruflichen Bekanntschaften zu wahren Freund*innen geworden. Und sogar eine von Anns besten Freundinnen aus dem College, Lara, war in die Stadt gezogen. Lara hatte ein unnachgiebig neugieriges Naturell, was Ann dabei half, ihren eigenen Blick auf DC zu korrigieren. Lara wollte nie über die Arbeit sprechen, ging mit Vorliebe tanzen und war eine verlässliche Museumsbegleiterin. Und das Beste war, dass sie so nah wohnte, dass Ann eines Tages, als sie sich ohne Schuhe aus ihrer Wohnung ausschloss, in Socken zu Lara laufen konnte.

Als Ann also mit Dayo über die Planung eines Gossip Girl-Serienabends textete, ging es ihr besser als unmittelbar nach ihrem Umzug in die Stadt drei Jahre zuvor. Aber sie vermisste ihre Freund*innen in San Francisco noch immer und hatte außerdem das Gefühl eines bevorstehenden Verlusts: Lara stand kurz davor, ihren Job zu kündigen und die Stadt zu verlassen. Sicher, Washington, DC, war der Ort, an dem Ann lebte, aber er fühlte sich nicht wie ihr Zuhause an. In gewisser Hinsicht würde er das auch nie tun. Ihre schönen Erinnerungen handeln nicht davon, wie sie über die breiten diagonalen Straßen der Stadt läuft oder aus dem Fenster ihres Büros blickt, und auch nicht einmal von verschwitzten Tanznächten im Black Cat. Ihre Verbundenheit mit der Stadt hängt mit den Menschen zusammen, die sie dort kennenlernte. Insbesondere mit einer ganz bestimmten Person.

Zwei Jahre bevor sie Ann kennenlernte, kam Aminatou, die gerade erst als Auslandsstudentin an der University of Texas ihren Abschluss gemacht hatte, mit großen Träumen und gerade genügend Geld für eine Monatsmiete und ein paar billige Biere in DC an. Am Tag ihrer Abschlussfeier hatte eine Freundin bemerkt: »Mit der Wirtschaft stimmt irgendwas nicht. Normalerweise haben die Leute vor dem Abschluss schon eine ganze Reihe von Jobangeboten.« Aber Aminatou machte sich nicht allzu viele Sorgen darüber, dass sie noch keinen einzigen Job in Aussicht hatte. Der Plan war von vornherein gewesen, nach DC zu ziehen, ob mit oder ohne Job. Aminatou hatte stets geglaubt, sie würde in die Fußstapfen ihres Vaters treten und in der internationalen Politik arbeiten. Auf dem College hatte sie Politikwissenschaften und Orientalistik studiert, und ihr gefiel, dass Washington, DC, sich wie eine internationale Stadt anfühlte. Ihre Architektur hatte sie schon immer angezogen, da sie die einzige amerikanische Stadt war, die aussah, als wäre sie von Europäer*innen aus dem 19. Jahrhundert erbaut worden. Bei einem Solo-Trip während ihrer Highschool-Zeit hatte Aminatou sich in die Vorstellung verliebt, einmal dort zu leben, und sie hatte sich selbst versprochen, als Erwachsene zurückzukehren.

Sie fand rasch eine WG in Dupont Circle, einem malerischen Viertel im Nordwesten von DC, in dem wunderschöne Botschaftsgebäude standen, und zog in ein winziges Zimmer in dem hübschen gelben Reihenhaus. Sie beharrte darauf, in einem Queen-Size-Bett zu schlafen, das das gesamte Zimmer einnahm und kaum genügend Platz ließ, um noch einen Ganzkörperspiegel aufzustellen. Man musste schließlich Prioritäten setzen! Jeden Zentimeter Wand, sogar über dem Bett, nutzte sie für Bücherregale. Ihre Mitbewohnerinnen waren bei ihrem Einzug bereits eng miteinander befreundet, und Aminatou wurde definitiv die dritte Mitbewohnerin. Sie gingen oft zusammen in Bars und manchmal ins Restaurant, aber Aminatou fühlte sich ihnen nicht nah. Sie kannte nur wenige Menschen in DC: ein paar junge Frauen aus dem College und einen Typen, der im Internat in einer höheren Klasse gewesen war und mittlerweile für einen comicartig bösen Kongressabgeordneten arbeitete. Aminatou konnte nicht recht begreifen, weshalb ihr nun etwas unmöglich erschien, das ihr nie zuvor Schwierigkeiten bereitet hatte: dazuzugehören. Aber um ihr Sozialleben würde sie sich später kümmern. Als Erstes war sie damit beschäftigt, einen Job zu finden.

Ihre College-Freundin hatte recht gehabt: Mit der Wirtschaft stimmte tatsächlich etwas nicht. Aminatou schickte Hunderte, buchstäblich Hunderte Bewerbungen ab. Sie bekam ein Praktikum im Büro von Senator John Kerry angeboten, musste es jedoch ablehnen, als sie herausfand, dass es unbezahlt war. »Wovon leben die anderen alle, während sie Vollzeit-Praktika machen?«, fragte sie sich immer wieder.

Sie stand bei ihrer Arbeitssuche mehr unter Druck als die meisten anderen Leute. Aminatou war zu Beginn ihrer Collegezeit mit einem Studierendenvisum in die Vereinigten Staaten gekommen, und nach ihrem Abschluss würde sie nun bald eine*n Arbeitgeber*in benötigen, um für ihren weiteren Aufenthalt im Land zu bürgen. Studierende aus dem Ausland haben Anspruch auf eine zwölfmonatige Aufenthaltserlaubnis namens »Optionale praktische Ausbildung«, die beginnt, sobald ihre Unterlagen anerkannt sind. Um darüber hinaus im Land zu bleiben, würde Aminatou ein H-1B-Arbeitsvisum benötigen. Dies bedeutete einen Wettlauf gegen die Einwanderungsuhr, um eine*n Arbeitgeber*in zu finden, die oder der sich davon überzeugen ließ, sie einzustellen und dann bei der Regierung zu beantragen, dass sie bleiben durfte. Eine schwierige Aufgabe, zumal die meisten Amerikaner*innen ihre eigenen Einwanderungsgesetze nicht verstehen.

Wenn Aminatou einmal das Glück hatte, zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden, geriet die Sache mit dem Visum zum Hindernis. Langsam wurde ihr bewusst, dass ihr Zeitdruck nicht das einzige Problem war. Sie war in eine Stadt gezogen, die auf Geld und Beziehungen aufgebaut war, und sie hatte keins von beidem.

Sie gab sich jedoch nicht geschlagen. Sie fand einen befristeten Arbeitsplatz in einem schicken Spielzeugladen, der zwar das Problem mit dem Visum nicht löste, aber zumindest ihre Miete bezahlte. Damals befand sich gerade eine Rückrufaktion für chinesische Spielzeuge mit Bleifarbe auf dem Höhepunkt, und amerikanische Eltern waren misstrauisch gegenüber allem mit einem »Made in China«-Aufkleber. Die Besitzerin des Spielzeugladens importierte also all die minimalistischen französischen Holzspielzeuge, mit denen Aminatou aufgewachsen war, und fügte dem Preisschild ein paar Nullen hinzu. Ein großartiger Schwindel.

Die Tage im Spielzeugladen waren langweilig. Aminatou war (und ist es immer noch) absolut schlecht darin, Geschenke einzupacken, und die Kund*innen konnten furchtbar herablassend sein. Der Job bezahlte zwar ihre Rechnungen, aber häufig lief Aminatou die knapp drei Kilometer zur Arbeit, weil sie kein Geld mehr für den Bus hatte. Sie machte sich Sorgen, bewarb sich jedoch weiter auf andere Stellen, optimistisch, dass sie doch noch Glück haben könnte.

Nachdem fast die Hälfte ihrer zwölfmonatigen Arbeitserlaubnis verstrichen war, bekam sie einen ausgesprochen unglamourösen Bürojob bei einem Thinktank angeboten. Das Gehalt wurde mit 28000 Dollar pro Jahr angegeben, und sie war stolz auf sich, als sie ihren Arbeitgeber auf 32000 Dollar hochhandelte – gerade genug, um Miete und Rechnungen zu bezahlen und am Wochenende eine Flasche Tequila zu kaufen. Morgens lief sie zur Arbeit vorbei an gepflegten Parks und wunderschönen Botschaftsgebäuden. Sie fühlte sich reich! Aminatou kalkulierte, sie würde sich vom Empfang zu einer politischen Position hocharbeiten – ihr war versichert worden, dass diese Möglichkeit bestand – und von dort aus ihre Karriere starten. (Es wird euch nicht überraschen, dass dieser Plan zur Übernahme der Weltherrschaft, ausgeheckt von einem naiven Millennial, nicht aufgehen sollte.)

Ihre Aufgaben bestanden größtenteils darin, Post zu verschicken und Daten einzugeben, und sie war frustriert darüber, dass, wen auch immer sie fragte, niemand je etwas Substanzielles für sie zu tun hatte. Am Empfang zu arbeiten bedeutete auch, dass die anderen stets versuchten, ihre Besorgungen und niederen Tätigkeiten auf sie abzuwälzen. Sie weigerte sich und erinnerte sie daran, dass Kaffee zu holen nicht zu ihrem Job gehörte. Die Kolleg*innen, die ungefähr in ihrem Alter waren, schienen kollektiv entschieden zu haben, dass sie keine von ihnen war, und machten es sich zum Prinzip, zu »vergessen«, sie zur Happy Hour einzuladen. Es machte ihr jedoch nichts aus. Sie waren allesamt langweilig, und es schien ihr eine gute Idee zu sein, zwischen ihrer Arbeit und ihrem Privatleben Grenzen zu ziehen.

Bis sie Cecille kennenlernte.

Auch wenn Aminatou bei einem der »cooleren« Thinktanks in der Stadt arbeitete, gab es dort immer noch eine endlose Parade von Männern in schlechtsitzenden Anzügen und Frauen in Twinsets. Die Mode war aber nicht das eigentliche Problem. In DC gab es auch eine Menge aufregender und interessanter Menschen, die sich sehr gut kleideten. Aminatou hatte bloß auf der Arbeit noch keine Person gefunden, die lachte, wenn sie darüber scherzte, wie die gegenwärtigen Finanzregulierungen Trends in der Indie-Musik widerspiegelten. Zumindest bis sie im Kopierraum einer Frau mit einem pinken Zopf über den Weg lief. Aminatou war Feuer und Flamme, sobald Cecille ihren eigenen Look als »Sarajevo-Schick« bezeichnete. Sie wurden untrennbar, nannten sich gegenseitig »Boo Boo« und begründeten den ersten kulturell relevanten Politik-Nerd-Blog, Orszagasm.com. Jawohl, ein ganzer Blog, der sich dem attraktiven Peter Orszag widmete, der von 2009 bis 2010 Direktor des Office of Management and Budget war. Der Slogan lautete: »Wir bringen OMG zurück ins OMB.«

Cecille war beängstigend schlau und ebenso lustig. Sie hatte einfach den Durchblick. Sie gab Aminatou nie ein schlechtes Gefühl, weil sie pleite war oder weil sie am Empfang arbeitete. Als sie sich kaum ein Jahr kannten, zogen die beiden zusammen. (Das Stereotyp, dass Lesben direkt nach dem zweiten Date zusammenziehen, ist nichts gegen Cecilles und Aminatous Freundschaft. Wenn man es weiß, dann weiß man es eben, okay?) Cecille verdiente auch nicht gerade üppig, aber die beiden legten ihr Geld zusammen, um einen Lebensstil zu verwirklichen, den sie angenehm fanden. Jahre später erklärten sie voller Stolz: »Wir waren total pleite, aber wir hatten immer Kabelfernsehen!« (Hinweis: Das ist ein eindrückliches Beispiel für eine furchtbar schlechte persönliche Finanzplanung! Streicht das Kabelfernsehen und esst richtiges Essen, statt euch in jeder Mittagspause Fritten von Five Guys zu teilen.)

Sie hatten eine Gruppe Freund*innen, mit denen sie nahezu pausenlos Zeit verbrachten. Aminatou verschickte regelmäßig E-Mails, in denen sie die anderen meist von Donnerstag bis Sonntag einlud, gemeinsam Unsinn zu machen. (Montag bis Mittwoch waren zum Kater-Auskurieren und Ausruhen.) Sie hatten eine Menge Spaß dabei, ihren eigenen Alkohol zu Jazz im Garten der National Gallery zu schmuggeln, nachts die Denkmäler zu erkunden und so gut wie alle Bands zu sehen, die im 9:30 Club spielten. Aminatou und Cecille kamen meist gemeinsam und gingen auch gemeinsam wieder. Sie waren eine Einheit. Sie hatten sehr schnell eine Bindung aufgebaut, da keine von ihnen sich für immer in DC sah, also machte Aminatou sich auf den Tag gefasst, an dem Cecille ihr mitteilen würde, dass sie die Stadt verließe. Diese Angst motivierte Aminatou auch, neue Menschen kennenzulernen.

Als sie die E-Mail-Einladung zum Gossip Girl-Abend bei Dayo öffnete, sagte sie daher sofort zu.

Sie landete neben Ann auf dem Sofa.

Wir hatten Glück. Wir waren beide innerhalb von wenigen Jahren in dieselbe Stadt gezogen. Alle Voraussetzungen waren da.

Es ist kein Zufall, dass wir uns zu einer Zeit begegneten, als wir im Grunde noch im besten Alter waren, um neue Freund*innen zu finden: in unseren Zwanzigern. Bis dahin waren die meisten unserer Freundschaften im Rahmen von Institutionen – Familie, Schule, Arbeit – entstanden, was für uns beide ziemlich gut funktioniert hatte. (Das trifft natürlich nicht auf alle Menschen zu. Manche tun sich etwa als Kinder und Teenager schwer, andere haben strikte Regeln gegen Freundschaften am Arbeitsplatz.) Aber wir sehnten uns auch danach, neue Freund*innen zu finden, mit denen wir nicht schon immer im selben Boot gesessen hatten. Getrennt voneinander und auf einer tieferen Ebene wollten wir beide unser eigenes Dorf am Ufer gründen.

Es gibt den weitverbreiteten Glauben, dass Menschen aus dieser Sehnsucht, Freundschaften zu schließen, irgendwann hinauswachsen. Sie heiraten oder bekommen Kinder oder haben einen fordernden Job und müssen dabei zusehen, wie ihre freie Zeit schwindet. Sie beschließen, sich auf jene Menschen zu konzentrieren, die sie bereits kennen, statt zu versuchen, neue Freund*innen dazuzugewinnen. Aber selbst nach einem großen Lebensereignis kommt es vor, dass Menschen sich umsehen und wünschten, sie hätten mehr Freundschaften, die in einer tiefen Verbundenheit wurzeln.

Und unserer Erfahrung nach sind Zeiten des Umbruchs – in jedem Alter – Gelegenheiten, um neue Freundschaften zu schließen. Wir haben beide dazu tendiert, unsere tiefsten neuen Verbindungen immer dann einzugehen, nachdem wir Veränderungen in unserem Leben vorgenommen hatten: Jobwechsel, Trennungen, Umzüge in eine neue Stadt. Das Vorhaben, uns mit Menschen anzufreunden, die ebenfalls gerade auf der Suche nach irgendetwas sind, hat sich für uns als erfolgreicher erwiesen als der Versuch, uns in eine bereits eng verbundene Gruppe oder in den Kalender einer Person zu zwängen, die fest etablierte soziale Beziehungen vor Ort hat. Bei unserem Kennenlernen hatten wir eine allgemeine Rastlosigkeit gemeinsam, die Angst, eine enge Freundin zu verlieren, und eine tiefe Unsicherheit, was die Zukunft betraf.

Natürlich sind wir auch manchmal so schockverliebt in eine neue Freundin gewesen, dass Raum und Zeit und Umstände keine große Rolle spielten. Wir haben Platz in unseren Terminkalendern (und in unseren Herzen – hach) gefunden, von dem wir vorher gar nichts gewusst hatten, meist weil die Chemie zwischen uns sofort stimmte.

Wir sprechen hier von dem Funken, der ganz am Anfang überspringt. Dieses Gefühl ist so magisch, weil es sich nicht erzwingen lässt. Man kann jahrelang neben jemandem arbeiten oder während der gesamten Schulzeit jemandes Klassenkameradin sein oder sich jedes Mal freuen, einer bestimmten Person auf einer Feier zu begegnen, aber wenn man gemeinsam nicht dieses Je ne sais quoi hat, wird es nirgendwohin führen.

Wir beide spürten den Funken augenblicklich. Ann war sofort begeistert von Aminatous Weltgewandtheit und Zugänglichkeit. Aminatou konnte spüren, dass Ann brillant war und hart arbeitete – wohl zwei der attraktivsten Eigenschaften bei Freund*innen. Als Aminatou Ann von Orszagasm erzählte, heulte diese vor Lachen. Wir erkannten, dass wir beide Nerds waren, aber wir teilten auch popkulturelles Wissen und ästhetisches Empfinden.

Dieser Funke hatte keinerlei romantische oder sexuelle Implikationen für uns. Unser Gefühl war platonisch, deshalb aber nicht weniger aufregend. Bereits bei unserem kurzen Gespräch bei einem Fernsehabend war absehbar, dass wir uns gut verstehen würden. Wir wollten mehr erfahren. Wir wollten einander beeindrucken. Es war eine machtvolle Anziehungskraft.

»All die Forschung zu Anziehung lässt sich im Allgemeinen auch auf Freundschaften anwenden«, sagt Emily Langan, eine Dozentin für Kommunikationswissenschaften am Wheaton College, die alle möglichen engen Beziehungen untersucht. »Es ist die Attraktivität des Stils. Es ist die Attraktivität der Ästhetik, welche Ausstrahlung jemand hat. Es ist auch die Attraktivität der Persönlichkeit.« Das meiste davon, fügt sie hinzu, geschieht auf unbewusster Ebene. Es ist oftmals schwer zu artikulieren, warum genau man sich von jemandem angezogen fühlt. Man fühlt es einfach. Und manchmal ist es sogar schwer zu sagen, wie sich diese Anziehung manifestieren soll. Möchte man die Liebhaberin dieser Person sein? Ihre beste Freundin? Ihre Ehepartnerin? Mit ihr kreativ zusammenarbeiten?

Zu dem Zeitpunkt, wenn der Funke überspringt, ist dies nicht immer klar. Und es kommt häufig vor, dass zwei Personen den Funken auf unterschiedliche Weise interpretieren, die eine versteht ihn platonisch, die andere erlebt ihn als romantisch oder auf noch ganz andere Weise. Viele von uns definieren das Gefühl vorschnell basierend auf dem jeweiligen Kontext. Wenn die andere Person eine kompatible sexuelle Ausrichtung hat, mögen wir den Funken als sexuell interpretieren. Wenn wir ihr im beruflichen Kontext begegnen, stellen wir uns vor, möglicherweise mit ihr zusammenzuarbeiten. Wenn wir uns in einer monogamen Liebesbeziehung befinden, beschließen wir vielleicht, alle neuen Funken als platonisch zu verstehen.

Dieselbe Kombination aus Gefühlen kann auf verschiedene Weise eingeordnet werden, von platonisch über romantisch bis zu etwas ganz anderem, schreibt Angela Chen in ihrem Buch Ace: What Asexuality Reveals About Desire, Society, and the Meaning of Sex. Für Chen, die sich als asexuell identifiziert und für die daher die Frage »Will ich Sex mit dieser Person haben oder nicht?« nicht vorrangig ist, um ganz frische Beziehungen in die Kategorien »platonisch« oder »romantisch« einzuordnen, vermittelt ein Funke das Gefühl einer unbestimmten Möglichkeit. »Wenn ich jemanden kennenlerne, weiß ich nicht, ob wir dasselbe wollen«, erklärte sie uns in einem Interview. »Und ich denke, das macht es für mich sowohl aufregend als auch verwirrend. Die Unsicherheit nicht nur von: ›Wird diese Person mich mögen?‹, sondern auch von: ›Wird sie mich genauso mögen, wie ich es möchte?‹ Also, werden wir dasselbe wollen?« Die meisten von uns verspüren etwas Ähnliches, wenn es funkt: Wir wollen, dass diese andere Person uns auf dieselbe Weise und im selben Ausmaß mag, wie wir sie mögen, selbst wenn wir diese Bedingungen für uns selbst noch gar nicht vollständig definiert haben. Und wir sind gespannt herauszufinden, ob es so kommen wird.

In unserem Fall passte es gut. Natürlich war das nichts, was wir während unseres ersten Gesprächs besprochen hätten. In den Tagen und Wochen, die auf den Augenblick folgten, in dem der Funke übersprang, lebten wir uns beide in dem Wissen ein, dass wir dasselbe wollten, und das wollen wir seither. An dieser Stelle sollte festgehalten werden, dass das, was Menschen von einer Beziehung möchten, sich im Laufe der Zeit auch entwickeln kann, über den Augenblick, in dem es gefunkt hat, hinaus. Eine oder beide Parteien können entscheiden, dass ihr Gefühl nun mehr romantischer oder sexueller Natur ist – oder auch weniger. So kommt man zu Freund*innen, die einmal ein Liebespaar waren, und zu Liebespaaren, die einmal Freund*innen waren. So kommt man zu einer Person, die behauptet, in die »Friendzone« abgeschoben worden zu sein von einer anderen, deren Interesse von Anfang an rein platonisch war. Die Grenzen sind nicht für alle so deutlich gezogen, wie sie es in unserer speziellen Freundschaft stets gewesen sind.

Selbst in einer unzweideutigen Freundschaft wie unserer kann sich die stürmische Anfangszeit wie ein Verlieben anfühlen. In den berauschenden Wochen nach unserer ersten Begegnung versuchten wir nicht, einander an die Wäsche zu gehen, sondern uns im Kopf der anderen zu verankern. In den Augen der anderen verfügten wir beide über eine undefinierbare emotionale Anziehungskraft, die abenteuerlich, geheimnisvoll und idealisiert zugleich war. Mit anderen Worten, die Aufregung war als Kribbeln in der Magengrube zu spüren. Diese Art von sofortiger Verbundenheit ist selten, und wenn sie vorkommt, ist sie daher unglaublich – im Sinne von: nicht glaubhaft oder so magisch, dass es nur schwer zu glauben ist.

Was unsere anfängliche Verbindung so besonders machte, war das Gefühl von Mühelosigkeit. Wir waren beide auch schon in gesellschaftliche Situationen geraten, in denen Small Talk sich wie harte Arbeit anfühlte und keiner unserer Scherze zu zünden schien. Im Gegensatz dazu fühlte sich die Dynamik zwischen uns beiden überhaupt nicht nach Arbeit an. Sicher versuchten wir einander wohl auch ein bisschen zu beeindrucken – okay, sehr sogar. Aber hauptsächlich fühlte es sich an, als würde unser Kennenlernen einfach so passieren. Als hätten wir in dieser Angelegenheit überhaupt kein Mitspracherecht.

Hätte man uns an jenem ersten Abend nach dem Thema Freundschaft gefragt, hätten wir geantwortet, dass wir darin schon ziemlich gut seien. Wir dachten, wir wüssten, wie wir jene großartigen Freundschaften bewahren konnten, die wir bereits pflegten, während zugleich neue dazukamen … und dass wir mit minimalem Aufwand all diese wichtigen Menschen auch um uns behalten würden, bis wir uns eines Tages glücklich zur Ruhe setzten wie die Golden Girls. Wir glaubten, wir würden einfach stabile Freundschaften fürs Leben haben. Man müsse sie nur finden und brauche sich dann nicht mehr um sie zu kümmern.

Aber tief in unserem Inneren wussten wir ebenfalls, dass wir unsere Freundschaften schleifen lassen konnten, um andere Bereiche in unserem Leben zu stärken. Von Freund*innen erwartet man, dass sie diese Art von Vernachlässigung verzeihen. Ihr strebt eine Beförderung an? Dann müsst ihr lange arbeiten und habt keine Zeit, euch abends zu verabreden. Ihr habt gerade jemanden kennengelernt, mit dem ihr den Rest eures Lebens verbringen möchtet? Kein Problem, eure Freund*innen werden verstehen, warum ihr ihnen absagen musstet.

In dieser Lebensphase hatten wir viel Zeit für unsere Freund*innen, also war es nicht wichtig, genau festzulegen, an welcher Stelle unserer Prioritätenliste sie standen. Sie befanden sich mangels Alternative von vornherein ganz oben, und wir dachten, dort würden sie auch bleiben. Wir waren nie davon ausgegangen, dass die harten Zeiten in unseren Freundschaften sich schwieriger anfühlen würden als jedes Karrierehindernis und schmerzhafter als die schlimmste Trennung. Angesichts dessen, was wir im Verlauf der nächsten zehn Jahre durchleben sollten, erscheint unsere Vorstellung von Freundschaft als eine Ruhepause von den »wirklich schweren Dingen« im Leben geradezu lächerlich. Wir hatten keine Ahnung, worauf wir uns da einließen.

Wir waren nur glücklich, einander kennengelernt zu haben.

Als der Abspann der Gossip Girl-Episode lief, setzte vor Dayos Reihenhaus ein heftiger Frühlingsregen ein. Aminatou ging die Vordertreppe hinunter und spannte ihren Regenschirm auf in der Hoffnung, Ann würde denselben Nachhauseweg haben wie sie. Aber Ann ging in die andere Richtung. Aminatou winkte zum Abschied, vielleicht ein wenig zu enthusiastisch. Es wurden keine Telefonnummern ausgetauscht, keine Versprechen gemacht, einander auf Social Media ausfindig zu machen, nicht einmal ein »Ich hoffe, man sieht sich bald mal wieder«.

Aber Aminatou hätte sich nicht zu sorgen brauchen. Als sie zu Hause war und sich bei Facebook einloggte, um Ann zu suchen, wartete bereits eine Freundschaftsanfrage auf sie.

Und selbstverständlich klickte sie auf »Annehmen«.

Echte Freundschaft

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