Читать книгу Echte Freundschaft - Aminatou Sow - Страница 7
Zwei Besessen
ОглавлениеAm nächsten Tag war Ann zu einem Networking Dinner in einem schicken indischen Restaurant eingeladen. Sie sah dem Abend mit Unbehagen entgegen. Es war genau die Art von Arbeitsveranstaltung nach Feierabend, die sie hasste, und ihr fielen Millionen Dinge ein, die sie an einem Donnerstag nach der Arbeit lieber tun würde. Auf der Gästeliste stand auch eine konservative Autorin, deren Ansichten Ann zuwider waren, also scherzte sie einer Freundin gegenüber, sie plane, zu spät zu kommen und dann munter zu verkünden: »Sorry, ich hatte noch eine Abtreibung um sechs und dachte, ich wäre schneller fertig!« Aber sie hatte zugesagt, und sie wusste, dass auch Dayo dort sein würde. Also kam Ann pünktlich.
Als sie das Restaurant betrat, war sie hocherfreut, Aminatou bereits am Tisch sitzen zu sehen. Ann sicherte sich rasch den Platz neben ihr.
Wir verfielen in ein rasantes Gespräch über alles außer unserer Arbeit. Unsere erste und größte Meinungsverschiedenheit hatten wir zum Thema Jeansröcke. (Aminatous Position: Sie sehen niemals gut aus. Anns Position: Kommt drauf an. Aminatous Urteil ist seither etwas milder geworden.) Statt uns nach dem Essen auf den Heimweg zu machen, gingen wir in ein nahe gelegenes Kino, wo wir uns eine Spätvorstellung von Beyoncés Glanzleistung in dem Camp-Klassiker Obsessed anschauten. Aminatou hatte den Film bereits zweimal gesehen, doch sie wollte noch mehr Zeit mit Ann verbringen, die ihn hatte sehen wollen, aber bisher nicht dazu gekommen war. Nachdem wir so eine Networking-Veranstaltung in eine Gelegenheit verwandelt hatten, gemeinsam ein Stück trashige Popkultur zu genießen, verspürten wir beide eine Art verschwörerischen Nervenkitzel, als würden wir lange aufbleiben, obwohl am nächsten Tag Schule war.
Nach diesem Abend fing unsere digitale Beziehung an, ernst zu werden. Wir fügten einander auf Gchat hinzu, damals das erste große Commitment in jeder neuen Freundschaft. Unser erster aufgezeichneter E-Mail-Austausch stammt von weniger als einer Woche nach unserer ersten Begegnung, als Aminatou – die Ann inzwischen Amina nannte, wie es andere enge Freund*innen auch taten – Ann einen Artikel über den »Must-have-Jeansrock des Frühlings« weiterleitete. Ein paar Tage später lud Ann Aminatou zu einer Grillparty ein und kreuzte dort im Jeansrock auf, nur um sie zu ärgern. Aber vergesst den Rock, Aminatou war vielmehr beeindruckt davon, dass Ann selbstgemachte Russische Eier mitgebracht hatte.
Bald nach unseren ersten ungeplanten Freundschafts-Dates schickte Aminatou Ann einen weiteren Modeblog-Post. (Die Rolle, die Modeblogs in jenen Tagen vor Instagram innerhalb unseres kulturellen Konsums spielten, kann man gar nicht zu stark betonen.) »Bäh, Jeansrock«, kommentierte sie. Ann erwiderte: »Mir gefällt er! Können wir trotzdem Freundinnen sein?«
»Nur wenn wir uns bald treffen«, antwortete Aminatou.
Der Jeansrock war zum ersten privaten Meme in unserer Freundschaft geworden – ein Nicht-ganz-Witz, auf den wir immer wieder zurückkamen, um einander zu signalisieren, dass wir aufmerksam waren. Diese relativ unbedeutenden Gesprächsthemen waren eine Weise, auf die wir anfingen, unseren gemeinsamen Humor und Geschmack auszubilden.
Im nächsten Monat erfuhr Ann, dass es eine Reality Show über das Leben reicher Teenager in Manhattan nach dem Vorbild von Gossip Girl geben sollte. Selbstverständlich schickte sie Aminatou sofort einen Link und löste damit eine ganze Flut von Nachrichten aus.
Ann: Können wir uns bitte verabreden und diesen Scheiß gucken? Damit wir die Gossip Girl-Auszeit überstehen?
Aminatou: OMG, ja!! Und können wir uns auch dieses WE treffen?
Die Gmail-Beweise lügen nicht: Wir blieben digital in Kontakt, schlugen aber auch stets schnell Gelegenheiten vor, um im echten Leben Zeit miteinander zu verbringen. Wir wussten instinktiv, dass wir uns noch immer in jener fragilen frühen Freundschaftsphase befanden, in der »aus den Augen« schnell zu »aus dem Sinn« wird. Noch waren wir nicht eng miteinander vertraut, wenn wir uns also nicht mehr regelmäßig trafen, würden wir wieder aus dem Leben der anderen verschwinden. Bei einer langjährigen Freundin ist es möglich, sich monatelang nicht zu sehen und sich einander trotzdem nah zu fühlen, aber neue Freundschaften erfordern kontinuierlichen Einsatz.
In unserem Fall war es von Vorteil, dass wir beide etwas sind, das wir gern als »soziale Initiatorinnen« bezeichnen: diejenigen, die die chaotischen Kleidertauschpartys veranstalten (»Freundinnen aller Körpergrößen willkommen!«), diejenigen, die sofort eine Kalendereinladung schicken, wenn jemand sagt: »In das Museum wollte ich auch immer schon mal gehen.« Unsere gemeinsame Sprache der Liebe ist das Schmieden und Einhalten von Plänen. Wir hatten beide schon Momente, in denen wir traurig allein zu Hause saßen, aber wir wissen auch, wie wir diese Energie kanalisieren können, um uns bei einer Freundin zu melden. Man kann uns in jedem Fall als proaktive Frauen bezeichnen.
Folglich sind wir beide frustriert von Freundschaftsschmarotzern. Das sind jene Menschen, die sich ständig beschweren, dass niemand sich mit ihnen treffen will, selbst jedoch niemals eine Kinokarte mehr kaufen und jemanden einladen mitzukommen, oder eine E-Mail schreiben, um Termine für eine lange versprochene Verabredung vorzuschlagen. Schmarotzer überlassen es passiv anderen Leuten, ihren Kalender mit Freizeitaktivitäten zu füllen. Wir hatten jedoch in den frühen Tagen unserer Freundschaft rasch das Gefühl, mit unseren Annäherungsversuchen nicht allein dazustehen. Keine von uns lehnte sich zurück und wartete darauf, dass die andere sich zuerst meldete.
Nicht nur Extrovertierte können Initiator*innen sein. Als introvertierte Person gibt es Aminatou nicht immer Energie, wenn sie unter Menschen ist. Sie lernte früh genug, dass sie für ihr Sozialleben einen Plan benötigte. Regelmäßige Aktivitäten zu zweit zu planen ist eine Möglichkeit für sie, ihre Freundinnen und Freunde zu sehen und zugleich weitgehend die Kontrolle über das soziale Umfeld, in dem sie sich bewegt, zu behalten.
In dieser Phase der freundschaftlichen Annäherung ist eine Struktur für viele Menschen hilfreich: sich gemeinsam für einen Kurs anmelden, einem Verein beitreten oder jeden Freitagabend ins Kino gehen. (Manche Forscher*innen werden euch erzählen, Männer seien so sozialisiert, dass sie Freundschaften um gemeinsame Unternehmungen herum bilden, während für viele Frauen Unternehmungen weniger wichtig seien. Unsinn! Wir kennen auch Frauen, die auf Unternehmungen stehen, und Männer, die sich gern tiefgründig unterhalten.) Was ihr euch auch aussucht, kann zu eurem Ding werden, bis die Freundschaft so stark ist, dass sie auch ohne eine externe Motivation für ein Treffen überleben kann. Ihr wisst, dass es so weit ist, wenn es euch leichtfällt, andere Kontexte vorzuschlagen, in denen ihr euch sehen könnt, und wenn sich eure Freundschaft auf andere Settings ausweitet.
Wären wir nicht bewusst drangeblieben, wären wir wohl zu Menschen geworden, die bloß ab und zu wegen irgendeines besonderen Lebensereignisses im Social-Media-Feed der anderen auftauchen und Fragen aufkommen lassen wie: »Moment mal, wer ist diese Person, die da ihren Verlobungsring präsentiert? Sind wir uns mal bei einer Party begegnet, wo alle etwas mitbringen sollten?« Aber wir machten beinahe augenblicklich etwas miteinander aus – und noch wichtiger, wir hielten unsere Verabredungen dann auch ein. Wir widerstanden der Versuchung, in letzter Minute abzusagen, weil wir den Abend lieber damit verbringen wollten, allein in Unterwäsche Snacks zu futtern.
Irgendwann waren wir uns dann vertraut genug, um unsere Zeit gemeinsam damit zu verbringen, in Unterwäsche Snacks zu futtern.
»Wir müssen uns Zeit nehmen, uns zu sehen«, wurde in einer späteren Phase unserer Freundschaft, in der wir weit voneinander entfernt lebten, zu einem Refrain von Aminatou. Aber diese Maxime lässt sich auch auf die Anfangszeit übertragen. Alle bedeutenden Freundschaften gründen sich auf eine beträchtliche Menge an gemeinsam verbrachter Zeit.
Ihr habt wahrscheinlich schon mal von der 10000-Stunden-Regel gehört. Dem Journalisten Malcolm Gladwell zufolge ist das die Anzahl an Stunden, die benötigt wird, um sich eine Fähigkeit anzueignen. Die Zahl basiert auf der Forschung von K. Anders Ericsson, einem Psychologieprofessor an der Florida State University, der später behauptet hat – überraschende Wendung! –, Gladwell habe seine Arbeit missverstanden. Die 10000-Stunden-Idee wurde dennoch populär, da wir alle gern wissen möchten, wie sich ambitionierte, schwierige Aufgaben in ihre einzelnen Komponenten zerlegen lassen. »In kognitiv anspruchsvollen Bereichen«, schrieb Gladwell, »gibt es keine Naturtalente.«
Für die Freundschaft, unseren kognitiv anspruchsvollen Bereich, werden ebenfalls magische Zahlen genannt: 30 Stunden, 50 Stunden, 140 Stunden und 300 Stunden. Jeffrey A. Hall, ein Wissenschaftler an der University of Kansas, der sich einer Vereinnahmung durch Gladwell bislang entziehen konnte, hat die Anfangsstadien von Freundschaften tatsächlich bemessen. Hall fand heraus, dass Menschen sich nach 30 miteinander verbrachten Stunden als »gute Bekannte« verstehen. Nach 50 Stunden beginnen sie dann, die andere Person als »Freund*in« zu bezeichnen.
Aber erst nach 140 Stunden halten zwei Menschen sich für »gute Freund*innen«. Und »beste Freund*in« ist ein Etikett, das Menschen erst nach 300 miteinander verbrachten Stunden verwenden. Das mag sich nach viel anhören, sind aber tatsächlich nur 12,5 Tage, also gerade einmal etwas länger als eine typische Hochzeitsreise. In etwa entspricht das auch der Zeit, die man benötigt, um gemeinsam eine komplette Fernsehserie zu schauen. In unserem Fall waren es ungefähr ein Dutzend Filme von fragwürdiger Qualität – von denen wir einige nur ertrugen, weil Aminatou gern eine Trinkflasche voll mit Wein ins Kino schmuggelte. Es waren unzählige Folgen NYC Prep und Entourage und RuPaul’s Drag Race. Es waren mehr als nur ein paar Hauspartys und Barnächte.
Unsere gemeinsamen Freundeskreise machten es uns leicht, so viel Zeit miteinander zu verbringen. Die latente »Habe ich vergessen, jemanden einzuladen?«-Angst war ein vorherrschendes Gefühl in unseren Jahren in DC. Wie viele, die in ihren Zwanzigern nach dem College in Städten mit reichlich Job-Chancen leben, hatten wir umfangreiche, untereinander vernetzte Freundeskreise. Die Gruppendynamik konnte großartig sein. Nachdem Ann ein feierliches Essen für »Qualitätszeit unter Freundinnen« in einem Restaurant in einer extravaganten Villa organisiert hatte, verbrachten wir Stunden damit, einander im ganzen Gebäude in dramatischen Posen zu fotografieren. Später fanden wir uns in einer japanischen Bar in der Nähe wieder, wo wir zu T. I. und Rihannas »Live Your Life« Karaoke sangen. Auch auf Partys kreuzten wir im Rudel auf, und wo wir auch hingingen, hatten wir garantiert eine gute Zeit, da wir so viele waren. Wenn man noch auf der Suche nach seinem Platz in der Welt ist oder Dampf ablassen muss, weil man ihn noch nicht gefunden hat, fühlt man sich in einer Gruppe auch in Gesellschaft sicher.
Meistens jedoch konnte man uns antreffen, wie wir in einer unserer Wohnungen beisammensaßen und so gut wie gar nichts taten, über Stunden. Und zwar definitiv mehr als dreihundert.
Im ersten Jahr war Sofazeit ein wesentliches Element unserer Freundschaft. Nach einem kurzen Austausch von »Hey, was machst du gerade?«-Nachrichten stand Aminatou vor Anns Tür. Kaum war sie drinnen, zog sie ihren BH durch den Ärmel ihres T-Shirts aus – selbstverständlich lief Ann bereits mit befreiten Brüsten und in Jogginghose herum. Eine DVD von fragwürdiger Qualität lag bereit. Ann kam mit Snacks aus ihrer winzigen Küche. Sie machte gern selbst Pizza und passte viele der käsebasierten Vorspeisen aus ihrer Heimat im Mittleren Westen an ihren erwachsenen vegetarischen Geschmack an. (Lasst euch von Aminatou gesagt sein: Wenn ihr keine Diva aus dem Mittleren Westen in eurem Leben habt, verpasst ihr eine Menge cremiger, herzhafter und super-streichfähiger Dips.) Wir öffneten eine Flasche Wein oder schenkten uns zwei Gläser Whiskey ein, worauf wir uns in das luxuriöse Gefühl eines urteilsfreien Raums sinken ließen. An anderen Abenden tauchte Ann vor Aminatous Tür auf, schleuderte ihre Schuhe von sich und rollte sich auf einem Ende des Sofas zusammen. Aminatou hatte ihr eigenes Repertoire an Käsedips. Sie hatte im Herzen von Texas gelernt, wie man Queso zubereitete, und kannte jeden Laden in der Stadt, in dem man Ro-Tel-Dosentomaten bekam, die wichtigste Zutat. Ihre Margaritas waren legendär, und selbst wenn sich vor der Tür Schneewehen auftürmten, gaben sie Ann das Gefühl, im Urlaub an einem wärmeren Ort zu sein.
Es hatte etwas ungemein Befriedigendes, sich mit diesen kleinen Gesten umeinander zu kümmern. Für zwei Frauen, die von Müttern großgezogen worden waren, die zu Hause all das Kochen erledigt und sich stets um die Unterhaltung gekümmert hatten, fühlte es sich falsch an, allein füreinander Gerichte zuzubereiten und Filme auszuwählen – ohne dabei an einen Ehemann oder Kinder zu denken. Dieses simple Ritual, das meistens nur uns beide oder noch ein paar andere enge Freundinnen umfasste, wurde zu einem Fundament unserer Freundschaft. Unsere privaten Räume boten uns einen Rückzugsort von den Männern, die unsere Berufswelt dominierten. In unseren Büros und bei den Netzwerktreffen nach Feierabend legten diese fest, was wichtig, was schlau, was lustig und was nützlich war. Es hatte etwas Befreiendes, Zeit allein mit anderen Frauen zu verbringen und dabei unsere Maßstäbe und Definitionen gelten zu lassen. Warum sollten wir überhaupt ausgehen, wenn die Menschen, mit denen wir uns am liebsten unterhielten, bereit waren, sich in Leggings auf den Weg zu uns zu machen und noch eine Flasche Syrah für 6,99 Dollar und eine Tüte Tostitos vom Eckladen mitzubringen?
Auf einer tieferen Ebene signalisierte all diese gemeinsam verbrachte Zeit zu Hause auch, dass wir uns selbst genug waren. Seite an Seite die Sonntagszeitung zu lesen war eine unserer liebsten gemeinsamen Beschäftigungen. Wir brauchten nicht mit einem wechselnden Cast an Bekanntschaften Small Talk zu führen, um ein Gespräch in Gang zu halten. Ebenso wenig war der potenzielle Nervenkitzel eines Flirts an der Bar nötig, damit wir Lust hatten, uns zu treffen. Es hatte etwas unbeschreiblich Beruhigendes, das Nichtstun als eine eigenständige Aktivität zu begreifen.
Wenn wir gerade einmal nicht beisammen waren, schrieben wir uns während des Arbeitstages andauernd Nachrichten. Wir beklagten uns in Echtzeit über Bürostreitigkeiten, schickten einander Links zu Artikeln, die wir gelesen hatten, und schmiedeten Pläne für die Stunden, nachdem wir unsere Computer heruntergefahren hatten, in denen wir das Gespräch von Angesicht zu Angesicht fortführen wollten.
Nicht jede Echte Freundschaft durchläuft eine Phase der intensiven Bindung, die genauso aussieht wie unsere, mit konstantem Kontakt, sowohl online als auch persönlich. Wir kennen beide auch enge Freundschaften, die ihre Stunden der Nähe langsam, über mehrere Jahre angesammelt haben, ohne eine Phase konzentrierter gemeinsamer Zeit, oder auch solche, die ihre Tiefe im digitalen Kontakt fanden. Und in Wahrheit war nicht jede Person, mit der wir Hunderte von Stunden verbracht haben, dazu bestimmt, ein*e Freund*in fürs Leben zu werden. Keine Freundschaft gleicht der anderen genau.
Aber während wir unsere Freundschaft und die Gründe für unseren Wunsch nach deren Dauerhaftigkeit untersuchen, kehren wir immer wieder zu dieser Zeit zurück. Als es später kompliziert wurde zwischen uns, erinnerten wir uns daran, wie wir in all den gemeinsamen Stunden auf dem Sofa in der Lage gewesen waren, Vertrauen und Nähe aufzubauen. Es lag etwas Besonderes darin, wie wir einander unsere Lebensgeschichten erzählten. Die Details, die wir herauspickten. Die Hoffnungen, die wir bis dahin nur andeuten konnten, ohne ihre genauen Konturen zu erkennen, und die Träume, die wir mit Hilfe der anderen in Ziele und schließlich Realitäten verwandelten. Damals war es uns nicht bewusst, aber mit dem Aufbau dieser Freundschaft gaben wir unserem Leben eine Richtung.
Seltsamerweise gelten sowohl die Schulzeit als auch das Studium und die ersten Erwachsenenjahre als prägende Zeit. Dabei bedeuteten für uns auch unsere späten Zwanziger und frühen Dreißiger noch ein ziemlich radikales Wachstum hinein in unsere Erwachsenen-Ichs. Wir hatten die nötige Fluchtgeschwindigkeit erreicht, um das Gravitationsfeld unserer Herkunft zu verlassen, hatten in unseren beruflichen Karrieren bereits Fuß gefasst und fingen langsam an, unser Erwachsenenleben auf die Reihe zu bekommen. Wie möchtest du leben? Wer möchtest du sein? Diese Fragen beantworteten wir gemeinsam.
Auf unseren jeweiligen Sofas erzählten wir einander unsere Geschichten davon, wo wir herkamen, wem wir auf unserem Weg begegnet waren, wen wir geliebt hatten, wovor wir Angst hatten und was wir bereuten. Während wir redeten, fingen wir an zu erkennen, wo wir hinwollten.
Aminatou erzählte Ann, dass sie als ältestes von drei Geschwistern in eine Familie aus Guinea hineingeboren wurde. Sie verbrachte ihre Kindheit in Nigeria, und in den neunziger Jahren in Lagos zu leben bedeutete, politisches Chaos und alle möglichen Dysfunktionen aushalten zu können. Aminatou brachte sich früh selbst Lesen bei, indem sie jeden Papierfetzen entzifferte, den ihre Eltern im Haus herumliegen ließen: internationale Zeitungen, die langweiligen Berichte aus dem Büro ihres Vaters, die Modezeitschriften und Kreuzworträtsel ihrer Mutter. Sich in Büchern und Zeitungen zu verlieren war für sie ein Bewältigungsmechanismus, ein Mittel, um zu vergessen, dass es wochenlang kein fließendes Wasser oder keinen Strom gab. Alle Menschen passen sich irgendwann an, und Aminatous Eltern stellten keine Ausnahme dar. Sie schufen ein Gefühl von Normalität, das Aminatou in späteren Jahren noch viel mehr zu schätzen wissen würde.
Aminatou und ihre Mutter standen sich sehr nah – sie hatten beide die gleiche Unbefangenheit im Umgang mit anderen Menschen und das gleiche laute Lachen –, aber zu ihrem Vater baute sie nur eine Verbindung auf, wenn sie sich in seine sehr ernste Welt hineinbegab. Manche Väter bringen ihren Kindern bei, wie man einen Ball wirft; Aminatous Vater brachte ihr bei, wie man eine großformatige Zeitung faltet. Über alles Bescheid zu wissen war ihr Versuch, Dinge zu finden, über die sie mit ihm diskutieren konnte. Jeden Abend bei Tisch fragte ihr Vater sie und ihre Geschwister aus nach aktuellen Ereignissen, Sport und den Feinheiten des Wirtschaftspartnerschaftsabkommens zwischen der Europäischen Union und Westafrika (»Europas Falle für Afrika!«). Es ergab Sinn, dass ihre Eltern von Informationen besessen waren. Sie lebten im Ausland und saugten jede noch so kleine Neuigkeit von zu Hause auf und wollten beständig mehr, eine Gewohnheit, die sie an Aminatou und ihre Geschwister weitergaben.
Aminatou besuchte vom Kindergarten bis zur neunten Klasse französische internationale Schulen, die in einem beinahe grotesken Ausmaß Wert auf Teamwork, gegenseitigen Respekt und Phantasie legten. Obgleich es ihre Lieblingspausenaktivität war, sich mit der Schulbibliothekarin zu unterhalten und um neue Bücher zu bitten, kam sie mit nahezu allen gut zurecht. Sogar ihre Mobberin aus der Grundschule wurde in der Mittelschule zu einer besten Freundin, mit der sie noch heute in Kontakt steht.
Während sie aufwuchs, bekam Aminatou mit, wie ihre Eltern alle möglichen Menschen in ihrem Haus versammelten, wodurch sie lernte, ihre Schüchternheit zu überwinden und zu einer sozialen Initiatorin zu werden. In Kriegs- und Friedenszeiten über Kontinente hinweg Freundschaften aufrechtzuerhalten, war schlicht ein Lebensstil. An den Wochenenden fuhr die gesamte Familie ins Büro ihres Vaters oder in ein Telekom-Zentrum, um gefühlt jede einzelne Person in der guineischen Diaspora anzurufen. 1996 bekam ihre Familie dann einen Festnetzanschluss, was ein dermaßen wichtiger Meilenstein war, dass Aminatou noch immer jede einzelne Taste auf diesem Telefon beschreiben kann. Aminatous Eltern blieben stundenlang – im Ernst, stundenlang – wach, um so lange Nummern im Ausland zu wählen, bis sie jemanden erreichten. Beide Elternteile schrieben eifrig Briefe an Familie und Freund*innen in der Heimat, und häufig diktierte ihre Mutter Aminatou den Text. In ihrem Teil von Westafrika gab es keine verlässliche Post, also wurden die Briefe Freund*innen auf der Durchreise mitgegeben. Bei Aminatous Eltern wirkte die Zeit und Mühe nie wie eine lästige Pflicht, und sie zeigten Aminatou, dass es möglich war, bedeutende Beziehungen auch über weite Entfernungen hinweg zu führen. Sie erlebte direkt mit, dass das In-Verbindung-Bleiben eine Kunst ist. Und ihre Eltern waren darin Meisterin und Meister.
Als Aminatous Freund Antoine in der Mittelschule nach Madagaskar zog, fanden die beiden heraus, wie sie den diplomatischen Postdienst zu ihrem Vorteil nutzen konnten. Wenn das nicht möglich war, vertrauten sie ihre Korrespondenz allen Erwachsenen an, die irgendwo zwischen Antananarivo und Lagos unterwegs waren. Es war ein Glücksspiel. Briefe gingen verloren. Päckchen tauchten Jahre später auf. Irgendwann wurden Telefonanrufe schließlich einfacher. Sie konnten monatelang nicht miteinander kommunizieren und dann wieder direkt da weitermachen, wo sie aufgehört hatten. Antoine war Aminatous erste wichtige Fernfreundschaft und sollte definitiv nicht ihre letzte bleiben. Auch wenn Aminatou sich für ihre schreckliche Handschrift schämt – nach der französischen Schule ging es mit ihrer Schönschrift steil bergab –, legt sie Wert darauf, von ihren Reisen stets Postkarten zu verschicken (man lernt am besten, sich in einer Stadt zurechtzufinden, wenn man sich auf die Suche nach einer Postfiliale begeben muss), da sie selbst weiß, wie aufregend es ist, den Briefkasten zu öffnen und nicht nur Rechnungen und Werbung, sondern auch ein Schreiben von einer Freundin darin zu finden.
In einem frühen Anflug von Ehrgeiz überzeugte Aminatou ihre Eltern davon, sie auf ein Internat zu schicken. Sie schlossen den Kompromiss, dass dieses nahe genug gelegen sein müsse, damit sie sie leicht besuchen konnten. Sie entschieden sich für eine christliche Schule mit amerikanischem Lehrplan in Zentralnigeria. Aminatou belegte über den Sommer einen Intensivsprachkurs für Englisch und bestand die Zulassungsprüfung mit Leichtigkeit. Die meisten ihrer Klassenkamerad*innen waren Kinder von Missionar*innen, weshalb die Schule sich sehr von der säkularen französischen Erziehung, die sie bis dahin kennengelernt hatte, und von dem in ihrer Familie praktizierten Islam unterschied. Ihre Eltern spielten den Kulturschock herunter, den sie unausweichlich verspüren würde: »Die Christen haben großartige Schulen!«, sagten sie stets. »Respektiere ihren Glauben, und nicke mit, wenn sie beten, dann wird das schon.« Ein unglaublich höflicher Optimismus ist schon immer die Grundhaltung der Familie Sow gewesen.
In dem amerikanisch geführten Internat musste sie sich an einige Dinge anpassen, zum Beispiel daran, ihren geliebten Füllfederhalter durch Bleistifte und vierfarbige BIC-Kugelschreiber zu ersetzen. Ohne die tintenbeschmierten Finger erkannte sie sich selbst kaum wieder. Sie tauschte ihre Lederschultasche gegen einen altersgerechteren Lederschulranzen ein, weigerte sich jedoch, der Rucksackkultur nachzugeben. Sie gehörte zu den Early Adoptern von Athleisure und trug ihre Latschen überall, kombiniert mit ihren geliebten Grobstrick-Cardigans und bedruckten Naf-Naf-Sweatern, wenn es kalt war. Allerdings war nicht alles an der neuen Schule anders. Aminatou war noch immer umgeben von anderen Third-Culture-Kids. In dieser Gruppe war es nichts Besonderes, in einer anderen Kultur aufzuwachsen als die eigenen Eltern oder nicht in dem Land zu leben, das im eigenen Pass stand. Die Vorstellung, ein Leben lang in derselben Straße zu wohnen oder nur auf eine einzige Schule zu gehen, war jemandem wie ihr vollkommen fremd.
Sie schrieb Briefe für Amnesty International, arbeitete ehrenamtlich in der Fistelklinik der Stadt und brachte Frauen im örtlichen Gefängnis Lesen und Schreiben bei, obwohl die Behörden ihnen lediglich Bibelstunden und Häkelkurse erlaubten. Aminatou half den Frauen, Briefe an ihre Familien und ihre Anwält*innen hinauszuschmuggeln. Als ihr Internat seine drakonische Kleiderordnung wiederbelebte, verstand Aminatou nicht, weshalb alle dies für akzeptabel hielten. Sie wollte wissen, wieso es dabei nur um die Kleidung für Mädchen ging, und sie war erzürnt, wenn männliche Lehrer die Mädchen aufforderten, sich vorzubeugen oder hinzuknien, um zu überprüfen, ob deren Kleidung ihren sexistischen Standards genügte. Aminatou kann bis heute nicht häkeln, aber die Amnesty-Briefe, die Fistelklinik und der Widerstand gegen die Schulleitung legten den Grundstein für ihre feministischen Überzeugungen. Zu dem von ihr organisierten Protest gegen den Irakkrieg tauchte zwar niemand auf, aber das brachte sie nicht aus der Fassung. Es amüsierte sie, als eine ehemalige Klassenkameradin, die sie seit über zehn Jahren nicht gesehen hatte, sie kürzlich fragte, wie sie in so jungen Jahren schon so gefestigt in ihren politischen Ansichten gewesen sein konnte. Ohne Zögern antwortete sie: »Meine Welt war größer als die Highschool.«
Das College erschien am Horizont als eine Utopie, in der sie von verwandten Seelen umgeben wäre und die Art von erwachsenen Freundschaften schließen könnte, die sie stets idealisiert hatte. Aminatou zählte die Tage. Von begabten Kindern in ihrer Familie wurde erwartet, dass sie auf eine prestigeträchtige europäische Universität gingen, aber sie wollte an einem Ort Fuß fassen, der noch weiter von alldem entfernt war, was sie kannte. Sie wollte nach Amerika.
Von allen Colleges, an denen sie sich beworben hatte, kamen Zulassungsbescheide, darunter auch von Elite-Unis, zu denen ihr die Beratungslehrerin und ihre Eltern rieten. Aminatou entschied sich jedoch für die University of Texas in Austin, weil in der Broschüre stand, es gebe dort 50000 Studierende. In ihrer Abschlussklasse an der Highschool waren sie zu neunundzwanzigst gewesen, und alle kannten die Familien von allen anderen. Sie wollte anonym sein, eine Nummer auf einem Studierendenausweis.
Aminatou kam allein an der University of Texas an und fand es komisch, dass alle anderen, die neu auf dem Campus waren, am ersten Tag ihre gesamte Familie im Schlepptau hatten. Sie und ihre Eltern hatten sich tränenreich am Flughafen verabschiedet, ehe sie in den Flieger nach Austin gestiegen war, aber sie war nie auf die Idee gekommen, sie könnten sie tatsächlich auf der Reise begleiten. Ihre Eltern hatten sie bis zu diesem Punkt gebracht, und nun war es an ihr, ein neues Leben in einem neuen Land zu beginnen. Zum ersten Mal hatte sie eine leise Ahnung, dass sich ihr Leben stark von dem einer durchschnittlichen texanischen Collegestudentin unterschied, und es war die erste Gelegenheit von vielen, bei denen ihr das Gefühl vermittelt wurde, dass an ihrer Herkunft etwas ungewöhnlich sein könnte.
Sie begann ihr Studium im Frühjahrssemester, und es schien, als hätten alle anderen bereits ihre Zimmergenossinnen für das folgende Jahr ausgewählt und einen stabilen Freundeskreis etabliert. Aber sie war fest entschlossen, ihre Leute zu finden. Ein paar Wochen später kam Aminatou am Infotisch einer Campus-Organisation vorbei, deren Motto sie neugierig machte: »Geist, Liebe, Dienst und Freundschaft«. Okay, wieso nicht? Sie recherchierte und fand heraus, dass Texas Spirits im Grunde eine Studentinnenverbindung für Nerds war, die Gleichberechtigung von Frauen und Männern erreichen wollten, wo sie auch hinkamen. Sie sammelten Geld für wohltätige Zwecke, trugen tieforangefarbene Schals zu UT-Football- und Basketballspielen und giggelten sich durch Verbindungs- und Pyjamapartys. Der Auswahlprozess war furchteinflößend, aber natürlich wurde sie angenommen. Bis heute hat Aminatou eine Vorliebe für exklusive Gruppen und stets das Gefühl, sie könnte sich mit Leichtigkeit in jeden Club einschleusen, um interessante Menschen kennenzulernen. Zu dieser Selbstsicherheit verhilft einem Weltgewandtheit.
Bald dominierten die Spirits ihren Terminkalender. Austin war die perfekte Kulisse für die herrlichen Schwimmnachmittage, Tanzpartys und Margarita-getränkten Nächte, von denen Aminatou sich nicht hätte vorstellen können, wie glücklich sie sie machen würden. Durch die Spirits erfuhr sie die Magie, Zeit mit einer großen Gruppe Frauen zu verbringen, die ihr zuvor im Grunde unbekannt gewesen waren. Auch wenn die Mitgliedschaftsregeln vorgaben, dass sie in ihrem zweiten Jahr wieder aus der Organisation austraten, war das Band zwischen ihnen nun gefestigt und würde sie bis zum Abschluss und darüber hinaus tragen. Dies waren die Freundinnen, die Aminatou sich immer vorgestellt hatte, als sie sich in der Highschool Tagträumen über das Collegeleben hingab. Sie waren an ihrer Seite, als sie ihre ersten wackligen Schritte ins Erwachsenenleben unternahm.
Als eine andere Erstsemesterstudentin sie zu einem »spirituellen Retreat« ihrer Kirche einlud, wusste Aminatou nicht recht, was sie dort erwarten würde, kam aber trotzdem mit. Als sie den Hobbyraum des Hauses im Süden von Austin betrat, sah sie eine umwerfende Blondine, die den Text von »Mr. Jones« schmetterte und dazu auf dem Klavier spielte: »Starin’ at this yellow-haired girl«. Aminatou wollte sie unbedingt kennenlernen.
Sie erfuhr, dass der Name der jungen Frau Brittany war, und auch wenn sie sich auf einer von der Kirche gebilligten Veranstaltung kennengelernt hatten, unterhielten sie sich bei ihrer ersten Verabredung zu ungefähr null Prozent über Jesus und zu hundert Prozent über Musik und Fernsehen. Als Aminatou nicht mehr in die Kirche zurückkehrte, hegte sie keinen Zweifel daran, dass ihre Freundschaft trotzdem halten würde. Und so war es auch. Meistens war es Brittany, die sie vom Flughafen abholte, wenn sie zum Semesterbeginn zurückkehrte. Als zwei Jahre darauf Aminatous Mutter starb, war es Brittany, die »Let Go« von Frou Frou sang, um sie zu trösten, wenn sie weinte. Brittany war nie genervt, egal wie oft Aminatou im Auto »Don’t Panic« von Coldplay oder »Such Great Heights« in der Version von Iron & Wine spielte. Gute Freundinnen lassen ihre trauernden Freundinnen trübe Indie-Songs vom Garden State-Soundtrack hören, ohne sie dafür zu verurteilen. Brittany war in die Sphäre einer Echten Freundschaft vorgedrungen.
Diese College-Freundschaften hatten Aminatou zu der Person gemacht, die Ann schließlich kennenlernen würde. Ann liebte es, Aminatou zuzuhören, wie sie ihre Lebensgeschichte in nichtchronologischen Einzelheiten und urkomischen Anekdoten nacherzählte, während sie sich auf dem Sofa gegenübersaßen. Jedes Mal, wenn Aminatou einen überraschenden Teil ihrer Vergangenheit preisgab, war Ann begeistert. »Du hast ehrenamtlich in einer Fistelklinik gearbeitet?« »Du sprichst fünf Sprachen?« »Du hattest eine christliche Phase?!«
Ann begann, sich eine Geschichte über Aminatou zusammenzubasteln: Ihre neue Freundin war eine Frau mit internationalen Erfahrungen, die in jeder Situation aufblühen und jede Menschenmenge beeindrucken konnte, die emotional widerstandsfähig war und eine feste, unverrückbare Meinung über nahezu alles hatte. Ann erkannte in Aminatou viele Wesenszüge, die sie an sich selbst gern mochte, und viele weitere Eigenschaften, die sie stets hatte erlangen wollen, es aber nie ganz geschafft hatte. Auf einer tieferen Ebene war sie begeistert davon, was Aminatous Eintritt in ihr Leben für sie bedeutete. Auf eine Weise wie noch keine Freundin, die sie je zuvor gehabt hatte, erschien Aminatou Ann wie das Tor zu einer größeren Welt.
Ein Grund dafür, weshalb Ann Aminatou so an den Lippen hing, wenn diese ihre Geschichte erzählte, war ihre Faszination darüber, wie sehr sie sich von ihrer eigenen Geschichte unterschied. Ann war ebenfalls die Älteste von drei Geschwistern, allerdings in Iowa als Tochter von Eltern geboren worden, die niemals mehr als ein paar Autostunden entfernt von dem Ort gelebt hatten, an dem sie selbst aufgewachsen waren. Ihre katholische Familie versuchte ihr viele religiöse Werte zu vermitteln, die bei ihr jedoch nie richtig verfingen (Sorry, aber das ist einfach nur eine Oblate!). Sie hörte früh auf, zur Beichte zu gehen, da sie das Gefühl hatte, von der Sünde der Frechheit gegenüber ihren Eltern nicht durch den Segen eines Priesters und ein paar Rosenkränze freigesprochen werden zu können. Andere Werte ihrer Erziehung sind jedoch nach wie vor tief in ihr verwurzelt, etwa der Respekt vor einer ernsthaften Arbeitsmoral und eine loyale Haltung gegenüber den eigenen Leuten. Ihre Eltern hatten beide ein paar Freund*innen vom College, zu denen sie den Kontakt hielten, außerdem war ihre Mutter eine passionierte Briefeschreiberin. Anns Familie besuchte häufig die Resurrection Church oder aß gemeinsam Aufläufe mit anderen Familien, deren Kinder Anns Klassenkamerad*innen in der Resurrection School waren. Es war alles recht abgeschottet, und bis heute fühlt Ann sich in formellen Gruppen eingesperrt.
Als Ann zwölf war, zog ihre Familie in ein neues Backsteinhaus im Ranchstil, das nur ein paar Straßen entfernt war von ihrem alten Backsteinhaus im Ranchstil. Die Welt außerhalb ihrer kleinen Stadt lernte sie hauptsächlich durch die Fernsehsendungen kennen, die sie schaute, und durch die vielen an so exotischen Schauplätzen wie den Vororten New York Citys oder kanadischen Internaten spielenden Bücher, die sie las. Oftmals borgte sie den Büchereiausweis für Erwachsene von ihrer Mutter, mit dem sie zwanzig Bücher gleichzeitig ausleihen konnte. (Der Kinderausweis erlaubte einem nur zehn.) Einmal im Jahr nahm ihre Großmutter sie mit auf einen Tagesausflug nach Chicago, wo sie sich ein Theaterstück oder ein Musical ansahen. Diese Fahrten wurden von einer örtlichen Bank als Unternehmung für Rentner*innen angeboten, weshalb Ann das einzige Kind in einem Bus voller grauhaariger Damen war. Sie fand es großartig. Es war ihre Eintrittskarte in die große Stadt – von der sie in Büchern wie Harriet, die kleine Detektivin gelesen hatte – und bot ihr die ersten flüchtigen Blicke auf jene Art von Leben, das sie als Erwachsene führen wollte und das sich stark von dem unterschied, das ihre Eltern gewählt hatten.
Wenn ihr wissen möchtet, wie Ann als Teenager aussah, stellt euch die klassische Neunziger-Jahre-Zeichentrickheldin Daria vor, bloß mit ihren schlaksigen ein Meter neunundachtzig noch viel ungelenker. Ihren Eltern missfiel ihre selbst zusammengestellte Secondhand-Garderobe, weshalb sie ihre zerrissenen Vintage-Cordhosen, die den Dresscode-Anforderungen formal noch entsprachen, heimlich mitnahm und sich dann auf der Schultoilette umzog. Ihre beste Freundin Bridget, die sie im Matheunterricht auf der Junior High kennengelernt hatte, lebte direkt neben ihrer Highschool, fuhr aber morgens den ganzen Weg bis zu Anns Haus, um sie abzuholen, wobei aus ihrem in zwei Beigetönen lackierten Nissan meist laut Prince schallte. Wie Ann interessierte sich auch Bridget weder für Schulsport noch für Religion, und die beiden starteten einen extrem verfrühten Countdown bis zu ihrem Abschluss. Sie verbrachten Stunden in Bridgets Keller, wo sie LaCroix tranken und sich alte Hitchcock-Filme und Wiederholungen von Absolutely Fabulous anschauten. Wenn sie nicht bei Bridget war, war sie mit ihrem anderen besten Freund Josh zusammen. Mit ihm arbeitete sie gemeinsam an der Schulzeitung, und die beiden waren zuverlässig dabei anzutreffen, wie sie im örtlichen Plattenladen CDs bestellten oder in einem Einkaufsstraßencafé die New York Times lasen, zuckrigen Latte tranken und Pläne für die Zeit schmiedeten, wenn sie ihre erstickende Stadt verlassen konnten und das Leben endlich wirklich anfinge. Diese beiden Freundschaften bestehen noch immer, womöglich weil sie von Anfang an ebenso sehr in der Zukunft wie in der Gegenwart verankert schienen.
Vielleicht lag es an all den Büchern. Oder vielleicht lag es daran, dass Katholik*innen, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzten, die einzigen Vorbilder aus Anns religiöser Erziehung waren, die sie tatsächlich respektierte. (Ein Dank an Óscar Romero und Dorothy Day.) Was auch immer der genaue Grund gewesen sein mochte, Ann entwickelte ziemlich früh ein soziales Gewissen. Als Teenager leitete sie die Amnesty-International-Gruppe an ihrer Schule, was hieß, dass sie morgens noch vor dem Unterricht erschien, um Briefe für politische Gefangene in Russland und im Tschad zu schreiben. Sie plante ein jährliches Benefizkonzert mit dem unglücklich gewählten Namen Jamnesty, und einmal war sie die einzige Person bei einem Protest gegen die Todesstrafe, den sie auch selbst organisiert hatte. Sie wollte unbedingt an der Welt jenseits ihrer Heimatstadt teilhaben.
Der Tag, an dem Anns Eltern sie zum College brachten, zählt noch immer zu den glücklichsten in ihrem Leben. Endlich war sie frei, ihre eigene Geschichte zu schreiben, frei von den Beschränkungen ihrer Erziehung. Sie hatte schon immer schreiben wollen, aus diesem Grund wählte sie die University of Missouri aus, wegen ihres Journalismus-Bachelors. Hier war sie nun definitiv nicht mehr die einzige Person, die gegen die Todesstrafe protestierte. Und genau wie sie wollten hier alle unbedingt für die College-Zeitungen (ja, es gab gleich mehrere) schreiben und waren darauf gefasst, am Ende um die unmöglich winzige Anzahl an Einstiegsjobs für Reporter*innen zu konkurrieren. Auf einmal war Ann die Norm.
Sie freundete sich mit zwei Fotojournalismusstudentinnen namens Lara und Gracy an, die im selben Betonwohnheim lebten und Anns Musik- und Filmgeschmack teilten. Einmal pro Woche leisteten sie sich ein Abendessen außerhalb des Campus im vegetarischen Restaurant Main Squeeze um die Ecke. Im Jahr darauf wurden diese Frauen zu Anns ersten selbst ausgewählten Mitbewohnerinnen, und gemeinsam erlebten sie die Freuden und Frustrationen des Zusammenlebens. Sie schmissen eine wilde Cocktailparty, bei der eine Gästin aus Versehen einen Rückwärtssalto über das Treppengeländer machte (sie hat es überlebt), und ließen tourende Indie-Rockbands auf ihrem Fußboden und ihrem durchgesessenen Sofa übernachten – das später in Brand gesetzt wurde, als Gracys Freund darauf mit brennender Zigarette einschlief. Unzählige nächtliche Gespräche über aufgewärmte Burritos und Ramen-Nudeln in der seltsamen Küche im oberen Teil des Hauses schweißten sie zusammen. Ann genoss das Gefühl, dass sie einander aus Tausenden Leuten auf dem Campus ausfindig gemacht hatten.
In ihrem letzten Studienjahr wurde Ann aufgefordert, sich einer Spendenkampagne anzuschließen, die mehrere Busladungen von Feministinnen aus Missouri zu einem Protestmarsch gegen die Bush-Regierung in Washington, DC, schicken wollte. Diese Frauen zeigten Ann durch ihr Beispiel, was es bedeutete, sich Feministin zu nennen. Dank ihnen las sie endlich die ikonische Autorin bell hooks! Diese Freundschaften fühlten sich augenblicklich tief an, da sie von gemeinsamen Werten untermauert wurden. Und auch wenn Ann nun verzweifelt darüber nachdachte, wie sie sich eine Karriere als »objektive« Journalistin aufbauen sollte, die zugleich eine leidenschaftliche Feministin war, war sie ihren neuen Freundinnen doch dankbar, diese Schwierigkeit überhaupt erst in ihr Leben gebracht zu haben.
Geschichten wie diese erklärten Aminatou nicht nur, wo Ann herkam. Beim Zuhören spürte Aminatou auch das große Potenzial dieser aufkeimenden Freundschaft. Sie war begeistert, dass sie so viel emotionale und kulturelle DNA mit einer Person teilen konnte, der sie gerade erst begegnet war. Aminatou fand es toll, dass Ann nie voreingenommen und extrem aufgeschlossen war. Sie scheute nicht davor zurück, ihre Bedürfnisse und Wünsche offen auszusprechen, und sie hatte klare Erwartungen daran, wo ihr Platz in der Welt sein sollte. Damit vermittelte Ann Aminatou das Gefühl, sich selbst an erste Stelle setzen zu dürfen.
Wir hingen einander an den Lippen. Dabei bemerkten wir jedoch nicht, dass wir mehr taten, als uns nur unsere jeweils eigenen Geschichten zu erzählen. Wir begannen auch damit, eine gemeinsame Geschichte darüber zu erzählen, wer wir waren.
Bei allen offensichtlichen Unterschieden zwischen uns waren die großen Gemeinsamkeiten kaum zu übersehen.
Wir waren Tausende Meilen voneinander entfernt aufgewachsen, aber wir stammten beide aus relativ konservativen Kulturen, in denen die ersten Fragen an junge Frauen häufig lauteten: »Wie heißt dein Vater? Was macht er beruflich?« Wir hatten uns beide schon immer vom Leben gewünscht, es möge uns weit von zu Hause fortbringen. Für gewöhnlich lasen wir stets ein bis drei verschiedene Bücher gleichzeitig. Wir waren daran gewöhnt, dass die Leute unverschämte Kommentare zu unserer Größe oder unserem Gewicht abgaben. Und auch wenn wir uns darüber beschwerten, wie schwierig es war, coole Kleidung zu finden, die uns passte, oder zugaben, wie unbeholfen wir uns manchmal in unserer eigenen Haut fühlten, wurde doch stets deutlich, dass wir unsere Körper nicht hassten. Wir versuchten nicht, sie zu verändern. Wir teilten den Wunsch, Frauen zu sein, die viel Platz einnahmen und sich weigerten, sich dafür zu entschuldigen. Wir aßen gern allein im Restaurant, am liebsten an der Bar. Unsere Herzen klopften jedes Mal vor Freude, wenn wir eine Gemeinsamkeit zwischen uns entdeckten. Wo ist sie mein ganzes Leben lang nur gewesen?, fragten wir uns. Wie kann ich so viel Glück haben, diese Person zu finden?
Wir erschufen unsere »Geschichte der Gleichheit«, wie es die Linguistin Deborah Tannen nennt. In ihrem Buch You’re the Only One I Can Tell stellt sie fest, dass Menschen, die als Frauen sozialisiert wurden, dazu neigen, Phrasen wie »Dasselbe ist mir auch passiert« und »Ich weiß, so geht es mir auch« in ihre Konversationen einfließen zu lassen. Manchmal kann dieser Prozess laut Tannens Beobachtung auf eine subtile Weise wetteifernd sein – eine Art, einander auszustechen oder die Erfahrung der anderen Person kleinzureden, indem man rasch betont, man habe dasselbe auch schon getan. Allerdings muss es nicht so sein, und wir können ehrlich behaupten, dass wir in jenen Anfangstagen nichts als Bewunderung und Neugier füreinander verspürten.
Wir empfanden uns als so glücklich, eine Person gefunden zu haben, mit der wir genau auf einer Wellenlänge waren. Wir übersahen dabei jedoch, dass wir diese Wellenlänge tatsächlich selbst erzeugten. Unsere Ansichten über das Zeigen von Gefühlen, die Beziehung zu anderen Freund*innen, das Ausdrücken von Verletzlichkeiten und den Umgang mit Konflikten formten sich in Bezug aufeinander. Wir waren beide geschickt darin, unsere Unsicherheiten zu verbergen oder sie rasch mit einem Scherz oder einem bissigen Kommentar abzutun oder herunterzuspielen. Bekannte und Leute aus dem weiteren Freundeskreis sahen uns beide meist als »starke« Persönlichkeiten, die ihr Leben im Griff haben. Es war uns möglich, unsere harten Schalen zu knacken und einander etwas von unserer weichen Unterseite zu zeigen, weil wir in dem Wissen, wie ungewohnt es für uns beide war, gemeinsam darüber lachen konnten. Unserer Selbstbeschreibung zufolge waren wir »Low-Drama-Mamas« – ein Begriff, der in unserem Freundeskreis für Frauen verwendet wurde, die es vermieden, über andere Frauen zu lästern oder einen Streit mit ihnen anzuzetteln. Auf diese Weise distanzierten wir uns von dem Stereotyp, alle Frauen seien dramatisch und wollten andauernd aus einer Mücke einen Elefanten machen. Unsere gemeinsame Erzählung besagte, dass wir beide leidenschaftlich für unsere Ideale einstanden, aber zugleich locker im Umgang waren. Wir strebten danach, die Lieblingsfrauen eurer Lieblingsfrauen zu werden. Wir verbrachten nicht nur eine Menge Zeit miteinander und erkannten unsere Überschneidungspunkte. Wir verstärkten diese auch und verwendeten noch mehr Mühe auf sie.
Mit der Selbsterkenntnis, zu der einem nur Rückschau und Therapie verhelfen können, ist uns jedoch bewusst geworden, dass wir tatsächlich sehr unterschiedliche Menschen sind – insbesondere auf emotionaler Ebene. Wir bemerkten es nicht sofort, da wir so sehr auf unsere Geschichte der Gleichheit fokussiert waren. Später, als andere Teile unserer Beziehung kompliziert wurden, trafen uns diese grundlegenden Unterschiede völlig unvorbereitet.
Uns war nicht klar gewesen, dass wir uns einander in jenen Anfangstagen trotz unserer Unterschiede öffnen konnten. Aminatou erzählt intime Details über ihr Leben nur Menschen, von denen sie denkt, dass sie ihr auch in Zukunft nahestehen werden. Ann geht meist davon aus, dass die Probleme aller anderen Menschen größer sind als ihre eigenen, was sie davon abhalten kann, im Detail über diese zu sprechen. Aber wir kamen uns trotzdem nahe. Wir hielten es damals nicht für ein Risiko und hatten auch nicht das Gefühl, große Schwierigkeiten überwinden zu müssen, wenn wir uns einander mitteilten.
Dieses Gefühl von Sicherheit lag im Kern dessen, was unsere Freundschaft funktionieren ließ.