Читать книгу Die Religionen der Kornelia Braun - Amrei Laforet - Страница 5

Zwei

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Samira, Tine und ich liegen am Strand. Sommerferien. Gut, es ist kein Strand am Meer. Es ist ein Strand am See. Die meisten sind wohl weggefahren, daher ist es hier nicht so voll. Das ist gut. Samira und Tine wollen Beachball spielen. Ich habe keine Lust. Ich habe das Gefühl, ich müsste sehr viel nachdenken. Nur worüber, das weiß ich nicht. Da sehe ich Jemanden, der mir zuwinkt. Ich drehe meinen Kopf nach allen Seiten. Der kann nicht mich meinen. Ich kenne ihn nicht. Er sitzt lässig auf seinem Handtuch, ungefähr zehn Meter entfernt. Er muss mich doch meinen, denn er sieht genau in mein Gesicht. Aber er winkt nicht mehr. Stattdessen grinst er jetzt. Seine Zähne wirken sehr weiß. Das muss daran liegen, dass er eine dunkle Haut hat. Sein Haar ist schwarz und lang und er ist lediglich mit Boxershorts in Reggae- Farben bekleidet. Er hört nicht auf, mich anzugrinsen. Ich schaue irritiert zu Samira und Tine, die lachend Beachball spielen. Kurz überlege ich, zu ihnen zu gehen. Zwei Jungs gehen auf Tine zu. Der eine spricht sie an. Samira, die weiter entfernt steht, ruft ihnen lachend etwas zu. Dann macht sie einen Aufschlag in die Richtung des anderen. Und schon spielen sie zu viert. Ich bin zu schüchtern, mich jetzt noch einzuklinken. Als ich mich umdrehe, steht der grinsende Typ mit den Reggae- Shorts vor mir. Ich wende den Blick von seinen Knien ab und sehe in sein Gesicht. Er grinst und geht in die Hocke, fragt in gebrochenem Englisch, ob ich oft hier bin. Ich weiß nicht warum, aber ich bin plötzlich sehr froh, Englisch zu sprechen. Es scheint mein Gehirn aus einem Nebel zu holen, von dem ich nicht weiß, woher er kommt. Aber er ist schon lange da. Begeistert überlege ich, wie ich was auf Englisch erklären kann. Und fühle mich besser. Er lacht und sogar ich lache. Er kommt aus Brasilien und ist für kurze Zeit in Deutschland, um Abstand zu bekommen, wenn ich es richtig verstanden habe. Von was, weiß ich auch nicht. Egal. Ich habe ein Gefühl von Abenteuer und Neuanfang. Wir verabreden uns für die Disco.

Samira und Tine erzählte ich nichts von meiner neuen Bekanntschaft. Wie jeden Freitagabend gehen wir in unsere Stammdiskothek, das „El Kater“. Es ist keine typische Diskothek, kein großes Gebäude mit unterschiedlichen Bereichen darin. „El Kater“ liegt schräg gegenüber von einem schon lange stillliegendem alten Bahnhof. Der neue Bahnhof ist ungefähr 500 m entfernt, größer, neu. Eine Reihe teilweise renovierungsbedürftiger Häuser schaut auf den alten Bahnhof, auf die dunkelroten Backsteine und die Graffities. In einem dieser alten Häuser ist „El Kater“, unsere Diskothek, ich könnte sie mir nicht schöner vorstellen. Ein großes schwarzes Schild mit einem weißen Kater, der einen grünen Zylinder trägt, hängt über dem Türrahmen der massiven Eichentür, die vollständig nach innen geöffnet wurde und von einem dicken Eisenharken an der Wand gehalten wird. Wir gehen hinein und stehen vor dem Mann, der auch „El Kater“ genannt wird. Er lehnt mit seinem linken Ellenbogen auf dem kleinen Stehtisch, auf dem eine alte Kasse steht. Seine Augen sind grün, seine Augenbrauen weiß und sehr dick. Er hat kein einziges Haar auf dem Kopf. Immer, wenn ich ihn sehe, muss ich mir automatisch einen kleinen grünen Zylinder auf seinem Kopf vorstellen. Jede von uns zahlt fünf Euro und bekommt einen Katzenkopf auf den Handrücken gestempelt. Wir schieben uns in den Raum. An einigen Tischen sitzen bereits ein paar Leute. Die meisten kennen wir vom Sehen her und ein paar wenigen haben wir in unseren Plaudereien schon Spitznamen gegeben. Im El Kater sind alle Altersklassen, alle Bildungsschichten und auch fast alle Musikrichtungen vertreten. Das kann sich das „El Kater“ leisten, weil hier nichts mittelmäßig ist. Gute Musik, eigensinnige Menschen und eine spartanische Einrichtung, allerdings mit vielen Lichterketten und einer riesigen E- Gitarre an einer der Wände, vielleicht sind das die Merkmale, mit denen man unsere Disco beschreiben könnte. Wir haben in unserer Jahrgangsstufe noch ein oder zwei Leute, die hier manchmal sind und auch ein paar andere, die wir vom Sehen her von unserer Schule kennen, kommen regelmäßig. Vielleicht ist vielen anderen das „El Kater“ nicht schick genug, zu „verrucht“, oder sie möchten zu elektronischer Musik tanzen. Samira, Tine und ich gehen durch die Pendeltüren, wie in einen Saloon , in den zweiten Raum direkt über die Tanzfläche und steuern auf einen der hohen Tische mit den hohen Hockern zu. Ich werde unsere Getränke holen, während Samira und Tine unsere Plätze frei halten. Der Raum füllt sich mehr und mehr. Es ist 23Uhr 45. Ich schlängele mich durch die Leute, den Blick eisern auf die drei Gläser Banane- Kirsch- Saft geheftet, die ich zwischen meinen Händen halte. Es läuft ein alter Jimi Hendrix Song. Erleichtert stelle ich die Gläser auf die Tischplatte. Samira nimmt ihre Hand von meinem Hocker und ich setze mich. Eng an Tine gekuschelt steht Fabian. Er winkt mir zu. Ich winke zurück und ziehe etwas Saft durch den Strohhalm. Es wird Rauch auf die Tanzfläche gepustet. Ich bin etwas nervös. Fast bereue ich es, mich mit dem Südländer verabredet zu haben. Aber dann wird „Leyla“ von Eric Clapton gespielt und ich rufe „Also ich gehe jetzt tanzen, kommt einer mit?!“ Keiner hat Lust. Ich hüpfe, beseelt von der Musik los und tanze. In dem nächsten Song wiederholen sich immer wieder die Worte: „Are we humans or are we dancers?“ Da spüre ich etwas hinter mir. Es muss ein Blick auf mich gerichtet sein. Ich drehe mich kurz um und vor mir, vielleicht ein oder zwei Zentimeter kleiner als ich, steht er. Er lächelt mich wieder an. Ich schreie, damit er meine Worte in der lauten Musik verstehen kann „Hi! Ich dachte schon, Du kommst nicht mehr!“ Er scheint mich nicht zu verstehen und ich begreife, dass es nicht an der lauten Musik liegt. „Hi! Nice to see you!“ Er sagt, er gehe zur Bar. Ich nicke und tanze. Als ich später wieder bei Tine und Samira bin, suche ich ihn mit den Augen und sehe ihn mit einem anderen Südländer, vermutlich seinem Kumpel, am Tresen stehen.


So fahre ich also mit dem Fahrrad die Strecke, deren ersten Teil ich schon oft gefahren bin, da er zu dem Baggersee führt, an dem Tine, Samira und ich schon so viele sonnige Nachmittage verbracht haben. Das Dorf hinter dem Baggersee, Sieste, ist umgeben von Bauernhöfen. Ich kann mir Raoul dort überhaupt nicht vorstellen. Am Baggersee und im „El Kater“ wirkt er nicht sehr auffällig. Seine Hautfarbe und seine langen schwarzen Haare, dazu kleine Elemente in seiner Kleidung, die auf Reggae hinweisen und seine vorsichtige und geschmeidige Art sich zu bewegen sind ungewöhnlich. Er hat mir erzählt, dass er herausgefunden hat, dass sein Vater nicht sein leiblicher Vater ist und weil er sowieso nicht wusste, was er mit seiner Zukunft anfangen sollte, war er zu seiner Tante nach Deutschland gereist. Er findet vieles lustig hier. Zum Beispiel schick gekleidete Menschen, die Fahrrad fahren. Oder Hunde, die auf dem Schoß von Herrchen oder Frauchen sitzen. Auch, dass er einen Deutschkurs besuchen muss, damit er eine Zeit lang hier leben darf. Oder dass es bei der größten Hitze keinen einzigen Mann gibt, der mit nacktem Oberkörper durch die Fußgängerzone geht. Und dass es kaum Männer oder Frauen gibt, die sich Anmachsprüche zurufen.

Ich fahre dem gelben Ortsschild entgegen, auf dem „Sieste“ steht. Siehste, denke ich, ganz schön öde. Aber das stimmt so auch wieder nicht. Die Kirche ist sehr schön und die Wiese vor ihr von Birken umgeben, als hätten sie sich an den Zweigen gefasst und sich im Halbkreis vor der Kirche aufgestellt. Sie ist weiß, ihre Türen und Dächer schwarz, als wäre sie die Mutter der weiß schwarzen Birken oder eine Heilige die sie verehren.

Ich finde die Straße, finde die Hausnummer, stelle mein Fahrrad an der Hauswand ab und klingele. Raoul öffnet und tritt sofort zurück, damit ich eintreten kann. Zwei Frauen kommen mir entgegen, beide eher dunkelhäutig mit dunklen, langen Haaren, die eine mit Locken, beide haben knappe Kleider an und Sandalen. Ich trage auch Sandalen und eine kurze Jeanshose, ich komme mir nicht so weiblich vor, wenn ich sie betrachte, sie küssen mich ungefragt auf die Wangen und die eine stellt sich als Raouls Tante vor und fordert mich auf, sie Gracas zu nennen. Aus dem hinteren teil der Wohnung kommt ein Mann in den Flur und wird mir als Manni vorgestellt. Er spricht Deutsch ohne brasilianischen Akzent, er hat dunkelblonde schulterlange Haare und blaue Augen. Wir gehen durch den Flur in das Wohnzimmer und auf die Terrasse, wo ein brasilianisch aussehender Mann an einem großen Tisch sitzt. Die Sonne ist jetzt sehr warm, es ist zehn Uhr morgens und sie sticht bereits. Der Mann und die glatthaarige Frau sind Besuch aus Brasilien, eine Kusine von Gracas, Raouls Tante. Alles fühlt sich an, als wäre es in Bewegung, alles flirrt, mein Kopf, mein Herz… Sie reden brasilianisch, Raoul und ich sitzen mit ihnen am Tisch auf dieser kleinen Terrasse dieser kleinen schlichten Doppelhaushälfte. Es kommt mit alles hell und einfach vor, auch wenn ich sehr aufgeregt bin. Manni grillt Fleisch und Gracas holt eine Schüssel Salat, ihre Kusine schneidet das Baguette in Stücke und Gracas fordert Raoul auf, die Getränke zu holen. Ich folge ihm und er sagt in gebrochenem Deutsch, ich solle die Gläser aus dem Schrank nehmen- er zeigt auf einen Hängeschrank in der Küche. Ich stapele die Gläser zu zwei Türmen und trage sie hinter Raoul her, der eine Flasche Cola und ein Sixpack Bier zur Terasse schleppt. Gracas klatscht in die Hände und beginnt zu jubeln, dann springt sie auf und zieht Raoul am Ohr. „Er isse ganze faule, ne, Raoul, isse schwierig zu bekommen ihn zu helfe! Musst du nicht zu nett sein zu ihm, er isse ganze gerissen.“ Mein Herz rast. Immerhin: Gracas scheint es gut zu meinen mit mir. Wir sitzen und ich verneine, als Manni mir ein Würstchen anbietet. „Oder lieber ein Steak?“ „Nein, danke“, murmele ich, „ich bin Vegetarierin.“ Verwunderte Blicke treffen mich. Nur Manni nimmt es gelassen: „Ist auch besser für die Welt, wenn weniger Fleisch gegessen wird.“ „Oh, Manni“, tiriliert Gracas, „bist du müde wenn esse kein Fleisch.“ Sie lacht ausgelassen und ihre Kusine stimmt mit ein, obwohl sie vermutlich kein Wort verstanden hat. Ich esse viel Salat und Baguette mit Kräuterbutter. Bald hat auch Raoul aufgegessen und er nickt mir zu. „Aufstehen?“ 2Von mir aus“, sage ich und gehe hinter ihm her in sein Zimmer. Irgendwie riecht es hier seltsam, aber viel auffälliger finde ich die Bilder, die hier an der Wand hängen: alle in schwarz- weiss mit seltsamen, ineinander verschlungenen Formen, Zungen, Münder, Arme, Beine, Augen, manchmal Alltagsgegenstände. „Die sind richtig gut“, sage ich. „Ach“, winkt er ab, „ich bin immer zeichnen. Isse auch entspannen.“ Dann nimmt er ein Papier vom Schreibtisch und legt es in meine Hand. „Fur dich“, sagt er. „Erkläre mir doch, was es bedeutet“, sage ich. „Später irgendwann vielleicht“, sagt er lächelnd. Er stellt sich ganz nah vor mich und schubst die Zimmertür mit der Hand ins Schloss. Er küsst mich und führt mich zu seiner Schlafcouch, lässt das Rollo an dem Fenster herunter und hält mich und küsst mich. Ich will weg, ich bleibe, will weg, bleibe und irgendwann ist es okay und es macht mich schwindelig. Er gibt mir ein Stück Schokolade und gemeinsam lutschen wir es. Ich weiß nicht, wie lange wir in dem Zimmer waren, aber als er das Rollo hoch lässt, scheint die Sonne bereits niedriger zu stehen. Aus dem Nebenzimmer tönt Musik. Brasilianisch. Raoul lacht. „Ich mag soetwas“, sagt er und zeigt mir seine CDs. Curt Cubain, the Cure, Kiss und ein paar andere, die ich nicht kenne. „Gehe nach nebenan“, sagt er. Dann verlässt er das Zimmer und wir gehen durch den Flur in das Wohnzimmer, wo getanzt wird. Ich mache mit , ich tanze gern und Gracas und ihre Kusine sind begeistert. Manni, der Brasilianer und Raoul sitzen auf dem Sofa und rauchen Wasserpfeife, während wir drei tanzen. „Du tanze gut, isse Schone!“, jauchzt Gracas. Irgendwann legt Manni andere Musik auf: wunderschöne Rhythmen und eine außergewöhnliche Stimme, die offensichtlich viel Inhalt verspricht. „Wer ist das“, rufe ich, „Das ist schön“. „Isse Tracy Chapman“, ruft Gracas, „Lieblinge von Manni unde mir!“ Irgendwann setzt sich Gracas Kusine, irgendwann auch Gracas und ich. Und dann weihen sie mich in die Kunst des Voodoo ein. Ich habe Bedenken, aber Manni zwinkert mir freundschaftlich zu. „Hate nur zu tun mit gute Energie“, sagt Gracas, „starke Geister nehmen dich und du haste Macht zu heilen. Musse nicht mit lebende Opfer wie oft wird gesagt…“ Meine Augen weiten sich. „Hühner“, sagt Manni, „manche opfern Hühner.“ „Ja, Manni, nun falle nicht immer in Wort mir“, sagt Gracas leicht gereizt und wendet sich mir wieder zu. „Manchmal“, sagt sie und schaut mich mit ihren riesigen braunen Augen an, „manchmal passiert Ungerechtigkeit. Eine Mensch beherrsche andere und mache krank, weil er will sein gesunde. Er nehme gute Energie von eine Mensch und gebe schlechte Energie und dann muß Voodoo- Priester herausfinden mite Krafte von Geistern. Voodoo- Priester sehe was laufe schlechte und wer mache böse was. Und dann“, sie formt beide Hände zu Fäusten und streckt sie dann lang aus, um eine Explosion oder ähnliches zu imitieren, „…bamm…er weisse alles und kann in eine Beschwohrung alles wieder mache fair, wie gehöre, bevor schlechte Mensche mache Chaos mit andere.“ Ich nicke und gähne. Ich denke an mein Fahrrad, dass an der Wand dieses Hauses lehnt. Von weiter hinten, von der anderen Sofaecke aus, schauen mich zwei blitzende dunkle Augen an. „Ich muss nach Hause“, sage ich. „Oh, isse schon so späte?“, sagt Gracas. Dann erzählt sie mir, wie Manni mit seinen beiden Händen ihre Hüfte umfassen kann, weil sie so schmal ist, sie erzählt von ihrer anderen Kusine, der Mutter von Raoul, dass diese viel Stess habe und Raoul seinen leiblichen Vater noch nie gesehen habe und dass er erst einmal hierhergekommen sei, nach Deutschland, um sich auch darüber klar zu werden, was er beruflich machen wolle. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlt sich der Stress eines anderen stressiger für mich an, als mein eigener Stress. Ich lächle beseelt und bleibe über Nacht. Am nächsten Tag frühstücke ich noch mit Gracas, Raoul und Manni. Die Kusine ist mit ihrem Mann wohl wieder abgereist. „Wo hast du das mit dem Voodoo her. Bist du eine Voodoo- Priesterin“, frage ich Gracas und sehe, dass die Küchenuhr dreizehnuhrdreißig anzeigt. „Oh“, sagt sie und ihre großen Augen werden noch größer, „isse alte Tradition bei unse. Ich habe vone meine Großmutter bekommen.“ Manni ergreift das Wort: „Im Grunde genommen ist es Pflanzenheilkunde, verbunden mit einer Familienaufstellung und einfachen Ritualen, die eine Heilung hervorrufen.“ Er beißt in sein Brötchen und steht auf, das Brötchen in der Hand verlässt er den Raum. „Musse arbeite“, flüstert Gracas, „hate mit in Betrieb von seine Vater.“ Ich nicke nachdenklich. Dann helfe ich Gracas den Tisch abzuräumen. Als ich ihr beim Abwasch helfen will, wehrt sie das Angebot strikt ab. „Habe Spaße, ihr zwei“, sagt sie dann lächelnd und nickt mir zu. Raoul und ich fahren zum Badesee. Er hat das riesige Rennrad von Manni, der Sattel ist so weit heruntergeschraubt wie möglich. Wir sitzen im Sand, ich lehne mit dem Rücken an Raouls Brust, er schaut über meine Schulter auf das Wasser und küsst mich hin und wieder in den Nacken, was ich sehr gern habe. Ich fühle die Hitze, habe die schöne Erinnerung an die letzte Nacht: eine neue Lieblingsmisik, brasilianische Herzlichkeit und Voodoo, das nur heilen soll.




Als ich nach Hause komme ist es schon sehr spät. Meine Mutter liegt auf der Couch, ihr Mund ist weit geöffnet und sie schnarcht. Ich finde es wieder einmal absurd, dass dies die gleiche Person ist, die sich für Ballett begeistert. Ich gehe langsam an ihr vorbei, um den Fernseher, der wieder einmal sehr laut läuft, auszuschalten. In dem Moment, wo der Ton verstummt, fährt ihr Oberkörper hoch und sie ruft: „Was?“ Mein Herz rast. Warum habe ich so extrem unangenehme Gefühle für meine Eltern, sobald sie sie selbst sind, frage ich mich und gleich darauf wundere ich mich, mir selbst eine derart kluge Frage gestellt zu haben. Warum läuft mein Gehirn schnell, wenn doch alles Blut in meinen Muskeln ist? Oder ist es meine Seele, die nur durch einen dünnen Faden, der sich unendlich ausdehnen kann, mit meinem Körper verbunden ist? Die Augen meiner Mutter blicken mich verstört an. Dann sagt sie schleppend. „Ach Du bist das.“

„Der Fernseher lief.“

„Papa ist noch beim Schach spielen.“

„Ich gehe schlafen.“

„Ich komme auch gleich.“

Ich gehe in mein Zimmer und schließe die Tür hinter mir. Ich habe neulich einen Schlüssel gefunden, der zu meiner Zimmertür passt. Ich hole ihn aus der Schublade und stecke ihn vorsichtig in das Schlüsselloch und drehe ihn herum. Mein Blut scheint jetzt in meine Füße gesunken zu sein, ich fühle mich todmüde. Langsam ziehe ich meine Schuhe aus. Da klopft es an meiner Tür und kaum eine Sekunde später bewegt sich die Türklinke. „Kornelia?!“

Ich seufze, ich will nicht mit ihr reden.

„Kornelia, wieso schließt Du die Tür ab, das gibt es doch nicht!“

Tränen steigen in meine Augen. Ich fahre nervös mit den Händen durch meine Haare.

„Mach doch die Tür auf, bitte“. Sie klingt wie ein kleines Kind, jetzt. Wenn sie bittet und bettelt oder beschwichtigt, klingt sie wie ein kleines Kind.

„Ich will nur schlafen“, sage ich.

„Was?! Rede doch lauter, ich verstehe dich nicht!“

„Ich bin müde! Ich möchte meine Ruhe haben!“, schreie ich. Habe ich den beiden jemals Sorgen gemacht? Ich war immer lieb, ich habe sie geschont, habe mich angepasst, um ihnen keine Arbeit zu machen und ich habe Gott- weiß- was für sie getan. Habe ich Gott- weiß- was für sie getan. Mir wird mulmig zumute. Ich fühle mich zittrig und schwach.

„Also, das gibt es doch nicht!“ Jetzt klingt sie wie eine empörte alte Tante. „Ich möchte, dass Du die Tür öffnest!“

Automatisch hebt sich mein Hintern vom Bett, tragen mich meine Füße zur Tür, dreht meine Hand den Schlüssel um, schlurfe ich wieder zum Bett und lasse mich auf die Matratze fallen.

Kopfschüttelnd betritt die große Frau mein Zimmer und setzt sich auf meine Bettkante. Ich liege neben ihrem Hinterteil. Das ist mir unangenehm. „Ich bin müde“, murmele ich. Mein Herz schlägt langsam, aber so laut, dass sie es eigentlich hören müsste. Es donnert doch ganz deutlich zwischen mir und ihr. Sie sitzt da, ihre dicken rosigen Lippen trotzig aufeinandergepresst, langsam dreht sich ihr Kopf von links nach rechts, von rechts nach links und so weiter. Sie ekelt mich an. „Bitte“, sage ich vorsichtig, „bitte lass mich in Ruhe.“ „In Ruhäää!“, äfft sie mich nach und stößt dann ein paar dumpfe Lacher aus. Mir läuft ein Schauer den Rücken herunter. Das hier hat es schon zwischen uns gegeben. Ich weiß, das ist millionenfach in mein Herz gestochen und da war mein Herz noch kleiner, als es jetzt ist. Ich starre sie an, ich kann es nicht glauben. Ich höre, wie die Wohnungstür geöffnet wird. Mein Vater tritt ein, zieht seine Schuhe aus und knallt sie neben meiner Zimmertür auf das Parkett des Flures. Dieses Geräusch hat mich schon oft aus dem Schlaf gerissen. Ich habe ihn angefleht, seine Schuhe irgendwo anders hinzuknallen oder sie hinzustellen oder für einen Teppich zu sorgen.

„,Naaabend“, sagt meine Mutter. Es soll wohl lustig klingen, eine Abkürzung für Guten Abend. Für mich klingt es wie eine Mischung aus Narben und labend.

Ein steifer Körper ohne Hals mit zwanghaft aufgerissenen Augen steht in meiner Zimmertür. „Hach, ihr seid hier“, wispert er. Ich zähle die Sekunden. Vier Worte fallen in meinen Kopf: Sie werden zu toten Stunden. Die Worte trösten mich, denn sie fassen meine Gefühle zusammen, sie wissen und fühlen mit mir.


Raoul wird bald zurück nach Brasilien reisen. Wir sehen uns heute das letzte Mal. Er sagt, er kann die Schrecken von Vergangenheit sehen. Er sagt, es sei jetzt sicher, dass er in Brasilien genug Geld zum Studieren haben werde. Er flüstert kurz das Wort „Danke“ und wirkt dann etwas verschämt, fast so, als hätte er ein schlechtes Gewissen. Er dreht sich um und hält mich fest, hält mit einer Hand meinen Mund zu und mit der anderen meine Handgelenke fest umschlossen. In alter Gewohnheit wehre ich mich nicht. Ich bin ein Baby, ein Kleinkind, schwach und ohne Möglichkeiten. Ich bekomme kaum noch Luft. Im letzten Moment nimmt er seine Hand von meinem Mund. Ich schnappe nach Luft und spüre seine Hände wie Handschellen an meinen Handgelenken. Er hat in Brasilien Carpoere gemacht- eine Mischung aus Kampf und Tanz und er macht nun Capoere mit mir. Er zwingt mich. Ich bin ein leichtes Opfer, darauf trainiert, zu wissen, dass es jetzt zwecklos ist, mich zu wehren. Wochen später wird mir klar, dass er mich vergewaltigt hat. Wochen später meine ich, Zusammenhänge zwischen einer miesen Organisation und ihm zu sehen. Wochen später sage ich mir, dass es jetzt egal ist, dass ich genug damit zu tun habe, am Leben zu bleiben. Und dass ich es nur schaffen kann, wenn ich mich auf nichts anderes konzentriere. Wochen später schreibe ich in mein Tagebuch:

„Ich mag Europa und Deutschland. Ich mag Sorgfältigkeit, Höflichkeit und Bildung, Rechtsstaatlichkeit. Ich glaube, Raoul hat sich hier wohl gefühlt. Aber im Nachhinein weiß ich, dass er für mich durch die Sprachprobleme und seine Zerrissenheit nicht viel bedeutet hat. Er hat mir einen Brief geschickt. Er hat seinen leiblichen Vater kennengelernt, der einen hohen Posten beim Militär hat und ihm ein Studium ermöglichen kann. Er hat auch seine Halbschwestern kennengelernt. Ich sehe dünne Mädchen mit langen Haaren und glitzernden Sandalen, die auf Pferden sitzen, die kurz geschorene Mähnen haben und schlecht sitzendes Geschirr tragen. Im Hintergrund Rinder. Ich habe einmal einen Bericht über Südamerikanische Farmen gesehen. Ich bin mir sicher, dass die Hitze und die Grobheit gegenüber den Tieren und der Natur von zu viel Fleischkonsum kommt.“







Die Religionen der Kornelia Braun

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