Читать книгу Die Religionen der Kornelia Braun - Amrei Laforet - Страница 6

Drei

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Frau Kuhlmann hat mich besucht. Ihr Dackel hat etwas abgenommen. „Wir machen beide Diät“, hat sie gesagt, „aber das Alter hinterlässt trotzdem seine Spuren. Bei mir. Dack ist ja noch ein junger Hüpfer.“ Ich habe sie so gern, kann mich aber nicht dazu durchringen, sie zu umarmen, was mir sehr leidtut. Ich sitze starr neben ihr und hoffe, dass sie weiß, wie viel sie mir bedeutet. Sie sieht mich an. Ihre Brille vergrößert ihre feuchten Augen noch zusätzlich. Ihr weißes Haar schaut unter dem Rand ihres grünen Filzhutes hervor. Vor ein paar Jahren war es gelockt. „Das mit der Dauerwelle ist Quatsch“, sagt sie, „kostet nur unnötig Geld“. Ich nicke. Ich höre die Haustür und zucke zusammen. Meine Mutter steht in der Tür. „Frau Kuhlmann!“, ruft sie, als sei der Erzengel Gabriel erschienen. Für mich fühlt es sich auch so an, aber sie hat andere Sorgen: „Kommen Sie doch in das Wohnzimmer!“ Ihr vorwurfsvoller Blick sticht mich kurz, dann verlässt sie das Zimmer und flötet: „Ich setze Kaffee auf!“ „Hätte ich Ihnen ja später noch gemacht“, murmele ich. Da spüre ich Frau Kuhlmanns große, warme, speckige, alte Hand auf meiner. Sie drückt kurz etwas fester zu und sagt: „Mir gefällt es hier mit Dir auf der Kante Deines Bettes und ich hätte den Kaffee auch lieber später getrunken.“ Ich nicke. „Aber“ , sagt sie dann, „ weißt Du, warum ich eigentlich hier bin? Natürlich weißt Du es nicht. Du kannst es ja gar nicht wissen. Ich sage es Dir. Kornelia, es gibt Jemanden, der Dich gern kennenlernen möchte. Sie ist meine beste Freundin.“ Ich stelle mir vor, wie Frau Kuhlmann´s Freundin vor mir steht. Eine Diva mit Paillettenkleid und einer riesigen Sonnenbrille und sie will mich als Model unter Vertrag nehmen. Klar, eine Möglichkeit, woanders hin zu kommen. Aber ich möchte kein Model sein. War ich nicht schon einmal etwas Ähnliches? Ich starre auf meine Knie. Stelle ich meine Füße auf die Zehenspitzen, sind meine Oberschenkel so dünn wie die Kniegelenke. Lege ich die Oberschenkel auf der Bettkante ab, wirken sie ziemlich kräftig. Plötzlich merke ich, was für einen Schwachsinn ich da mache und sehe erschreckt in die großen, feuchten Augen von Frau Kuhlmann. „Kornelia“, sagt sie, als ob ich meinen Namen vergessen haben könnte, „Kornelia, Deine Oma möchte Dich kennenlernen.“ „Kommt doch ins Wohnzimmer!“, schrill macht meine Mutter auf sich aufmerksam. Auch diesen Moment hat sie mir versaut. Ich atme tief ein und dann ganz lange aus. Frau Kuhlmann scheint gerade auch nicht zu wissen, was sie tun soll. Der Dackel sitzt mit seinem Hinterteil auf Frau Kuhlmanns rechter Schuhspitze. Ihre Schuhe sehen aus wie glänzende, leicht spitze, graue Kieselsteine und sie haben einen dicken, nicht sehr hohen Absatz. Ich liebe diese Schuhe, aus denen stämmige Waden ragen, überzogen mit einer herrlich altmodischen, leicht durchsichtigen, bräunlichen Strumpfhose. Und ich schaue wieder zu dem leicht übergewichtigen, weiß gewordenen Dackel. Er ist nie reinrassig gewesen, aber jetzt, wo er weißhaarig geworden ist, sieht er noch mehr nach einem spitzbübischen Mischling aus. Fast wirkt es lässig, wie er da sitzt, auf einer Pobacke, das eine Hinterbein berührt noch nicht einmal richtig den Boden. Er hechelt und dreht jetzt sein Gesicht zu mir. Die großen traurigen Dackelaugen scheinen zu fragen „Was…?“ Da steht meine Mutter plötzlich in der Tür und den Bruchteil einer Sekunde später schauen sie sechs Augen an. „Kommt ihr Kaffeetrinken!“ Ich nicke, bin aus einem Tagtraum erwacht und Frau Kuhlmann hebt ihr dickes Hinterteil an. Das gleiche macht der Dackel. Wir stehen auf und trotten hinter meiner Mutter her, in das perfekt hergerichtete Wohnzimmer. „Ein geordneter Haushalt hat was für sich“, sagt Frau Kuhlmann, leicht anerkennend, mit einer Tendenz zur Herabwürdigung. Das kann meine Mutter gut ignorieren, ganz automatisch. Jetzt weiß ich nicht mehr auf wessen Seite ich bin. Aber ich weiß, vielleicht ist es das einzige, was ich ganz sicher weiß: es gibt diese beiden Seiten und es gab sie so lange ich, Kornelia Braun, auf dieser Welt bin. Der Dackel hechelt so stark, dass es aussieht, als würde er lächeln. „Das sind die Hormone“, „flüstert Frau Kuhlmann mir zu: er hat Hitzewallungen.“ Ich weiß nicht, welche der Wörter, die Frau Kuhlmann gerade eben gesagt hat, zu meiner Mutter durchgedrungen sind. Irgendetwas muss sie jedoch stark verletzt oder stark verärgert haben. Mit heruntergezogenen Mundwinkeln gießt sie zügig den Kaffee ein. „Mehr als eine Tasse gibt es nicht“, sagt sie zu mir. Sie setzt sich und ist fest entschlossen, eine gute Gastgeberin zu sein. „Hatten sie nicht früher dunkleres Haar?“, fragt Frau Kuhlmann. Stille. Der Dackel macht laut „Wuff!“ und wir zucken alle einmal zusammen. „Oh, was habe ich mich erschrocken!“, ruft meine Mutter gut gelaunt und streicht durch ihre dünne, lange, blondierte, glänzende Mähne. Ich weiß wieder nicht auf wessen Seite ich stehe. Ich entscheide mich für den Dackel. Einfach sitzen und sein; egal was gesagt wird, ich verstehe es sowieso nicht. Aber ich werde ihr nicht den Gefallen tun und durch ein lautes „Wuff!“ Anlass zur Schauspielerei bieten. Nein, ich habe mich ausgeklinkt, so lange ich denken kann, habe ich mich ausgeklinkt, wollte etwas anderes, mit einer anderen Familie oder allein. Frau Kuhlmann und den Dackel könnte ich mir als andere Familie vorstellen. Wie wir uns leise unterhalten und frühstücken, während der Dackel sich noch einmal hingelegt hat und sein Schnarchen leise aus einer Ecke des Raumes dringt, während das Radioprogramm von WDR 4 in gleicher Lautstärke aus der anderen Ecke des Raumes zu uns säuselt. Frau Kuhlmann hat sich einen der drei Teller mit Tortenstück und Gabel genommen und kratzt genüsslich an dünnen Spitze. Dann, scheinbar in dem Moment, wo meine Mutter Luft holt, sticht sie sie ab und schiebt sie zwischen ihre dünnen Lippen. Sie fängt zuerst an zu sprechen und beginnt dann zu kauen und zu sprechen. „Frau Braun, sie kennen ja meine liebe Freundin, die Frau Specht. Sie bat mich, mit Ihrer Tochter zu reden, ihr ein paar Dinge zu erklären, so dass…“ Meine Mutter ist rot angelaufen und platzt dazwischen. Ich finde, sie sieht jetzt aus wie Mona oder Lisa von der „Hallo Spencer Show“. „Also Frau Kuhlmann, ich bitte Sie. Wäre es nicht besser, wir würden uns zunächst unter vier Augen unterhalten?! Sie kreuzen hier einfach auf, ohne mein Wissen und drohen mir mit …“ Ich verstehe jetzt nichts mehr. Die beiden haben Geheimnisse vor mir. „Soll ich eine Runde mit Dack gehen?“, schlage ich vor. „Nein, nicht nötig“, sagt Frau Kuhlmann. „Wieso denn nicht???!“, zischt meine Mutter. Ich stehe auf, um den Raum zu verlassen. Dack trottet hinter mir her, er scheint auch genug zu haben. Wir gehen in mein Zimmer und legen uns auf mein Bett. Ich meine, Wortfetzen zu hören. Frau Kuhlmann : „Ihr seid unmögliche Menschen!“ Meine Mutter sehe ich, wie sie ihre Lippen aufeinanderpresst, die Mundwinkel sind stark heruntergezogen und ihr Kopf dreht sich von links nach rechts, von rechts nach links und so weiter. Dack hat sich neben mir eingerollt, sein Rücken liegt an meinem Bauch. Ich finde diese Nähe beunruhigend, aber ich denke, es ist doch nur Dack. Ich versuche nichts zu hören, doch das ist schwer. Starr liege ich da, vielleicht hat meine Kälte die Hitzewallungen von Dack heruntergekühlt, denn er hechelt nicht, er schnarcht jetzt. Ich weiß nicht, was sich gerade bei mir festfriert. Langsam, um Dack nicht zu wecken, stehe ich auf und stelle mich an mein Fenster. Bald bin ich weg, denke ich. Bald bin ich ganz woanders. Ich würde gern zu Frau Kuhlmann, aber müsste ich dann nicht alles auspacken? Würde sie mich dann nicht Tag für Tag erleben, ginge dass überhaupt. Nein, denke ich und hebe mein Kinn. Ich habe größeres vor. Ich werde euch schon zeigen, was für ein Mensch ich eigentlich bin. Ich bin hungrig nach Freiheit und harte Arbeit macht mir nichts aus, das ist ein Klacks gegen das, was ich bereits geschafft habe.

Meine Mutter schleicht sich langsam an meine Zimmertür heran. Ich spüre sie hinter mir. Lächerlich, dass sie schleicht, völlig unnatürlich für sie, übertrieben, aufgesetzt, fast schon um mich zu provozieren. „Kornelia“, flüstert sie, „Frau Kuhlmann und ich möchten Dir etwas sagen.“ „Dann sag es doch“, sage ich, noch immer mit dem Rücken zu ihr. „Jetzt kommen Sie da weg und lassen sie uns vernünftig miteinander umgehen“, höre ich frau Kuhlmanns sonore Stimme. Sie lässt eine zentnerschwere Last von meinen Schultern gleiten, einen Stein aus meinem Herzen fallen und ich kann tief durchatmen, Luft holen, wieder atmen. „Gehen wir in das Wohnzimmer?“, fragt meine Mutter und Frau Kuhlmann und ich nicken. Dack bleibt schnarchend auf meinem Bett liegen. Wir gehen wie eine ernste Prüfungskommission hintereinander in das Wohnzimmer. Was geprüft werden soll, wird sich herausstellen. Ich lasse mich in den Sessel fallen, schnappe mir ein Kuchenstück und schlinge es herunter, als ob es mir Zauberkräfte verleihen könnte. Ich spüle mit Kaffee nach. Meine Mutter denkt kurz darüber nach, mich zurückzuhalten, entscheidet sich dann aber, nichts zu tun. Ich habe mich im Schneidersitz hingesetzt und bin jetzt bereit. „So, sagt Frau Kuhlmann“ und schaut zu meiner Mutter, „nun fangen Sie mal an.“ Mir ist die Situation hochgradig peinlich, vermutlich ist ihr Peinlichkeitsgefühl noch zusätzlich, direkt auf meinem eigenen gelandet. Sie schüttelt mit dem Kopf. Und schaut auf den Boden. „Ich bin sowieso bald weg“, seufze ich. „Echt?“, fragt frau Kuhlmann. Ich nicke. „Habe einen Arbeitsvertrag auf einer Farm in Island.“ „Das klingt nicht nach Spaß. Du hast doch Dein Abitur geschafft. Da wäre doch eine Belohnung angebracht.“ Ich zucke mit den Schultern und schaue zu meiner Mutter, die Frau Kuhlmann fassungslos anstarrt. „Was geht Sie das denn an?!“, entfährt es ihr. Frau Kuhlmann dreht sich langsam zu ihr. „Frau Braun“, sagt sie zu meiner Mutter, „ich bin die beste Freundin Ihrer Mutter, Kornelias Großmutter. Ihre Mutter schafft es nicht, selbst hierher zu kommen, um mit Ihnen zu reden. Daher bin ich gekommen. Mich geht das Ganze so viel an, wie ich bereit bin, es mich angehen zu lassen. Und ich bin bereit. Ihre Tochter weiß vermutlich nicht mehr viel von dem, was früher passiert ist, nein; was Sie, Sie beide, Sie und ihr Mann mit ihr angestellt haben. Aber es war ja genug, um Ihrer Mutter die wohl schwierigste Entscheidung ihres Lebens abzuverlangen. Sie hätte Kornelia gern aufwachsen gesehen, wäre gern für sie da gewesen, aber SIE HAT ES NICHT AUSGEHALTEN. Sie hat es nicht geschafft, denn jedes Mal, wenn sie die Kleine sah, musste sie daran denken, was sie letzte Nacht erlebt haben könnte. Oder was sie die kommende Nacht erleben würde. Und jedes Mal, wenn sie einen von euch sah, war ihre Wut so groß, dass ihr Gehirn zu nichts mehr fähig war und sie hat Tage danach noch diesen starren Blick ins Leere gehabt, der weit weg ist, weit, ganz tief im Schock. Sie hat sich gefragt, was das Beste sei. Für alle. Sie hatte ja auf juristischem Weg keine Chance, wie Sie ja wissen. Und das Kind war schon so verstört, Entschuldigung, Kornelia, aber..“ Ich nicke nur mechanisch, meine Lippen sehen aus wie ein Entenschnabel. „Frau Braun. Ihre Mutter hat sich gesagt: ich zeige meiner Enkelin, dass ich mit So etwas NICHTS zu tun haben möchte. Sie und ihr Mann hatten ja genug Anhänger, Sie haben es ja verstanden, sich beliebt zu machen, die Gutbürger zu spielen, die immer für andere da sind, die WERTVOLL für unsere Gesellschaft sind und die meisten wollten das einfach glauben. Aber Gerti nicht. Hannah wusste ALLES, ihr habt ja nicht einmal versucht, es zu verbergen, habt euch noch darin gesonnt, wie frei ihr euch ausleben könnt, dass euch niemand was kann, weil ihr ja so intelligent seid, ein perfektes Verbrecherpaar. Hannah sagte sich: ich zeige meiner Enkelin, dass man keine Kompromisse machen muss. Ich zeige ihr, dass man auch ohne Familie leben kann, dass man sich ausklinken kann. Ihre größte Angst war, dass Kornelia auch ein Sektenmitglied wird.“ Mir wird schwindelig, ich höre das aufgesetzte Lachen meiner Mutter und weiß, jetzt redet sie sich um Kopf und Kragen und behält am Ende beides und meine Oma- ich habe eine Oma, es gibt sie noch!- meine Oma und ich, wir haben unseren Dickkopf. Ich habe gern einen Dickkopf, weil man dann unabhängig bleibt, zumindest innerlich. Ich sehe die Hand meiner Mutter vor meinen Augen und Frau Kuhlmann fragt, warum meine Mutter mit ihrer Hand vor meinem Gesicht herumwedelt und meine Mutter sagt, weil ich so einen starren Blick habe, damit ich wieder normal in die Welt schaue.

Ich sehe sie an. Sehe ihre schönen Augen, die langen blonden Haare, die sie zu einem glänzenden Knoten zusammengesteckt hat, ihr Gesicht ist etwas streng, es zeugt von Disziplin und Gepflegtheit, Sorgfalt und Ehrgeiz. Sie, die Ballettlehrerin, die freundlich und herzlich wirkt, wenn sie mit ihr anvertrauten Kindern und Jugendlichen und deren Angehörigen umgeht. Sie, die von vielen geschätzt wird. Sie, die Wohltätigkeitsveranstaltungen mit Aufführungen unterstützt. Kann das alles eine Person sein? „Geht es Dir nicht gut?“, fragt sie. Aber ich habe schon lange aufgehört, dem besorgten Tonfall in ihrer Stimme zu vertrauen. Es ist fast unerträglich, wie gut sie schauspielern kann. Ich frage mich, ob man das alles so zusammenfassen könnte: sie erfüllt ihre Pflicht, ihrer Meinung nach ist das ausreichend. Aber für wen erfüllt sie ihre Pflicht. Für sich selbst oder das Dunkle dahinter. Ich finde, dass beides verachtenswert ist. Für sich selbst eine Pflicht zu erfüllen ist egoistisch und manchmal dient es einfach nur dazu, die Achtung vor sich selbst nicht zu verlieren. Pflichten hat man doch anderen gegenüber, oder nicht? Ich seufze und sage: „Ach Gottchen.“ Meine Mutter lächelt. Es tut mir weh, wenn ich sie amüsiere. Ich gönne ihr das nicht. Dass ich mich verausgabe und sie die Früchte davon trägt. Ich weiß, dass sie denkt, ich sei schwerer psychisch krank, als ich es bin. Ich habe mir abgewöhnen können, mich ihr gegenüber zu öffnen. „Was wünscht Du Dir am allermeisten?“, fragt sie und ich bin entwaffnet. Eine alte, automatische Reaktion von mir auf diese Frage ist Freude, Begeisterung, Verdrängung. Alles neu. Einen Wunsch erfüllen wir Dir. Ich verfalle zum ersten Mal nicht der Versuchung. Ich denke, dass ich mir wünsche, meine Oma zu besuchen. „Möchtest Du Deine Oma einmal wieder sehen?“, fragt meine Mutter vorsichtig, als wäre ich eine Bombe, die bei einem bestimmten Wort explodiert. Ich lehne mich zurück, meine Augen weiten sich. „Es geht ihr nicht gut. Wir vermuten, dass ihr nicht mehr viel Zeit bleibt“, flüstert meine Mutter. Das Flüstern passt nicht zu dieser direkten Aussage. „Puh“, sage ich. Ich stehe auf und gehe in mein Zimmer. „Du hast fast nichts gegessen“, sagt meine Mutter. Ich drehe mich um, gehe zum Kühlschrank und nehme mir zwei Becher Joghurt hinaus, drehe mich um und gehe in mein Zimmer. Ein zu dünnes Kind ist ihr wahrscheinlich zu auffällig, denke ich und überlege, wie ich den Joghurt aus dem Becher in meinen Mund bekommen soll. „Verdammte Scheiße!“, schreie ich, „Verdammte verfuckte Mistscheiße!!!“ „Alles ok?“, ruft meine Mutter. Ich stehe auf und gebe meiner Zimmertür einen harten Tritt, so dass sie in das Türschloss knallt und die Wände zu zittern scheinen. Ich drehe den Schlüssel um und lasse mich wieder auf mein Bett fallen. Dabei habe ich einen der beiden Joghurtbecher zerquetscht, der nun zwischen meinem hintern und der Bettdecke klebt. Den anderen habe ich in meiner Hand. Ich ziehe den Deckel ab und schütte mir den Joghurt in den Rachen. Ich glaube, die Freundin meiner Oma hat sich jetzt von meiner Mutter verabschiedet. Einer mehr, denke ich, dem ich jetzt vermutlich gleichgültig geworden bin. Ich liege die halbe Nacht wach und tränen laufen aus meinen Augen. Mein Hals tut vom unterdrücken des Schluchzens sehr weh und ich denke, dass es verdammt ungerecht ist, dass manche sich eine schöne Fassade erhalten können und dahinter die größten Arschlöcher sind und andere niemandem etwas Böses wollen und als Arschlöcher abgestempelt werden.


Ich stehe vor dem Spiegel und sehe ein dünnes Mädchen mit dunkelblonden Haaren und großen grünen Augen. Ich weiß, dass dieses Mädchen alles machen kann, was sie sich vornimmt. Sie sieht aus, als wäre sie weise und schüchtern und hätte eine starke Sehnsucht. Mein Kumpel Frederick sagt, ich sollte etwas Soziales studieren. Ich hätte durch meine Eltern kein Problem mit schwierigen Situationen. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Ich weiß nur, dass ich Fernweh habe. Fernweh nach Himmel, Wellen, Wind, nein Sturm. Eisklare Luft, vielleicht nicht gemähtes Gras, dass vom der Wind erst in die eine, dann in die andere Richtung gepeitscht wird. Frederick, Samira und Tine wollen nach New York. Ich kann mich nicht entscheiden, mit ihnen zu fliegen. Ich habe auch nicht genug Geld dafür. Ich bewerbe mich für Arbeitsplatz auf Island. Es werden junge Leute gesucht, die für ein geringes Gehalt auf Farmen mitarbeiten. Wenn es klappt, dann gehe ich dorthin. Wenn es nicht klappt, versuche ich an das dafür notwendige Geld zu kommen und fliege ich mit den anderen nach New York. Ich will nicht nach New York. Aber ich möchte mit Frederick, Samira und Tine Abenteuer erleben. Sie möchten unbedingt in die USA und auch dringend in die möglichst größte Stadt. Ich träume von Weite und klarer Luft, von Seevögeln und Einsamkeit.

„Mach doch ein freiwilliges ökologisches Jahr auf einer Nordseeinsel“, sagt meine Mutter, während sie unser Abendessen zubereitet, „oder einer Ostseeinsel.“ Ich kann nichts sagen. Mein Kopf ist leer. Es ist zu viel für mich. Ich habe mich für einen Arbeitsplatz auf einer Farm in Island beworben und möchte über nichts mehr nachdenken. Sie weiß doch, dass ich mich in Island beworben habe. Ich decke den Tisch. Wie oft habe ich diesen Tisch wohl schon gedeckt.


Ich bin im Flugzeug geflogen, am Flughafen gelandet, habe samt meinem Gepäck dann wie geplant den richtigen Bus genommen und stehe jetzt an dem Busbahnhof in Reykjavik. Hoffentlich bin ich am richtigen Ort. Die Zeit stimmt. Ich stehe da, eingekreist von einem Koffer und einer Reisetasche, mit einem Rucksack auf dem Rücken. Ich habe mir das Schild um den Hals gehängt, das ich in Deutschland angefertigt habe. Es könnte „Bin am Ende der Welt“ oder „Mir geht es gut, ich sehe immer so aus“ darauf stehen. Aber es steht die Adresse meiner Arbeitsfarm darauf. Wie verabredet.


















Die Religionen der Kornelia Braun

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