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Kapitel 4
ОглавлениеStaunend stand Julia am Fenster und starrte in die Nacht. Das Feuerwerk hatte es in sich und war bestimmt kein billiger Spaß. Sie stimmte in die vielen Ahs und Ohs mit ein und erfreute sich am Anblick der blitzenden Lichter. Wenigstens eine kleine Entschädigung für diesen verhunzten Tag.
Ein leises Kratzen an der Tür ließ sie aufhorchen. Sie versuchte angestrengt zu lauschen, doch die Explosionen der Feuerwerkskörper übertönten sämtliche Geräusche. Was soll’s, dachte sie schulterzuckend. Das Schloss war alt, da knackte es schon mal im Gebälk. Sie richtete ihren Blick wieder aus dem Fenster und verfolgte aufmerksam das leuchtende Schauspiel am Himmel.
Wiederholt kratzte etwas an der Tür und diesmal pendelte sogar der Anhänger des Zimmerschlüssels leicht hin und her. Hatte Christian schon Feierabend? Aber warum klopfte er dann nicht an?
Sie humpelte zur Tür und drehte den Schlüssel herum. Wieder war ein kräftiger Zug von Nöten, um die Tür zu öffnen. Verwundert blickte sie nach rechts und links, aber niemand war zu sehen. Seltsam.
Im hinteren Bereich des Flures knarrten die Dielen und Julia hörte ein Flüstern. Was zum Teufel war das? Trieb vielleicht ein Taschendieb sein Unwesen, weil die Gelegenheit gerade günstig war? Während die Hochzeitsgesellschaft draußen feierte, konnten die Zimmer in aller Ruhe ausgeräumt werden. Besser, sie ging auf Nummer sicher.
„Hallo? Ist da jemand?“
Eine Treppenstufe knarzte und das Wispern verstummte. Julia zog sich rasch ihre Jeans über und betrat den Flur.
„Was soll denn das? Ich weiß genau, dass Sie hier sind.“
Ein missgelaunter Ton schwang in ihrer Stimme mit und sie humpelte verärgert in Richtung Treppe. Über ihr erklang ein leises Kichern und sofort erinnerte sie sich an die Begegnung vom Vormittag. Geisterte das Mädchen vielleicht auf dem Dachboden herum?
Kaum hatte Julia die Treppe erreicht, fiel ihr etwas direkt vor die Füße. Erschrocken wich sie zurück und klammerte sich am Geländer fest. Jemand hatte einen Ball vom Dachgeschoss in die darunterliegende Etage geworfen und nun hüpfte dieser fröhlich die restlichen Stufen herunter, während Julia einen Heldentod starb. Unten in der Lobby prallte der rote Ball von einer Wand ab und rollte noch ein kleines Stückchen, bevor er neben einem Sessel liegen blieb.
Julia mochte Kinder, gar keine Frage, aber was dieses Mädchen trieb, ging ihr eindeutig zu weit. Um diese Uhrzeit gehörten Kinder ins Bett und daran würde sich auch in hundert Jahren nichts ändern. Verärgert erklomm sie die Stufen zum Dachgeschoss und biss die Zähne fest zusammen. Warum musste sie sich auch ausgerechnet heute den Knöchel verstauchen?
Nachdem sie oben angekommen war, schaute sie sich suchend um. Der Flur im Dachgeschoss war nur spärlich ausgeleuchtet und das Mädchen konnte sich praktisch hinter jeder Nische verbergen. Julia fühlte sich beobachtet und wäre am liebsten umgekehrt. Erneut knarrten die Dielen und ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.
„Warum versteckst du dich vor mir?“
Mit der Zeit machte sich ihre innere Anspannung bemerkbar und Julias Hände zitterten. Zögernd näherte sie sich dem Bereich, der im Lichtschatten lag, und spürte den eigenen Herzschlag. Sie hielt den Atem an und warf einen Blick in die Nische, doch die war leer. Wohin war das Mädchen nur verschwunden?
Obwohl in diesem Bereich keine Gäste untergebracht waren, rüttelte Julia sicherheitshalber an allen Türen, vergebens. Ratlos machte sie kehrt, um wenigstens den Ball in der Lobby an sich zu nehmen. Als sie den Bereich neben den Sesseln absuchte, hörte sie ein lautes Räuspern hinter sich.
„Christian, was machst du denn hier?“, rief sie erstaunt.
„Das Gleiche wollte ich dich gerade fragen.“
„Ich suche den Ball.“
„Du suchst was?“
„Ich suche den Ball von diesem Mädchen.“
„Hast du etwa getrunken? In der Minibar befinden sich doch nur Wasser und Saft.“
„Christian, ich trinke nicht“, erwiderte sie empört. „Jemand hat sich vorhin auf dem Flur herumgetrieben und einen Ball die Treppe heruntergeworfen. Und den suche ich jetzt.“
Christian ging in die Hocke und durchsuchte mit ihr gemeinsam die Lobby „Hier ist nichts.“ Er klopfte sich den Staub von der Hose und wiegte skeptisch seinen Kopf. „Bist du dir wirklich sicher, was du gesehen hast?“
„Du glaubst mir nicht?“ Fassungslos sah sie ihn an. „Weißt du, was ich jetzt zu tun gedenke? Ich fahre nach Hause!“
Sie machte auf dem Absatz kehrt und humpelte mit schmerzverzerrtem Gesicht die Treppe hinauf, um ihre Sachen zu holen.
„Tut mir leid Christian, aber für mich war dieser Tag ein einziges Desaster und es besteht garantiert kein Wiederholungsbedarf. Ich wünsche dir eine gute Nacht.“
Ohne ein weiteres Wort zu verschwenden, ließ sie Christian einfach stehen. In der Lobby kam ihr das Küchenpersonal entgegen und grinste wissend, als sie samt Tasche durch die Tür des Schlosshotels nach draußen verschwand.
Frierend saß Julia im eiskalten Wagen und versuchte mit steifen Fingern den Motor zu starten. Nach mehreren Versuchen sprang er endlich an und sie trat auf das Gaspedal. Langsam rollte das Fahrzeug in Richtung Hauptstraße und sie konnte kaum glauben, wer dort einsam und verloren am Straßenrand stand.
Der eisige Wind zerrte an dem dünnen Kleidchen und wirbelte unbarmherzig durch die blonden Locken. Den verblichenen Ball fest an ihre Brust gepresst blickte das Mädchen dem Fahrzeug mit wehmütigem Blick hinterher.
Umgehend trat Julia auf die Bremse und der Kleinwagen geriet gefährlich ins Schleudern, denn der nächtliche Raureif hatte für einen rutschigen Untergrund gesorgt. Nach einer Schrecksekunde steuerte sie gegen und der Wagen kam zum Stehen. Julia stieg aus und humpelte zurück, um die Kleine mitzunehmen. Doch wie groß war ihr Erstaunen, als sie am Straßenrand nur blätterloses Strauchwerk vorfand. Von dem Mädchen fehlte jede Spur.
War sie einer optischen Täuschung aufgesessen? Oder hatte sie nur gesehen, was sie unbedingt hatte sehen wollen?
Der geschwollene Knöchel schmerzte und sie war völlig übermüdet, es machte keinen Sinn, weiter nach dem Mädchen zu suchen. Julia glitt wieder hinter das Steuer und trat aufs Gas. Sie wollte nur noch weg von hier.
Der schrille Klingelton des Telefons zerriss die Stille. Verschlafen rieb sich Julia die Augen und ein Blick auf den Wecker ließ sie erahnen, wer da am anderen Ende der Leitung mit ihr sprechen wollte. Sie hätte pünktlich um zwölf bei ihren Eltern zum gemeinsamen Mittagessen sein sollen, aber inzwischen war es kurz vor eins.
„Mädchen, wo bleibst du denn? Wir machen uns schon Sorgen.“ Ein vorwurfsvoller Ton schwang in der Stimme ihrer Mutter mit.
„Dir auch einen schönen Sonntag, Mam.“
„Was soll der trotzige Tonfall? Warum bist du nicht gekommen?“
„Ich habe verschlafen, tut mir leid.“
„Das verstehe ich nicht, die Mittagszeit ist doch schon längst vorüber, wie kann man denn da verschlafen?“
„Ich war gestern aus.“
„Warum hast du denn nicht Bescheid gegeben? Dann hätte ich eine Portion weniger gekocht.“
Julia holte tief Luft. „Mam, es war bestimmt keine Absicht.“
„Was ist jetzt, kommst du noch oder soll ich abräumen?“
„Ich setze mich gleich ins Auto und fahre los. Kannst du dich damit arrangieren?“
„Habe ich eine Wahl?“
Julias Eltern machten immer sofort ein Drama daraus, wenn nur eine Kleinigkeit aus dem Ruder lief. Leider gehörte eine fünfminütige Verspätung schon dazu und sie hatte das vorgeschriebene Zeitlimit bereits deutlich überschritten. Dieses Wochenende stand unter keinem guten Stern, aber das nächste würde sicher besser werden.
Auf der Fahrt zu ihren Eltern versuchte Julia, das Erlebte zu verarbeiten. Was hatte es mit diesem mysteriösen Mädchen nur auf sich? Schon bei dem Gedanken an das dünne Sommerkleidchen begann sie zu frösteln. Erneut rief sie sich die unheimliche Geräuschkulisse ins Gedächtnis und wie der Ball allein von Stufe zu Stufe nach unten gehüpft war. Diese Erinnerungen lösten ein unangenehmes Kribbeln in ihrer Bauchgegend aus. Hatten ihr die Sinne vielleicht einen bösen Streich gespielt?
Nachdem Julia den Wagen in der Einfahrt des Elternhauses abgestellt hatte, drückte sie auf die Klingel und vernahm die schlurfenden Schritte ihrer Mutter hinter der Tür.
„Da bist du ja endlich, komm rein.“
Julia zog die Jacke aus und folgte ihrer Mutter ins Esszimmer.
„Hallo Paps, hallo Beatrice.“
Ihre Schwester grinste. „Na, wo hast du dich denn herumgetrieben? Warst du mit dem Herrn von neulich unterwegs?“
Julia warf ihr einen giftigen Blick zu. „Und wo hast du deine neue Liebe gelassen, wenn ich fragen darf?“
„Wage es ja nicht …“, knurrte Beatrice. Ihr Schwesterherz war stets darauf bedacht, alles geheim zu halten.
„Müsst ihr euch ständig kabbeln? Kann man nicht wenigstens zur Vorweihnachtszeit etwas Rücksicht aufeinander nehmen?“ Der strenge Blick der Mutter ließ die Schwestern verstummen. „Hast du einen neuen Freund, Julia?“
Augenblicklich schnellten Beatrices Mundwinkel voller Schadenfreude nach oben. Warum hakte Mutter eigentlich nie nach, wenn Julia etwas von Beatrice preisgab? Stattdessen musste sie nun Rede und Antwort stehen.
„Nein, er hat mich nur zum Essen eingeladen, mehr war da nicht.“
Hoffentlich lief sie nicht rot an, denn sie hasste es, zu lügen. Glücklicherweise war ja nichts passiert, dessen sie sich schämen müsste.
„Wenn ich es mir recht überlege Julia, wäre ein reiferer Mann vielleicht gar nicht so schlecht. Er steht mit beiden Beinen im Leben und verfügt über eine gewisse Erfahrung, um es einmal vorsichtig zu formulieren. Mit Sicherheit wird er dich besser zu nehmen wissen, als so ein Jungspund in deinem Alter. Bis jetzt ist leider jede deiner Beziehungen in die Brüche gegangen.“
„Danke Mam, dass du mich daran erinnerst.“
Dieser Vorwurf versetzte Julia einen Stich und ihr stand die Empörung ins Gesicht geschrieben. Beatrice schien hingegen ihre Freude an dem Wortgefecht zu haben.
„Was macht er eigentlich beruflich?“, erkundigte sich ihre Mutter nun genauer.
„Chefkoch.“
„Na, sieh mal einer an. Dann bekommst du endlich etwas auf die Rippen, wenn er dich bekocht.“
„Es reicht jetzt!“ Julia sprang auf und schob den gefüllten Teller zur Seite. „Danke für das leckere Essen, aber mir ist soeben der Appetit vergangen. Ihr könnt euch gern über das Liebesleben von Beatrice austauschen, sie hat da sicher einiges auf Lager. Und was mich betrifft, ich ziehe mich jetzt diskret zurück. Einen schönen Advent noch.“ Krachend flog die Tür ins Schloss.
Zornig humpelte Julia zum Auto und reagierte auch nicht auf die beschwichtigenden Worte, die ihre Mutter aus dem Küchenfenster rief. Sie wollte nur noch in Ruhe gelassen werden und konnte nicht verstehen, warum ihre Mutter ständig herumnörgelte. Der Motor ihres Kleinwagens jaulte gequält auf, als sie auf das Gaspedal trat, um in Richtung Apartment zu flüchten.
Kaum hatte sie es sich auf der Couch bequem gemacht, klingelte das Telefon. Freundin Emily verlangte eine Audienz.
„Hallo Julia, ich wollte nur nachfragen, ob du noch lebst. Sonst textest du mich immer das ganze Wochenende zu und diesmal keine einzige Message. Hast du etwa einen Neuen?“
Himmel, hörte das denn nie auf?
„Nein, Emily. Und wenn, dann würdest du es als Erste erfahren, das bin ich dir schließlich schuldig.“
„Das will ich schwer hoffen. Trotzdem, irgendetwas ist doch los?“
Julia stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ich bin gerade von meinen Eltern zurückgekommen, die müssen mich adoptiert haben, anders kann ich mir das nicht erklären.“
„Du Arme. Hat Beatrice wieder ihren Diplomatenstatus ausgespielt?“
„Ach, es ist immer die gleiche Leier. Meine Mutter ist der Meinung, dass ein älterer Mann genau der Richtige für mich wäre. Der brächte nämlich die nötige Lebenserfahrung mit, um nicht gleich davonzulaufen, “
„Stopp, Julia! Das mit dem älteren Mann musst du mir bitte genauer erklären.“
Oh nein, dieser Satz war ihr im Eifer des Gefechtes einfach so herausgerutscht. Nun musste sie wohl Farbe bekennen.
„Während meines Einkaufsbummels bin ich mit einem Mann zusammengestoßen und er hat mich anschließend auf einen Kaffee eingeladen. Er ist Koch, arbeitet in einem Schlosshotel und ich war ihn gestern besuchen.“
„Das sind jetzt aber sehr dürftige Details. Hat es zwischen euch gefunkt? Seid ihr euch näher gekommen? Hat er dich geküsst?“
„Entschuldige, wenn ich dich jetzt ausbremse, aber darüber möchte ich nicht reden.“
„Ach Julia, warum zäumst du das Pferd immer von hinten auf? Wie alt ist er überhaupt?“
„Um die vierzig.“
„Oh.“
„Das ist nicht der springende Punkt. Er ist ein komischer Kauz und tendiert ein bisschen in Richtung Narzisst. Auf Dauer wird das zu anstrengend.“
„Ach Julchen, ich wünsche dir so sehr die große Liebe.“ Emily seufzte theatralisch.
„Keine Sorge, irgendwann wird sich der Prinz melden. Bis morgen Emily.“
Um sich auf die bevorstehende Klausur vorzubereiten, kramte Julia ihre Lehrbücher hervor. Wenn es schon mit einer vernünftigen Beziehung nicht klappen wollte, dann sollte zumindest eine anständige Lehrerin aus ihr werden. In Gedanken sah sie sich bereits von einer Horde Kinder umringt, die ihr ein glückliches Zahnlückenlächeln schenkten, während sie die guten Noten verteilte.
Ziemlich abgekämpft verließen Julia und Emily am Nachmittag die Uni.
„Sag mal Julchen, hast du Lust am Abend eine Runde um die Häuser zu ziehen?“
„Ist das dein Ernst? Warst du am Wochenende nicht ausgelastet?“
„Haha, wie witzig“, konterte Emily. „In der Innenstadt hat eine neue Szenekneipe aufgemacht, aber am Wochenende ist die immer proppenvoll, deshalb wollen wir heute los. Was ist, kommst du mit oder willst du in den eigenen vier Wänden versauern?“
„Prinzipiell gern, aber ich möchte meinen Fuß nicht überstrapazieren.“
„Pustekuchen. Soweit ich weiß, gibt es in jeder Kneipe Tische und Stühle. Und fürs Sitzen wird es ja wohl noch reichen?“
„Überredet, ich komme mit. Wann treffen wir uns?“
„Um acht im Lokal.“
„Ich werde da sein.“
Die Freundinnen verabschiedeten sich und Julia fuhr auf dem schnellsten Weg nach Hause. Im Apartment drehte sie die Heizung hoch und setzte sich an den Rechner. Christian hatte sich bis jetzt noch nicht gemeldet, was ihr sehr entgegenkam. Doch kaum hatte sie das Postfach geöffnet, entdeckte sie seine Mail. Er wollte ihr mit Sicherheit mitteilen, dass es zwischen ihnen nicht passte. Wie gut, dass er ihr zuvorkam.
Zögerlich klickte sie auf Öffnen und las erstaunt die Zeilen. Ihre übereilte Flucht in jener Nacht blieb unerwähnt, stattdessen lud er sie zum Adventsmarkt ein. Jetzt musste sie wohl oder übel ein ernstes Wörtchen mit ihm reden und die - hm, was war das eigentlich zwischen ihnen - also, sie musste diese Sache auf dem schnellsten Wege beenden.
Jetzt gleich oder besser morgen? Ach was, warum sollte sie sich ausgerechnet den heutigen Abend verderben. Gutgelaunt erhob sie sich, um dann erneut einen besorgten Blick in den Kleiderschrank zu werfen. Shirt, Jeans, Turnschuhe – dieses Outfit passte so gar nicht in eine angesagte Szenebar.
Sie gönnte sich ein Wannenbad, um die verkrampften Muskeln zu lösen, und rieb den Knöchel anschließend mit einer Salbe ein. In ein paar Tagen sollte das Ganze ausgestanden sein. Ihre langen blonden Haare drehte sie auf große Wickler, damit ihre bescheidene Mähne später in lockeren Wellen auf die Schultern fiel. Wenn sie schon nicht mit passenden Kleidungsstücken auftrumpfen konnte, dann wenigstens mit ihrem Äußeren. Zwar wirkte sie neben Emily immer ein wenig blass und schmal, aber daran hatte sie sich im Laufe ihrer Freundschaft gewöhnt. Es gab schließlich Wichtigeres als reine Äußerlichkeiten.
Die restliche Zeit bis zum Treffen verbrachte sie vor dem Rechner mit einer virtuellen Shoppingtour. Immerhin wollte sie für den nächsten Ausflug ins Nachtleben gewappnet sein, nur hin und wieder kämpfte sie gegen das schlechte Gewissen an. Ihr Konto würde mächtig bluten, aber sie gönnte sich ja sonst nichts. Nach ihrem verschwenderischen Einkauf hob sich ihre Stimmung von Minute zu Minute und sie freute sich auf den Abend. Den Gedanken, als einziger Single dort aufzutauchen, verdrängte sie erfolgreich. Sie warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel und ihr gefiel, was sie sah.
Gerade als sie die Tür hinter sich zuziehen wollte, ging das Licht im Treppenhaus aus. Sie hörte ein leises Rascheln und tastete nach dem Schalter. Innerhalb von Sekunden flammte das Licht auf. Sie wollte sich gerade abwenden, als ein Hauch von Aftershave um ihre Nase wehte.
„Hallo, ist da jemand?“
Stille.
War das nicht das gleiche Aftershave, das auch Christian benutzte? Zögernd umfasste ihre Hand das Treppengeländer, dann lief sie nach unten. Und wenn schon, Christian war sicher nicht der einzige Mann, dem dieser Duft anhaftete.
Das Lokal war gut besucht und Julia schob sich suchend durch die Menge, bis sie Emily endlich an einem Ecktisch entdeckte.
„Setz dich zu mir Julia, hier ist noch Platz.“
Verbissen quetschte sie sich neben ihre Freundin und fühlte sich in dieser Enge unwohl. Das Stimmengewirr schwoll ständig weiter an und die laute Musik tat ihr Übriges dazu.
„Möchtest du auch einen von diesen leckeren Cocktails probieren?“ Emily nippte an ihrem Glas.
„Danke, aber ich bleibe lieber bei meiner Cola.“
Julia schwitzte in ihrem langärmeligen Shirt und fächelte sich mit der Hand Luft zu. Der Alkohol würde ihr Blut nur noch mehr in Wallung bringen und sie wollte nicht im eigenen Saft schmoren. Die Stimmung am Tisch war aufgekratzt und Julia fühlte sich völlig deplatziert. Gelangweilt ließ sie ihren Blick über die Menge schweifen und blieb an zwei jungen Männern hängen. Sie versuchte noch rasch zur Seite zu schauen, aber es war zu spät. Leon hatte sie entdeckt und winkte ihr zu.
Hoffentlich kamen die beiden nicht zu ihnen an den Tisch und erzählten von Chris… oh nein, sie kamen tatsächlich. Am liebsten wäre sie unter die Sitzbank gekrochen, aber dafür war es bereits zu spät. Lässig klopfte Leon auf die Tischplatte.
„‘n Abend allerseits. Hallo Julia, wie geht’s?“
Sämtliche Augenpaare waren auf sie gerichtet und ihr schoss augenblicklich die Röte ins Gesicht. „Darf ich vorstellen, Leon und Daniel.“
„Und woher kennst du die beiden? Du hast mir noch nie etwas von ihnen erzählt?“ Emily musterte sie vorwurfsvoll.
„Das sind Arbeitskollegen von Christian“, flüsterte Julia, bevor sie sich Leon und Daniel zuwandte. „Was hat euch denn hierher verschlagen?“
„Ich wohne hier und ziehe mit Daniel um die Häuser. Habt ihr noch ein Plätzchen frei?“, fragte Leon grinsend.
Die wollten doch hier nicht ankern? Wenn die andern von Christian erfuhren, konnte das außerordentlich peinlich werden.
„Ich weiß nicht so recht“, ergriff Julia das Wort. „Ist schon ziemlich eng hier, auch ohne euch.“
„Ach was, mir machen uns ganz klein. Stimmt’s, Daniel?“
Die zwei jungen Männer hatten Emilys Neugier geweckt. Emily rutschte ein Stückchen zur Seite, damit Leon neben ihr Platz nehmen konnte.
„Musste das wirklich sein, Emily?“, zischte Julia leise.
Aber diese zuckte nur mit den Schultern. „Ist doch egal. Hauptsache, wir haben unseren Spaß.“
„Eben, und was ist mit mir?“
„Julia, warum musst du uns immer ausbremsen? Genieße doch einfach den Abend.“
Daniel setzte sich Julia gegenüber und schien mindestens genauso verlegen wie sie. Leon hatte da weniger Berührungsängste. Obwohl Emilys Freund anwesend war, flirtete er offensichtlich. Er sah nicht übel aus und gab sich sehr selbstbewusst. Emily hing an seinen Lippen und ließ sich von ihm mitreißen. Mehrmals hintereinander lachte sie laut auf, Leon versprühte Witz und Charme.
„Na, alles klar?“
Daniel hielt sich schüchtern an seinem Bier fest. Er hatte schöne Hände, das war ihr sofort aufgefallen. Nervös strich er eine dunkle Haarsträhne zur Seite und seine rehbraunen Augen musterten sie unverhohlen. Er war schmaler und nicht so breitschultrig wie Leon, aber dennoch gut gebaut.
„Im Großen und Ganzen schon“, antwortete sie ehrlich.
„Du und Christian, seid ihr zusammen?“, fragte er ganz unverblümt.
Sie errötete leicht und verneinte.
„Wie ist denn Christian so als Chef?“
„Frage lieber nicht.“ Er winkte ab. „Ständig schlecht gelaunt, er kann und weiß alles besser und schuld sind immer die anderen. Er ist ein fantastischer Koch, aber das Zwischenmenschliche kannst du vergessen.“
„Doch so schlimm?“
„Schlimmer.“
Daniel lachte und sie stimmte mit ein.
„Warum hast du dich für diesen Beruf entschieden?“, hakte sie nach.
„Das BWL-Studium war mir zu trocken, ich wollte etwas Kreativeres machen.“
„Du hast es abgebrochen?“
Er nickte. „Ja, das war einfach nicht meins.“
„Himmel, meine Eltern hätten mir den Kopf abgerissen.“
„Glücklich waren meine auch nicht darüber, aber es ist schließlich mein Leben.“
„Da hast du auch wieder recht. Aber warum ausgerechnet Koch?“, fragte sie interessiert. „Christian hat mich bereits über die ungünstigen Arbeitszeiten und das schmale Gehalt unterrichtet.“
„Mir macht es eben Spaß …“
Das Eis war gebrochen und Julia vergaß die Welt um sich herum. Sie unterhielten sich lebhaft und in Daniels Augen tanzten helle Fünkchen. Sie hatten sofort einen Draht zueinander und Julia mochte seine bescheidene Art. Den gesamten Abend über hatte sie nur Augen für Daniel und vergaß völlig die Zeit.
„Julia, ich will ja nicht stören, aber wir müssen allmählich den Heimweg antreten.“
„Was? Ist es schon so spät?“
„Ja, ist es. Kommst du?“
Julia nickte. Daniels enttäuschter Blick sprach Bände oder bildete sie sich das nur ein? Etwas verlegen reichte sie ihm zum Abschied die Hand.
„Danke für den netten Abend. Das sollten wir unbedingt einmal wiederholen, wenn du wieder in der Gegend bist“, sagte er lächelnd zum Abschied.
„Natürlich, sehr gern.“
An der Tür drehte sie sich noch einmal um. Schade, er schaute ihr nicht hinterher, sie hatte wohl doch zu viel hineininterpretiert.
„Da haben sich aber zwei gut verstanden“, stichelte Emily.
„Kann es vielleicht sein, dass du ein oder zwei Cocktails zu viel intus hast?“ Julia kniff die Augen zusammen und versuchte es mit einem ernsten Blick.
„Keine Sorge, ich würde mich trotzdem für dich freuen.“
Die Freundinnen umarmten sich zum Abschied und brachen in verschiedene Richtungen auf. Sobald Julia an Daniel dachte, flatterten die Schmetterlinge in ihrem Bauch. Hoffentlich steigerte sie sich nicht wieder in etwas hinein. Aber dieses vertraute Gefühl, auf einer Wellenlänge zu sein, hielt unverändert an. Während der Rückfahrt drehte sie die Musik auf volle Lautstärke und stimmte in den Refrain des jeweiligen Liedes mit ein.
Ihre gute Laune hielt noch an, als sie die Treppe erklomm und die Eingangstür aufschloss. Doch das änderte sich schlagartig, als sie das Apartment betrat. Sie hatte schon immer diese feinen Antennen, die ihr sagten, dass irgendetwas nicht stimmte. Ein fremder Geruch hing in der Luft, den sie nicht so recht einordnen konnte. Jemand musste hier gewesen sein. Mit klopfendem Herzen stand sie im Flur und wagte nicht, die restlichen Räume zu inspizieren.
Sie öffnete den Reißverschluss ihrer Tasche und fischte mit zitternden Händen das Smartphone heraus. Die glatte kühle Fläche des Displays vermittelte ihr ein trügerisches Gefühl von Sicherheit und sie schlich in Richtung Wohnzimmer. Mit hektischen Bewegungen tastete sie nach dem Lichtschalter und atmete befreit auf. Hier war keine Menschenseele. Sie durchsuchte sicherheitshalber noch die anderen Zimmer, bevor sie sich endlich aus ihrem Mantel schälte und ihn an der Garderobe aufhängte. Seit ihrem Besuch im Schloss war sie ein wenig schreckhafter geworden.
Ihr Blick wanderte zum Schreibtisch. Hatte der Laptop schon vorher so schräg dagestanden? Ihre Fingerspitzen strichen über das polierte Holz der Tischplatte, dann rückte sie den Laptop wieder an seinen Platz. Sie klappte ihn auf und kontrollierte die Daten, aber alles schien unverändert. Wahrscheinlich war sie einfach nur schrecklich übermüdet.