Читать книгу Kaltes Herz - Ana Dee - Страница 9

Kapitel 3

Оглавление

Am späten Vormittag schlug Julia die Augen auf und drehte sich wohlig grummelnd auf die andere Seite. Es hatte gutgetan, mal wieder so richtig auszuschlafen. Energiegeladen schwang sie ihre Beine aus dem Bett und streckte sich genüsslich. Mit Rührei, Toast und einem starken Kaffee zelebrierte sie das Frühstück an diesem Samstagmorgen. Sie musste sich tatsächlich eingestehen, dass Christian sie auf andere Gedanken brachte, wenn auch auf eine sonderbare Art und Weise. Immerhin lief sie seitdem weniger trübsinnig durchs Leben und der Liebeskummer wegen Florian war fast vergessen.

Sie schaltete das Smartphone wieder ein, um nebenbei die Nachrichten zu lesen. Christian hatte ihr sage und schreibe fünf davon geschickt. Die erste war noch in höflicher Form verfasst.

Schön, dass du kommen kannst, ich freue mich auf dich. Ich erwarte dich um zehn am Schloss, die Adresse hast du ja.

Bin verunsichert, weil du mir nicht antwortest.

Wirst du jetzt kommen? Und warum meldest du dich nicht?

Es ist gleich zehn und noch immer keine Zusage. Ich habe dich bereits bei meinen Arbeitskollegen angekündigt und jetzt stehe ich da wie der letzte Depp.

Was soll das? Findest du es in Ordnung, mich warten zu lassen?

Er schien ziemlich verärgert zu sein, aber sie hatte wirklich nicht damit gerechnet, dass er sie schon so zeitig erwartete. Mit einem ordentlichen Schuss Harmonie war sie in den Tag gestartet, und nun? Am liebsten würde sie das Smartphone wieder abschalten und sich verkriechen. Wiederum, das ganze Wochenende hier zu versauern und nur über den Büchern zu hocken, nein, das kam auch nicht infrage. Also schrieb sie ihm kurzerhand zurück und bat um etwas Geduld.

Mit einem flauen Gefühl im Magen öffnete sie den Kleiderschrank. Warum musste Christian ihren Besuch so aufbauschen? Sie mochte es überhaupt nicht leiden, wenn man sie unter Druck setzte. Jeans, Shirt, Schuhe - die immer gleiche Kombination, egal wie sie es auch drehte. Das einzig schicke Etwas in ihrem Schrank war das Kleid vom Abi-Abschlussball.

Aber wenn sie Christian nicht noch mehr verärgern wollte, musste sie sich beeilen. Hastig schlüpfte sie in ihre Sachen und schnappte sich die Tasche. Gequält röhrte der kalte Motor auf, als sie auf das Gaspedal trat und sich in den Verkehr einfädelte. Hin und wieder kämpfte sich die Sonne durch die dichte Wolkendecke und verdrängte das dominante Grau.

Nach einigen Kilometern bog Julia von der Schnellstraße ab und fuhr über die Dörfer. So ein Schloss musste wahnsinnig gut in diese ländliche Idylle passen und sie war schon sehr gespannt darauf. Beinahe hätte sie die Abfahrt verpasst und zog erst in letzter Sekunde das Lenkrad nach rechts. An den dicken Steinmauern erkannte sie, dass sie ihr Ziel erreicht hatte.

Julia stellte den Wagen auf dem Parkplatz ab und schritt durch das schmiedeeiserne Tor, welches von zwei steinernen Löwen bewacht wurde. Tja, das war es also, das Schloss. Eigentlich hatte sie sich etwas Eindrucksvolleres darunter vorgestellt, mit vielen Zinnen und verträumten Türmchen. Doch vor ihr baute sich nur dieser unförmige Kasten auf. Quadratisch, praktisch, gut. Die Bauweise erinnerte sie an ihr Elternhaus, ein klobiger Siebzigerjahre Bau, ohne persönliche Note.

Sie hatte gehofft, dass Christian sie an der Tür in Empfang nehmen würde, doch das tat er nicht. Verhalten schritt sie auf das Gebäude zu und trat ein. So schlicht und farblos sich das Schlosshotel auch von außen präsentierte, das Innere war geschmackvoll eingerichtet.

Große Lüster begrüßten jeden Neuankömmling und die alten Steinplatten erzählten eine lange Geschichte. Eine große, geschwungene Holztreppe führte in das obere Geschoss. Die Gänge waren mit alten Gemälden geschmückt und die schmiedeeisernen Tischchen ergänzten diesen wunderbaren Mix. Alles schien perfekt aufeinander abgestimmt und das Ambiente gefiel ihr auf Anhieb.

Fehlte nur noch Christian.

Am besten, sie fragte an der Rezeption nach ihm. Der Mann, der sich gerade mit einem Gast unterhielt, musste Christians Chef sein. Eine Dauerwelle aus den Achtzigern zierte sein Haupt und wie eine behäbige Matrone schob er den gewaltigen Bauch vor sich her. Mit strenger, fast verkniffener Miene schien er alles im Griff zu haben. Der Gast hatte sich inzwischen getrollt und so stand sie ihm gegenüber.

„Ich bin hier mit Herrn Dahler verabredet. Wissen Sie vielleicht, wo ich ihn finden kann?“

Sie wurde kritisch beäugt und einmal durch den Fleischwolf gedreht, bevor der Chef ihr eine Antwort gab. „Ich kann Ihnen leider nicht weiterhelfen, aber Sie können in der Lobby Platz nehmen und auf ihn warten.“

„Vielen Dank.“

Nun saß sie in einem der roten Sessel und studierte gelangweilt die Wände. Christian blieb weiterhin unauffindbar und so langsam wurde sie wütend. Warum veranstaltete er erst so ein Theater, wenn er sie anschließend doch warten ließ? Nach zwanzig Minuten gab sie auf und beschloss, die Außenanlage zu besichtigen. Wenn er dann immer noch nicht aufgetaucht war, würde sie wieder fahren. Alles hatte seine Grenzen.

Julia erhob sich und lief nach draußen. Gemächlich umrundete sie das Schloss und schlenderte durch die Miniaturausgabe einer Parkanlage. Nach wenigen Metern lag ein roter Ball mitten auf dem Weg, den musste wohl ein kleiner Gast vergessen haben. Der Ball hatte seine besten Tage schon hinter sich, so zerschrammt und ausgeblichen, wie er war. Trotzig kickte Julia ihn auf die Wiese. Momentan fühlte sie sich hier völlig deplatziert und ihre Wut auf Christian wuchs von Minute zu Minute.

Nachdem sie eine Weile durch den Park spaziert war, kehrte sie zurück. Inzwischen hatte sie von den aufgestellten Infotafeln erfahren, dass es sich um ein ehemaliges Kloster handelte. Wahrscheinlich wurde aus marketingtechnischen Gründen ein Schloss daraus gemacht. Klang ja auch ziemlich gewöhnungsbedürftig – Klosterhotel.

Tief in ihre Gedankenwelt versunken stoppte sie plötzlich ihre Schritte. Hatte sie nicht eben diesen alten, verblichenen Ball auf die Wiese gekickt? Jetzt lag er genau an derselben Stelle wie zuvor. Suchend schaute sie sich um, aber niemand befand sich in ihrer Nähe. Fröstelnd schlug sie den Mantelkragen hoch und eilte mit schnellen Schritten auf den Eingang zu.

Christian saß bereits in der Lobby und wartete auf sie. Nervös wippte er mit einem Bein und schaute demonstrativ auf die Uhr.

„Wo hast du denn gesteckt? Ich warte schon eine Ewigkeit auf dich.“ Vorwurfsvoll sah er sie an.

„Du warst doch derjenige, der mich hat warten lassen“, erwiderte sie ungehalten. „Ich habe mir aus purer Langeweile die Parkanlage angeschaut.“

Christians Chef lugte mit seinem Lockenkopf vorsichtig um die Ecke und schien sich während seines Lauschangriffes prächtig zu amüsieren.

„Lass uns das woanders ausdiskutieren“, blaffte Christian und schob sie in Richtung Restaurant. Das Frühstücksbuffet wurde gerade abgedeckt und es duftete noch immer nach gebratenem Speck. „Eigentlich wollte ich mit dir gemeinsam frühstücken, aber wie du siehst, die Speisen werden abgeräumt.“

„Tut mir leid, aber du hast mit keiner Silbe erwähnt, wo du mich in Empfang nimmst.“

„Entschuldige bitte, ich bin seit sechs Uhr auf den Beinen und da kann ich doch wohl erwarten, dass du Rücksicht nimmst.“

„Aber das ist doch nicht meine Schuld. Warum bist du nicht Lehrer geworden?“, konterte sie, um ihn in seine Schranken zu verweisen. Er hatte sich schließlich für diesen Beruf mit den belastenden Arbeitszeiten entschieden und nicht sie.

„Momentan magst du ja ein lockeres Studentenleben führen, aber später wird dir das Lachen noch vergehen.“

Aus diesem Mann wurde sie einfach nicht schlau, Liebenswürdigkeit und schlechte Laune wechselten sich ständig ab. Julia holte tief Luft und verteidigte ihren Berufswunsch.

„Ich habe mich für das Lehramt entschieden, weil ich Kinder mag und sie fördern möchte, und nicht, weil ich das Studentenleben so easy finde. Außerdem ist es mein gutes Recht, in Ruhe auszuspannen, wenn ich frei habe.“

„Ist ja schon gut, wir sollten lieber den restlichen Tag planen. Hast du Lust, mal einen Blick in die Küche zu werfen?“

Hatte sie nicht, aber sie wollte kein Öl ins Feuer gießen. Wie passend, dachte sie mit einem Hauch von Ironie.

„Gerne, ich bin schon gespannt, wo du dich kulinarisch austobst.“

Er nickte wohlgefällig, sie hatte anscheinend seinen Nerv getroffen und trottete ihm brav hinterher. Die Stufen hinunter in den Keller, dann wieder aufwärts und schon standen sie in der Küche. Laute Rapmusik dröhnte aus einem Radio und eine der älteren Küchenfrauen gackerte mit den jungen Köchen über einen derben Witz. Julia schüttelte den Kopf, dieses Küchenpersonal war schon ein neckisches Völkchen.

Christian umfasste ihre Schultern und schob sie nach vorn.

„Das ist Julia, sie studiert Lehramt.“

Was war denn plötzlich nur in ihn gefahren, dass er sie wie eine Trophäe vorführte? Erst beschwerte er sich über ihr ausschweifendes Studentenleben und jetzt brüstete er sich damit, dass sie sich für den Beruf einer Lehrerin entschieden hatte.

Julia erkannte es sofort an den ausbleibenden Reaktionen seiner Kollegen: Christian war hier so beliebt wie Fußpilz. Kaum einer schenkte seinen Worten Beachtung oder nahm von ihm Notiz. Stattdessen wurde die Musik leiser gedreht und die eben noch spürbar gute Laune war schlagartig verebbt.

Christian ließ Julia einfach stehen und erkundigte sich bei seinem Stellvertreter, ob die Vorbereitungen für die Hochzeit auf Hochtouren liefen. Aufmerksam beobachtete sie die beiden Männer. Ricardo erinnerte sie an ein unterwürfiges Wiesel, so dünn und schmalbrüstig, wie er durch die Küche huschte. Seine Brille hatte ein sehr unvorteilhaftes Gestell, er roch unangenehm nach Schweiß und um es auf den Punkt zu bringen - Ricardo war ihr total unsympathisch.

Yannick und Daniel hingegen, die beiden Auszubildenden, fand sie richtig nett. Yannick alberte herum und Daniel schien bereits über das nötige Fachwissen zu verfügen, so geschickt wie er die Häppchen arrangierte. Jungkoch Leon, ein gut aussehender und ziemlich cooler Typ, warf ihr lüsterne Blicke zu, während sich die dralle Servicekraft an ihn schmiegte. Julia lächelte - was für ein Möchtegerncasanova.

Christian führte sich unterdessen in der Küche wie ein Befehlshaber auf und schien überhaupt nicht zu bemerken, wie sich das Personal heimlich anstieß und genervt mit den Augen rollte. Die Mitarbeiter wollten ihren Chef am liebsten wieder von hinten sehen. Aber es dauerte noch eine Weile, bis er sich endlich abwandte.

„Wir können gehen“, forderte er Julia auf und es war ihr eine Freude, die heiligen Hallen zu verlassen.

„Essen wir hier einen Happen zu Mittag?“, fragte sie.

„Nein, ich habe gerade gefrühstückt“, lautete seine knappe Antwort.

Er entschied also über ihren Kopf hinweg, wann gegessen wurde, was für ein Gentleman. Christian konnte sehr anstrengend sein und nervte bisweilen.

„Soll ich dir das Hotel zeigen? Einige Räume können sich durchaus sehen lassen.“

„Gern, ich habe ja sonst nichts vor.“

Neugierig folgte sie ihm. Vorbei ging es an einer kleinen Bar, an deren Wänden sich die Prominenz mit gerahmten Fotos verewigt hatte. Sie staunte nicht schlecht, wer hier schon alles abgestiegen war. Ihr gefiel auf Anhieb, wie Modernes und Antikes miteinander kombiniert worden war. Besonders die Bibliothek hatte es ihr angetan und am liebsten hätte sie stundenlang darin gestöbert, aber Christian räusperte sich ungeduldig.

Der Anblick des kleinen Saales, der gerade für die Hochzeitsfeier dekoriert wurde, versetzte ihr einen Stich. Weiße Stuhlhussen und Tischdecken, gepaart mit silbernen Kerzenständern verliehen dem Raum einen edlen Touch. Genauso wollte Julia später einmal heiraten, eine richtige Märchenhochzeit.

„Nur etwas für Idioten“, brummte Christian lakonisch und zog weiter.

Ihr fiel es allerdings schwer, sich von diesem traumhaften Anblick zu lösen. Wehmut flackerte auf und die Sehnsucht nach einer intakten Beziehung.

„Hallo, von wem träumst du?“

„Von niemandem ...“, antwortete sie wahrheitsgemäß.

Inzwischen waren sie im oberen Stockwerk angekommen und Christian stieß die Tür zu einem Zimmer auf.

„Na, wie findest du es?“

Das antike Mobiliar passte perfekt zu diesem Schloss. Welche Geschichte es wohl zu erzählen hatte?

„Das ist unsere Suite für die Nacht“, verkündete er mit einem Anflug von Stolz.

Triumphierend sah er sie an und ihr wurde schlagartig übel. Warum hatte sie nicht beizeiten klargestellt, dass eine gemeinsame Übernachtung für sie nicht mehr infrage kam?

„Eigentlich möchte ich wieder zurückfahren“, erklärte sie zaghaft.

Sein Lächeln erstarb augenblicklich. „Wie darf ich denn das verstehen? Erteilst du mir jetzt eine Absage?“

Ihr Blick wanderte zu den Betten, Gott sei Dank getrennt. Dennoch befand sie sich in einer Zwickmühle. Wenn sie im Schloss bliebe, müsste sie sich mit Christian arrangieren, aber in ihrem winzigen Apartment würde ihr nur die Decke auf den Kopf fallen.

„Ich habe schlichtweg vergessen, Zahnbürste und Handtücher einzupacken“, versuchte sie sich aus der Affäre zu ziehen.

„Kein Problem, die Sachen findest du im Bad. Was hältst du von einem Spaziergang?“

„Gern.“

Inzwischen war die Mittagszeit vorüber und ihr Magen rumorte. Doch Christian schien das wenig zu beeindrucken und er zog die Tür geräuschvoll hinter sich zu.

„Ich muss mich nur noch umziehen, du kannst in der Lobby auf mich warten.“

Er machte auf dem Absatz kehrt und ließ sie einfach stehen. Schulterzuckend lief sie nach unten. Die Hochzeitsgesellschaft war gerade angereist und belegte in der Lobby sämtliche Sitzgelegenheiten. Das lebhafte Treiben und die ausufernde Geräuschkulisse wurden Julia mit der Zeit zu viel und sie wich in einen der Flure aus, um die Ölgemälde zu betrachten. Sie mochte die Werke der damaligen Epoche und schaute verträumt auf die abgebildeten Landschaften.

Augenblicklich beschlich sie das Gefühl, auch hier nicht allein zu sein. Sie drehte sich um und entdeckte am Ende des Ganges ein Mädchen, welches nur mit einem dünnen Sommerkleidchen bekleidet war. Scheu senkte es den Blick und starrte auf seine Schuhspitzen. Wie konnten die Eltern nur so etwas durchgehen lassen? Das Kind musste doch in diesem Aufzug frieren.

„Hallo“, grüßte Julia freundlich. „Ist dir denn gar nicht kalt?“

Das Mädchen schüttelte verneinend den Kopf und ihre blonden Locken wippten.

„Aber du wirst dich bestimmt erkälten. Willst du dir nicht lieber eine Jacke holen?“

Unsicher schaute die Kleine in Julias Richtung.

„Hast du dich vielleicht verlaufen, sollen wir deine Eltern suchen?“

Julia streckte lächelnd ihre Hand aus. „Na komm, wir gehen gemeinsam zurück.“

Verschüchtert drehte sich das Mädchen um und lief davon. Die Absätze ihrer schwarzen Lackschuhe klackerten über die Steinfliesen.

„So warte doch!“, rief Julia ihr hinterher und nahm die Verfolgung auf. Sie bog rasant um die Ecke und prallte mit der Stirn gegen eine Tür. Dieses plötzlich auftauchende Hindernis hatte sie ausgebremst und leise fluchend drückte sie die Klinke herunter. Die Tür ließ sich nicht öffnen und ungläubig linste Julia durch das Schlüsselloch. Wohin konnte das kleine Mädchen nur so schnell verschwunden sein, noch dazu durch eine verschlossene Tür?

Ratlos stand sie da und massierte sich die schmerzende Stirn. Mit Sicherheit war es besser, der Hochzeitsgesellschaft gleich Bescheid zu geben, bestimmt vermissten die Eltern das Mädchen schon. Ohne viel Zeit zu verlieren, eilte sie zur Lobby zurück und wandte sich an die Gäste.

„Ist Ihnen vielleicht ein kleines Mädchen abhandengekommen? Dünnes Sommerkleid, blonde lockige Haare und etwa sieben Jahre alt?“

Alle Anwesenden schüttelten die Köpfe, sie hatten die eigenen Kinder zu Hause gelassen. Julia startete an der Rezeption noch einen letzten Versuch. Verwirrt blätterte Christians Chef in den Unterlagen und teilte ihr mit, dass nur zwei ältere Ehepaare angereist waren, ohne Enkelkinder im Schlepptau.

Ratlos wandte sie sich ab. Wahrscheinlich hätte sie sich weniger den Kopf darüber zerbrochen, wenn das Mädchen nicht in einem altmodischen Sommerkleid verschüchtert im Flur gestanden hätte. Jemand tippte ihr auf die Schulter und erschrocken wirbelte sie herum.

„Ach, du bist es …“

„Ja, ich bin es. Sag mal, was hast du denn wieder verzapft? Die Leute sind in heller Aufruhr wegen eines Mädchens, das angeblich vermisst wird.“

„Nein, das stimmt nicht so ganz. Ich bin einem Mädchen begegnet und dachte, es hätte sich im Schloss verirrt.“

„Vielleicht war es ein Kind aus dem Dorf? Die Gören schmuggeln sich hier ständig rein.“

„Ich bitte dich, das Mädchen hat ein dünnes Sommerkleidchen getragen. Wie soll es denn bei diesen Temperaturen hierhergekommen sein? Irgendetwas stimmt da nicht.“

„Woher willst du das wissen?“, fragte er skeptisch. „Kannst du dich vielleicht daran erinnern, wie das Mädchen ausgesehen hat? Kleid, Haare …“

„Hm, das Kleid war geblümt, das Haar lockig und blond. Außerdem trug es schwarze Lackschuhe.“

„Ist dir sonst noch etwas aufgefallen?“

„Nicht dass ich wüsste. Warum fragst du? Kennst du das Mädchen vielleicht?“

„Ich? Nein. Kinder sind mir suspekt.“

„Ach ja? Du vertrittst manchmal Ansichten über das Leben …“ Julia schüttelte verständnislos ihren Kopf.

„Entschuldige, dass ich deine Vorhaltungen unterbreche, aber ich habe etwas Wichtiges vergessen. Ich bin gleich wieder zurück.“

Christian ließ sie erneut stehen und stürmte davon. So ein eigensinniges Verhalten hatte sie selten erlebt, er war anscheinend völlig verquer. Abermals musste sie auf ihn warten und trat ungeduldig von einem Bein auf das andere. Das Personal, welches durch die Gänge eilte, musterte sie neugierig und Julia fühlte sich wie ein exotisches Tier im Zoo. Es musste sich rasend schnell herumgesprochen haben, zu wem sie gehörte.

Nach einigen Minuten tauchte Christian wieder neben ihr auf, er hatte sich tatsächlich beeilt.

„Und? Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?“

Irritiert blickte er sie an. „Wie bitte?“

„Du bist doch eben zurückgegangen, weil du etwas vergessen hast, soweit ich mich erinnere.“

Sie suchte seinen Blick, doch er wich ihr aus. Allerdings wirkte er sehr erleichtert.

„Alles vollständig. Können wir jetzt?“

Julia zuckte mit den Schultern. „An mir hat es nicht gelegen.“

Er brummte ein paar unverständliche Worte in seinen Dreitagebart und lief nach draußen. Mit ihm an ihrer Seite umrundete sie erneut das Gebäude. Der Ball war inzwischen verschwunden und sie fragte sich, ob er wohl dem Mädchen gehörte.

„Wir haben richtiges Glück, dass sich noch die Sonne zeigt. Ich kenne eine Stelle, von der man eine wunderschöne Aussicht hat.

„Na dann, worauf warten wir noch.“ Julia eilte erwartungsvoll voraus.


Christian hatte wirklich nicht zu viel versprochen. Uralte Linden säumten den steilen Weg und Holzbänke mit einer grauen Patina luden zum Verweilen ein. Das kleine Dörfchen schmiegte sich in das Tal und zeigte sich von seiner schönsten Seite. Obwohl ihnen ein ruppiger Wind um die Ohren pfiff, genoss Julia diesen Spaziergang.

Hinter der letzten Biegung entdeckte sie eine Kapelle und direkt dahinter verbarg sich eine kleine Lichtung, die von hochgewachsenen Bäumen umsäumt wurde. Je näher Julia der Lichtung kam, desto heftiger blendete das Sonnenlicht. Immer wieder kniff sie die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Dann zog etwas ihre gesamte Aufmerksamkeit auf sich und sie glaubte zu träumen.

Mitten auf der Lichtung standen zwei kleine Mädchen und winkten ihr zu. Der noch immer schwach vorhandene Nebel und das gleißende Licht der Sonne verhinderten, dass Julia Genaueres erkennen konnte. Alles wirkte schemenhaft und sie beschleunigte ihre Schritte. Vielleicht stammte das kleine Mädchen ja doch aus dem Dorf und die Sache hatte sich damit geklärt.

„Christian, kannst du auch die Mädchen sehen?“

„Welche Mädchen?“

Julia zeigte in die Richtung. „Na, die zwei da vorn auf der Lichtung. Vielleicht ist es ja die Kleine, die ich vorhin getroffen habe.“

„Und warum ist dir das so wichtig?“, murrte er. „Ich will spazieren und keinen Marathon laufen.“

Sein Charme konnte einen umhauen, dachte sie nüchtern und ließ Christian einfach stehen. Sie eilte voraus und achtete nicht auf den unebenen Boden. Unglücklicherweise verhakte sich ihr linker Fuß im Wurzelwerk einer Linde und sie strauchelte. Ihre Hände griffen ins Leere, während sie auf den gefrorenen Boden zuraste. Der Aufprall war hart und sie rieb sich wimmernd den schmerzenden Knöchel.

„Mit Sicherheit verstaucht“, jammerte sie.

„Du hast aber auch ein Talent, dich in unmögliche Situationen hineinzumanövrieren, und das für nichts und wieder nichts. Siehst du hier irgendwo ein Kind?“

Er deutete mit seiner Hand auf die menschenleere Lichtung. Inzwischen hatten sich dichte Wolken vor die Sonne geschoben und keines der Mädchen war mehr zu sehen.

„Leidest du unter Gleichgewichtsstörungen?“ Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. „Oder brauchst du vielleicht eine Brille?“

„Jetzt werd bitte nicht unverschämt“, fauchte sie. „Ich habe eine Brille, aber die setze ich nur in der Uni auf. Ansonsten ist mit meinem Oberstübchen alles in bester Ordnung.“

„So war das doch gar nicht gemeint, du bist aber auch immer empfindlich.“ Christian zog eine beleidigte Miene und half ihr auf. „Wir sollten zurückgehen und in der Gaststätte einen Happen essen.“

Er stützte sie, während sie neben ihm den Weg hinunterhumpelte. Das Auftreten fiel ihr schwer und am liebsten wäre sie sofort nach Hause gefahren. Hin und wieder warf sie einen verstohlenen Blick zurück, aber von den Mädchen fehlte jede Spur. Die noble Gaststätte entpuppte sich als schlichte Dorfkneipe. Julia konnte nicht so recht nachvollziehen, warum sie ausgerechnet hier eingekehrt waren, wo es doch in der Küche im Schloss so appetitlich geduftet hatte. Die Gerichte der Dorfkneipe waren einfach und preiswert und so gar nicht ihr Ding. Dann doch lieber zum Dönerstand um die Ecke.

Sie bestellte sich eine Lauchcremesuppe und erkannte sofort am Geschmack, dass die aus einer Dose stammte. Christian hatte einen Teller mit Pommes und Bockwurst vor sich und genehmigte sich ein Bierchen dazu. Zufrieden schaufelte er das Essen in sich hinein. Sollte das tatsächlich der Mann sein, der beim ersten Treffen seine Kochkünste in den Himmel gelobt hatte? Sie schob die fade Suppe demonstrativ zur Seite und knabberte am trockenen Toast.

„Hat es dir nicht geschmeckt?“

„Nein. Eine Dosensuppe kann ich auch preiswert zu Hause essen.“

„Du konntest den Unterschied schmecken? Hätte ich dir gar nicht zugetraut.“

„Wie du siehst, in mir verbergen sich noch ungeahnte Möglichkeiten.“

So langsam, aber sicher musste sie sich eingestehen, dass Christian und sie in Zukunft lieber getrennte Wege gehen sollten. Da sie aber ein höflicher Mensch war, wollte sie ihm vor versammelter Mannschaft keinen Korb geben.

Christian übernahm anschließend ganz gentlemanlike die Rechnung und sie kehrten ins Schloss zurück. Im Hotelzimmer ließ er sich aufs Bett fallen und seufzte zufrieden.

„Hast du noch etwas geplant?“, fragte sie vorsichtig.

„Nein. Und selbst wenn, mit deinem verstauchten Fuß kommst du sowieso nicht weit. Ich werde jetzt den fehlenden Schlaf nachholen.“ Er schüttelte das Kopfkissen auf und drehte ihr den Rücken zu.

Julia hatte das Gefühl im falschen Film gelandet zu sein. So leise wie möglich trat sie hinaus in den Flur und wagte einen Abstecher in die Bibliothek. Gelangweilt nahm sie in einem der Sessel Platz und blätterte lustlos in einem Roman. Leon, der Jungkoch, schlenderte vorbei und warf einen neugierigen Blick in den Raum.

„Na, so ganz allein?“

„Schaut wohl so aus“, erwiderte sie missmutig. „Hast du schon Feierabend?“

„Schön wär’s.“ Er lachte. „Eigentlich will ich nur meine Sucht stillen.“ Er zog eine Zigarette hinter seinem Ohr hervor und steuerte den Ausgang an.

Julia warf einen Blick aus dem Fenster. Das Brautpaar hatte sich inzwischen auf den Weg zur Kirche begeben und die Glocken läuteten hell und klar. Nicht ohne Neid nahm sie zur Kenntnis, dass sie nur zu gern mit diesem glücklich ausschauenden Pärchen getauscht hätte. Ein leises Geräusch unterbrach ihre Gedankengänge.

„Hallo?“

Die Tür zur Bibliothek stand offen und im Flur hallten Schritte. Neugierig schaute Julia um die Ecke, in der Hoffnung, das Mädchen wiederzusehen, doch im Flur herrschte gähnende Leere. Schulterzuckend lief sie zum Sessel zurück. Die Dämmerung senkte sich allmählich über die Landschaft und Julia fragte sich wohl zum zwanzigsten Male, ob Christian noch immer schlief. Genau in diesem Moment trat er durch die Tür und drückte ihr den Zimmerschlüssel in die Hand.

„Ich sollte mal wieder mein Reich aufsuchen, das Essen für die Hochzeitsgesellschaft muss fertig werden.“

„Wann hast du denn Feierabend?“

„Wenn ich Glück habe nach dem Mitternachtssnack.“

„Heißt das, ich bleibe den ganzen Abend über allein?“

„Ja, was dachtest du denn? Ich habe dir doch gesagt, dass ich arbeiten muss.“

„Na dann, viel Spaß.“

Enttäuscht wandte sie sich ab und ließ ihn ziehen. Was für ein bescheidenes Wochenende. Wenn sie wenigstens eine Kompresse für ihren Knöchel gehabt hätte. Wahrscheinlich war es das Beste, wenn sie sich ins Bett legte und den Fuß ruhigstellte. Sie humpelte die Holztreppe hinauf und die Dielen knarrten leise unter ihren Schritten. Jetzt war sie ganz allein auf dieser Etage und mit einem Schlag fühlte sie sich unwohl. Kein Gast war weit und breit zu sehen und die unheimliche Stille wirkte beängstigend.

Die letzten Meter bis zur Tür legte Julia zügig zurück. Ihre Hände zitterten leicht, als sie den Schlüssel in das Schloss steckte. Die Tür klemmte und sie musste sich mächtig dagegenstemmen. Ein kühler Luftzug streifte Julias Wange und sie drehte sich erschrocken um. War da jemand an ihr vorbeigehuscht? Doch sie konnte niemanden entdecken und versetzte der Tür einen anständigen Stoß. Die sprang endlich auf und Julia flüchtete in das Zimmer. Ohne Christian und die anderen Gäste auf diesem Stockwerk war ihr doch ziemlich mulmig zumute und sicherheitshalber verriegelte sie die Tür von innen.

Nach einer heißen Dusche im großzügigen Badezimmer schlüpfte sie unter die Bettdecke und räkelte sich wohlig, bis das antike Bett unter ihr ächzte. Ja, so konnte man es aushalten, dachte sie zufrieden. Der einzige Störfaktor war Christian, der mit Sicherheit nach Mitternacht aufkreuzen und sie unsanft aus den Träumen wecken würde. Aber wenn sie sich schlafend stellte, war sie garantiert auf der sicheren Seite.

Sie schaltete den Fernseher ein und sah sich noch eine Dokumentation über angebliche Außerirdische an, dann löschte sie das Licht. Jetzt hatte sie die nötige Bettschwere erreicht und schloss schläfrig die Augen.

Womit sie allerdings nicht gerechnet hatte, war der Umstand, dass die Hochzeitsgesellschaft jetzt erst so richtig aufdrehte. Laute Bässe dröhnten durch das Gemäuer und im Park grölten die Feiernden über einen anzüglichen Witz.

Genervt stülpte Julia das Kopfkissen über ihren Kopf, um die Geräuschkulisse zu dämpfen. Doch das war für die Katz. Wenn die angeheiterte Meute bis in die frühen Morgenstunden feierte, konnte sie die Nachtruhe getrost vergessen. Trotzdem startete sie einen weiteren Versuch, um in den Schlaf zu finden. Aber auch den hätte sie sich sparen können.

Verärgert stand sie auf und schaltete den Fernseher wieder ein. Sie zappte sich durch die Kanäle und blieb bei einer Quizsendung hängen. Immer wieder fielen ihr die Augen zu, aber mit jedem neuen Lied schreckte sie wieder auf. Kurz vor Mitternacht wurde es draußen zunehmend lauter. Der erste dröhnende Knall entlockte ihr einen spitzen Schrei, dann färbten sich die Wände des Hotelzimmers rot.

Kaltes Herz

Подняться наверх