Читать книгу Soulless Places - Ana Dee - Страница 8
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ОглавлениеHektisch lief Sophie durch die Wohnung und suchte ihre sieben Sachen zusammen. Im Stehen kippte sie einen Kaffee herunter, schnappte sich ihre Tasche und eilte aus dem Haus.
Ausgerechnet jetzt waren die Straßen vom morgendlichen Berufsverkehr verstopft und am liebsten hätte sie ununterbrochen auf die Hupe gedrückt. Es war ihr ein Rätsel, warum sie den Wecker zum wiederholten Male nicht gehört hatte. Das war ihr bisher noch nie passiert. Dabei hatte sie selbst hohe Ansprüche, was die Pünktlichkeit betraf.
Nachdem sie angekommen war, stahl sie sich in ihr Büro und setzte sich an den Schreibtisch. Sandra, ihre Kollegin, nickte ihr zu.
„Du bist spät dran. Hat der Chef dich erwischt?“
„Nein, glücklicherweise nicht.“
„Du weißt, dass wir ranklotzen müssen, damit der Umbau pünktlich beginnen kann.“
„Erinnere mich bloß nicht daran, dieser Termindruck versaut einem die ganze Freude an der Arbeit.“
Sophie fuhr ihren Rechner hoch und startete das CAD-Programm. Bauzeichnerin war genau ihr Ding, obwohl sie während ihrer Schulzeit mit Mathematik auf Kriegsfuß gestanden hatte. Doch mittlerweile spielte sie gern mit den Zahlen und arbeitete exakt. In das neue 3D-Programm musste sie sich zwar noch einarbeiten, aber das war ein Kinderspiel.
„Guten Morgen, die Damen.“ Herr Rode, Architekt und Chef in einer Person, steckte den Kopf zur Tür hinein. „Frau Thiel, kommen Sie doch bitte in mein Büro.“
„Halleluja Sophie, das klang gar nicht gut.“ Sandra wiegte bedächtig ihren Kopf.
„Keine Ahnung, was er will.“ Ratlos zuckte Sophie mit den Schultern.
Noch einmal tief durchatmen und dann ab in die Höhle des Löwen. Zaghaft drückte sie die Klinke herunter und trat ein.
„Ich habe mir Ihren Plot noch einmal genau angesehen.“ Mit geübten Handgriffen breitete ihr Chef die Zeichnung auf dem Schreibtisch aus. „Fällt Ihnen etwas auf?“
Sophie ließ ihren Blick über das Papier wandern. „Ich kann nichts finden“, gestand sie ihm.
„Genau das ist das Problem.“ Herr Rode räusperte sich. „Schauen Sie sich einmal die Treppen im ersten Obergeschoss an.“
„Oh …“
„Das können Sie laut sagen, Frau Thiel. Das wären wieder einige Tausend Euro Schaden gewesen, wenn der Treppenbauer nach Ihren Maßen gearbeitet hätte.“
Mit hochrotem Kopf stand sie neben ihrem Chef. So ein Patzer war ihr bisher noch nie passiert. Es fehlte genau eine Stufe zum Obergeschoss, sie hatte die Maße falsch eingetragen. Dieser Fehler erschien so winzig auf dem riesigen Plot des Einkaufszentrums, und doch hätte er die Firma in Unkosten gestürzt.
„Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll“, stammelte sie schuldbewusst.
Ihr Chef musterte sie aufmerksam. „Natürlich kann ich nachvollziehen, dass die momentan anfallenden Überstunden meinen Mitarbeitern einiges abverlangen. Es ist unser erstes Projekt in dieser gigantischen Größenordnung, und sollten wir in der Branche Fuß fassen, bekommen Sie auch einen neuen Kollegen an Ihre Seite gestellt. Aber jetzt müssen wir durchhalten und Gas geben.“ Aufmunternd nickte er ihr zu.
„Geht klar, Herr Rode, ich werde sämtliche Maße noch einmal überprüfen.“
„Na dann, frohes Schaffen.“
Geknickt verließ sie das Büro.
„Und?“, fragte Sandra, „Kopf noch dran?“
Sophie winkte ab. „Master of Desaster, ich habe die Treppenhöhe falsch berechnet. Zum Glück ist es dem Cheffe noch rechtzeitig aufgefallen. Das hätte wieder ein Theater gegeben, oh Mann.“ Mit einem Ächzen ließ sie sich auf ihren Bürostuhl fallen.
„Was ist eigentlich los mit dir?“ Sandra hatte eine sorgenvolle Miene aufgesetzt. „Ich dachte, du bist frisch verliebt? Da läuft man doch bekanntlich zur Höchstform auf.“ Ein wissendes Lächeln zeigte sich auf dem Gesicht ihrer Kollegin.
„Genau das ist ja mein Problem. Ich habe manchmal das Gefühl, völlig neben mir zu stehen. Körperliches Unwohlsein, haarsträubende Albträume … es ist zum Verrücktwerden.“
„Warum gehst du nicht zum Arzt? Der kann dir sicher weiterhelfen. Auf keinen Fall solltest du das auf die leichte Schulter nehmen, lass das sicherheitshalber abklären.“
„Werde ich machen“, versprach Sophie mit wenig Begeisterung in ihrer Stimme.
„Kopf hoch, Sophie“, tröstete Sandra. „Ich braue uns erst einmal einen starken Kaffee, dann sehen wir weiter.“
Mit starken Kopfschmerzen steuerte Sophie den Wagen heimwärts. Es hatte sie etliche Überstunden gekostet, die Baupläne bis ins kleinste Detail zu überprüfen. Ihre Augen tränten und sie fühlte sich ausgelaugt. Ein Wannenbad nach dem Abendessen wäre genau das Richtige, um zu entspannen. Sie schleppte sich die Treppe nach oben, schloss die Eingangstür auf und schlüpfte in ihr kleines Reich.
Verwundert blieb sie im Flur stehen und schaltete das Licht an. Wieso waren die Jalousien heruntergelassen? Ja, sie hatte verschlafen, aber sie konnte sich noch daran erinnern, wie die Staubflocken im einfallenden Sonnenlicht über das Parkett getanzt waren. Konnte sie ihren eigenen Wahrnehmungen nicht mehr trauen? Für einen Arztbesuch war es mittlerweile zu spät, den würde sie auf morgen verschieben müssen.
Obwohl sie einen Bärenhunger verspürte, war ihr nicht nach Kochen zumute. In weiser Voraussicht brühte sie sich einen magenschonenden Tee und schmierte zwei Butterbrote. Dann ließ sie Wasser in die Wanne laufen und versank bis zur Nasenspitze im Schaum. Sie versuchte, sich zu entspannen, doch die Gedanken kreisten hinter ihrer Stirn. Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, zog sie sich ins Schlafzimmer zurück. Der Liebesroman lag seit Tagen achtlos auf dem Nachtschränkchen, zum Lesen fehlten ihr Zeit und Muße. Silbern schimmerte das Mondlicht durch die Vorhänge und ehe sie sich’s versah, war sie eingeschlafen.
Ein leises Geräusch holte Sophie aus ihren Träumen. Im Wohnzimmer knarrte das Parkett und sie vernahm leise Schritte. Benommen richtete sie sich auf. Hatte sich eine fremde Person Zutritt verschafft? Sie hasste geschlossene Türen, hoffentlich wurde ihr das jetzt nicht zum Verhängnis.
„Hallo? Ist da wer?“
Das Sprechen fiel ihr außergewöhnlich schwer, der Puls raste und kleine Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Die Schritte näherten sich dem Schlafzimmer. Sie raffte die Bettdecke schützend vor den Oberkörper und hielt den Atem an. Panik machte sich breit.
Ein Schatten baute sich vor ihr auf und lehnte sich lässig an den Türrahmen.
„Nick? Was machst du denn hier?“, nuschelte sie. Ihre Zunge fühlte sich wie ein unförmiger Klumpen an und klebte am Gaumen.
Er hatte seine Hände in den Hosentaschen vergraben und musterte sie belustigt.
„Wie bist du überhaupt in die Wohnung gekommen?“
Sie konnte nicht mehr klar denken. Auf keinen Fall hätte sie Nick einen Schlüssel anvertraut, da war sie sehr eigen. Ein zweiter Schatten gesellte sich dazu. Maike! Nicks Ex legte ihre Hände lasziv auf seine Schultern und küsste ihn leidenschaftlich. Sophie konnte nicht begreifen, was da vor sich ging. Wieso erwiderte Nick diesen Kuss mit einer Intensität, die sie nie bei ihm vermutet hätte?
„Warum tust du mir das an?“, stammelte sie bestürzt.
Er hob seinen Kopf. „Weil du wahnsinnig bist, mein Schatz.“
„Ich bin nicht verrückt“, widersprach sie heftig. Mit zwei Fingern kniff sie sich in den Oberschenkel. Sie spürte den Schmerz, das konnte kein Traum sein. „Verlasst auf der Stelle meine Wohnung“, rief sie fassungslos. „Raus, sofort!“
Sie versuchte, ihren Worten mehr Nachdruck zu verleihen, doch die Stimme wollte ihr einfach nicht gehorchen. Sie sprang entschlossen auf, um die beiden hochkant aus ihrer Wohnung zu werfen. Dabei verhedderten sich ihre Beine in der Bettdecke und sie stürzte auf das Parkett. Schlagartig wurde es dunkel.
„So, dann erzählen Sie einmal, unter welchen Beschwerden Sie in letzter Zeit leiden.“ Der Arzt musterte sie aufmerksam über den Rand seiner Brille hinweg.
Stockend berichtete Sophie von ihren beängstigenden Erlebnissen, bei denen sie anscheinend unter Wahnvorstellungen litt. Am Morgen war sie neben dem Bett aufgewacht und hatte einige Minuten gebraucht, um sich zu orientieren. Sie konnte nicht begreifen, was sich in dieser Nacht abgespielt hatte. Der Hausschlüssel steckte von innen im Schloss, Nick konnte also unmöglich auf herkömmlichen Weg in die Wohnung gelangt sein.
Inzwischen musste sie sich eingestehen, dass ihr Problem größer war, als sie angenommen hatte. Besorgt hatte sie einen Termin beim Hausarzt vereinbart und hockte nun in der Praxis, um ihr Innerstes nach außen zu kehren.
Der Arzt räusperte sich. „Ich werde ihnen ein pflanzliches Präparat verschreiben und Sie sollten sich in nächster Zeit unbedingt schonen. Ihre Werte sind in bester Ordnung, wahrscheinlich macht Ihnen der berufliche Stress zu schaffen. Für die nächsten fünf Werktage sind Sie krankgeschrieben.“
„Aber das geht nicht“, widersprach sie. „Wir arbeiten an einem wichtigen Projekt und der Termindruck lässt uns keine Wahl.“
„Wenn Sie sich keine Auszeit nehmen, Frau Thiel, wird sich an der jetzigen Situation nichts ändern. Sie kennen mich inzwischen schon eine Weile und ich bin bekannt dafür, Krankschreibungen äußerst sparsam auszustellen.“
Mit strengem Blick schob er den Schein über den Schreibtisch in ihre Richtung. Zaghaft nahm sie diesen an sich und verließ die Arztpraxis.
Ihr Chef zeigte wenig Begeisterung, dass sie sich hatte krankschreiben lassen. Die Reaktion war zwar zu erwarten gewesen, aber schon aus einer gehörigen Portion Trotz heraus überlegte sie, alle fünf Tage in Anspruch zu nehmen. Sie hatte ja noch etwas Bedenkzeit.
Die Frage war nur, was sie jetzt mit ihrer freien Zeit anstellte? Gedankenverloren steuerte sie das elterliche Reihenhaus an. Sie brauchte dringend eine Vertrauensperson, mit der sie über alles reden konnte. Ihre Mutter war Freiberuflerin und um diese Zeit meist zu Hause.
„Na, meine Kleine, was treibt dich denn hierher?“, fragte ihre Mutter an der Tür und nahm sie zur Begrüßung in den Arm. „Du kommst genau richtig, ich habe gerade eine Kanne Kaffee aufgesetzt.“ Sophie folgte ihrer Mutter in die Küche. „Musst du heute nicht arbeiten?“
„Nein, ich bin krankgeschrieben“, antwortete Sophie.
„Etwas Ernstes?“, fragte ihre Mutter besorgt.
„Eigentlich nicht, aber ich möchte trotzdem mit dir darüber reden.“
„Gut, setzen wir uns ins Wohnzimmer.“
Mit der Tasse in der Hand ließen sie sich auf der bequemen Couch nieder.
„Wo ist Papa?“
Ihre Mutter seufzte. „Er hat Frühschicht und muss anschließend Überstunden schieben.“
„Woher kenne ich das nur, die Arbeitswelt hat uns fest im Griff“, antwortete Sophie.
„So, und jetzt erzähl. Was bedrückt dich?“ Ihre Mutter nickte ihr aufmunternd zu.
„Wo fange ich bloß an?“ Sophie nippte am heißen Kaffee. „Manchmal habe ich das Gefühl, unter Halluzinationen zu leiden, und hin und wieder treten als Begleiterscheinungen auch Unwohlsein und Übelkeit auf. Letzte Nacht dachte ich wirklich, dass Nick und seine Verflossene wild knutschend in meinem Schlafzimmer stehen. Am nächsten Morgen bin ich dann neben meinem Bett aufgewacht, ich muss wohl rausgefallen sein. Es macht mich wahnsinnig, nicht zu wissen, was mit mir geschieht.“
„Spätzchen“, erwiderte ihre Mutter sanft, „kann es vielleicht sein, dass du dich selbst unter Druck setzt? Es ist eine sehr unglückliche Konstellation, dass Nick mit seiner Exfreundin immer wieder unterwegs ist. Aber du musst lernen, damit umzugehen.“
„Du hast gut reden, Mama.“
„Ich weiß, das Leben ist ziemlich kompliziert.“ Ihre Mutter Christine strahlte Zuversicht aus und kleine Lachfältchen umspielten ihre Augen. Sie war noch immer eine wunderschöne Frau, auch wenn erste graue Strähnchen im kastanienbraunen Haar sichtbar wurden.
„Vertrau darauf, dass Nick die richtige Wahl getroffen hat. Es gibt ein Sprichwort: Aus einer schönen Schüssel isst man nie allein. Vielleicht trifft das auch auf Maike zu. Die Beziehung der beiden ist endgültig vorbei, und sobald du das akzeptiert und verinnerlicht hast, wird es dir seelisch auch wieder besser gehen.“
„Ich weiß doch auch, dass ich mit meiner Eifersucht total übertrieben reagiere. Ständig habe ich Angst, dass Nick mir ansieht, was ich denke, dass er mein Verhalten analysiert.“
„Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, Psychiater sind auch nur Menschen. Du solltest auf den Rat deines Arztes hören und dich schonen. Nur weil du krankgeschrieben bist, geht die Welt nicht unter. Es ist an der Zeit, dass dein Chef eine weitere Kraft einstellt.“
„Mama, du hast ja recht. Es tut gut, mit dir darüber zu reden.“
„Dafür bin ich doch da, du kannst immer zu mir kommen“, erwiderte Christine.
„Übrigens, Nick hat mich gefragt, ob ich zu ihm ziehen will“, platzte Sophie mit der Neuigkeit heraus.
„Na also, wusste ich’s doch. Er meint es tatsächlich ernst, und das freut mich für dich. Bist du denn schon bereit für diesen Schritt?“
Sophie schluckte. „Ja, wahrscheinlich schon. Der Gedanke daran ist noch so frisch, so ungewohnt … Aber ich freue mich, ihm endlich ganz nah zu sein.“
„Das wird schon. Lass dir alles in Ruhe noch einmal durch den Kopf gehen und wenn du Hilfe brauchst, dann melde dich.“
„Danke Mama, du bist die beste.“
„Na, das will ich doch hoffen.“
„Ich werde jetzt nach Hause fahren und mich noch ein wenig ausruhen. Wir sehen uns.“
„Mach’s gut, meine Kleine.“
Nachdem Sophie das Elternhaus verlassen hatte, fühlte sie sich schon bedeutend wohler und lief leichtfüßig zu ihrem Polo. Eine leichte Brise strich über ihre Haut, die Sonne strahlte vom Himmel und sie atmete den Duft des Sommers ein. Ja, das Leben konnte so schön sein. Sie brauchte dringend eine Auszeit und sobald das Projekt abgeschlossen wäre, würde sie bei Herrn Rode eine Woche Urlaub einreichen.
Während der Fahrt zurück traf sie eine Entscheidung. Sie beschloss, an dieser Tour nicht teilzunehmen, Nick würde das bestimmt verstehen. Sie wollte ihren Chef nicht hängen lassen und auf die Besichtigung der Villa konnte sie getrost verzichten.
Sie parkte den Wagen vor dem Haus und eilte die Stufen hinauf. Im Flur kickte sie die Schuhe von den Füßen, hängte die Tasche an die Garderobe und öffnete alle Fenster, um die Sonne hereinzulassen. Anschließend mixte sie sich eine Apfelschorle, setzte sich in den Sessel und legte die Beine hoch. Es wurde allmählich Zeit, das Leben wieder zu genießen.
Ein lästiges Piepsen riss Sophie aus ihren Träumen. Schlaftrunken rieb sie sich über die Augen und riskierte einen Blick auf die Uhr. Sie hatte tatsächlich den gesamten Nachmittag verschlafen. Mit ihrer rechten Hand tastete sie nach dem Smartphone. Nick hatte ihr eine Nachricht geschickt, in wenigen Minuten würde er bei ihr sein.
Hektisch sprang sie auf, jagte oberflächlich mit dem Staubsauger durch alle Zimmer und spülte in Rekordzeit das Geschirr. Es sollte nicht den Anschein erwecken, dass sie alles liegen ließ, jetzt, wo er mit ihr zusammenziehen wollte. Sie hatte diesen Gedanken kaum zu Ende gesponnen, da ertönte die Klingel. Freudestrahlend öffnete sie ihm die Tür.
Ein belustigtes Lächeln huschte über sein Gesicht.
„Was ist?“, fragte sie.
Er beugte sich zu ihr herunter und hauchte zur Begrüßung einen Kuss auf ihre Wange. „Wo hast du dich denn herumgetrieben?“, fragte er und helle Fünkchen tanzten in seinen Augen.
„Ich? Wie meinst du das?“ Irritiert machte sie einen Schritt zur Seite und ließ ihn herein.
Er umfasste sanft ihre Schultern und schob sie wortlos vor den Spiegel der Flurgarderobe.
„Ups … einen Moment bitte, ich bin gleich wieder da.“ Sie wandte sich ab und lief ins Badezimmer. Mit der Bürste brachte sie ihre Haarpracht, die wirr vom Kopf abstand, wieder in Form.
„So gefällst du mir schon deutlich besser. Du hast ausgesehen, als hättest du den ganzen Tag im Bett verbracht.“
„Habe ich auch, zumindest den Nachmittag. Ich bin krankgeschrieben.“
„Man merkt dir gar nicht an, dass du krank bist.“
„Ähm …“ Zu spät, jetzt musste sie Farbe bekennen. „Ich bin ziemlich überarbeitet. Dieses Großprojekt verlangt uns einiges ab und ich mache drei Kreuze, wenn wir den Abgabetermin hinter uns haben. Heute wollte ich es langsam angehen, aber morgen werde ich wieder ins Büro fahren.“
„Du willst trotz Krankschreibung wieder arbeiten?“
„Ja, ich kann die Kollegen doch nicht im Stich lassen“, erwiderte sie.
„Warte mal, hast du den Arzt um eine Krankschreibung gebeten?“
„Nein, natürlich nicht.“
„Na also. Dann brauchst du auch kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn du zu Hause bleibst. Es ist ja lobenswert, wie pflichtbewusst du dich verhältst, aber dein Chef darf dir nicht mehr aufbürden, als du tragen kannst. Wir könnten während dieser Zeit den Umzug in Angriff nehmen und dann bist du fit für die Tour.“
Es stimmte, was er sagte. Dennoch widerstrebte ihr der Gedanke, ausgerechnet jetzt blauzumachen. Wie stand sie denn vor ihren Kollegen da? Außerdem passte es ihr überhaupt nicht in den Kram, den Umzug schon jetzt organisieren zu müssen. Aber sie wollte sich auch nicht querstellen, wo es gerade so gut zwischen ihnen lief.
„In Ordnung, ich werde nicht ins Büro fahren.“
„Braves Mädchen.“ Er strahlte sie an. „Ich habe in meinem Keller noch ein paar leere Umzugskartons, die ich jetzt holen werde. Und wenn ich schon einmal unterwegs bin, bringe ich auch gleich zwei Pizzen fürs Abendessen mit. Na, was sagst du, Ja oder Ja?“
„Überredet.“ Lachend knuffte sie ihn in die Seite. „Danke, dass es dich gibt.“ Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn leidenschaftlich. „Ich freue mich darauf, jeden Morgen neben dir aufzuwachen“, flüsterte sie ihm ins Ohr.
„Ich werde dich nicht enttäuschen“, flüsterte er und löste sich aus der Umarmung. „Wenn ich mich beeile, können wir nachher dort weitermachen, wo wir jetzt aufgehört haben.“ Er zwinkerte ihr zu und verschwand mit seinem jungenhaften Lächeln zur Tür hinaus.
Die Schmetterlinge in Sophies Bauch flatterten Loopings. Ja, es fühlte sich richtig an, diesen großen Schritt zu wagen. Sie träumte von einem weißen schlichten Kleid, einem Einfamilienhaus am Rande der Stadt, mindestens zwei Kindern und einem Hund. Nick war ihr Mister Right, daran gab es nichts zu rütteln. Von diesen wunderbaren Gedanken begleitet, deckte sie den Tisch und überlegte, welche Dinge zuerst ihr kleines Reich verlassen würden.
Nick war schneller zurück als erwartet. Mit etlichen gefalteten Kartons unterm Arm quetschte er sich durch die schmale Eingangstür. Dann hastete er noch einmal nach unten, um die Pizzen zu holen.
„Was für ein appetitlicher Geruch. So frisch und warm vom Italiener schmecken sie am besten“, sagte sie, als sie die Kartons entgegennahm.
„Was hältst du davon, wenn wir nachher die ersten Kisten packen? Dann kann ich sie morgen mitnehmen, bevor ich zur Uni fahre.“
„Das willst du dir echt antun?“
„Natürlich. Denk an die Miete, die du sparst“, neckte er sie.
„Wie könnte ich da Nein sagen.“
„Ich weiß, ich kann sehr überzeugend sein. So, und jetzt sollten wir uns um die Pizzen kümmern.“
Mit einem betont lauten Seufzen ließ sich Sophie neben Nick aufs Bett fallen. „Wahnsinn, fünf Kartons. Hattest du nicht gesagt, dass ich mich schonen soll?“
Zärtlich küsste er ihren Hals, während seine Hände ungeduldig über ihren Körper wanderten. „Wusstest du nicht, dass deine Schonzeit vorüber ist?“, raunte er heiser. „Es darf wieder gejagt werden.“ Lustvoll bog sie sich ihm entgegen und genoss die erregende Zweisamkeit.
Nach dem Liebesakt drehte sie sich auf die Seite und dachte an den bevorstehenden Umzug. Nick hatte sie mit dieser Aktion völlig überrumpelt. Nun war es also beschlossene Sache und sie konnte keinen Rückzieher mehr machen.
„Schläfst du schon?“, fragte er leise.
„Es fehlt nicht mehr viel“, murmelte sie. „Sei mir nicht böse, aber ich bin wirklich müde.“
„Alles gut, träum was Schönes“, flüsterte er.
„Danke, du auch.“
Kurz nach zwei wurde sie wach. Ihre Hand tastete wie gewöhnlich nach Nicks warmen Körper, doch die andere Betthälfte war leer. Sie knipste das Licht an und schaute sich suchend um. Der Wind blies eine kühle Brise in das Zimmer und bauschte die Gardinen auf.
„Nick? Bist du da?“
Er war bestimmt im Badezimmer und die Geräusche hatten sie geweckt. Schlaftrunken schwang sie die Beine aus dem Bett und für einen kurzen Moment wankte der Boden unter ihren Füßen. Es war ein Fehler gewesen, die Kartons zu packen, sie hatte sich wieder einmal übernommen. Barfuß tappte sie in die Küche, um ihren Durst zu stillen und diesen widerlich pelzigen Geschmack auf der Zunge loszuwerden.
Mit einem routinierten Handgriff holte sie ein Glas aus dem Küchenschrank und schenkte sich das Wasser ein. Aus dem Wohnzimmer hörte sie ein merkwürdiges Gemurmel und schlich auf Zehenspitzen zur Tür. Nick verharrte reglos in einer Zimmerecke und hatte sein Gesicht zur Wand gedreht. Mit gedämpfter Stimme spann er ein Mantra, dessen Worte sie nicht verstand. Seit wann schlafwandelte er?
Sie hatte irgendwo einmal aufgeschnappt, dass man Personen in dieser Situation nicht aufwecken sollte. Nervös trat sie von einem Bein auf das andere. Es wirkte schon sehr makaber, wie er die Wand anbrabbelte. Doch sie konnte sich nicht dazu durchringen, ihn an der Hand zu nehmen und zum Bett zu führen.
Wahrscheinlich würde er den Weg allein zurückfinden, er konnte ja nicht ewig so stehen bleiben. Auf Zehenspitzen schlich ins Schlafzimmer und schlüpfte unter die noch warme Bettdecke. Bevor sie überhaupt damit beginnen konnte, Schäfchen zu zählen, war sie auch schon wieder eingeschlafen.
Allmählich verblassten die Träume und Sophie erwachte. Erneut griff ihre Hand ins Leere und Sophie setzte sich auf. Zwei Stunden waren seitdem vergangen und Nick lag noch immer nicht neben ihr. Schwungvoll schlug sie die Decke zurück, umrundete das Bett und lief ins Wohnzimmer. Er hatte seine Position kaum verändert, es war beinahe schon unheimlich. Zögernd griff sie nach seiner Hand, die nun eiskalt in ihrer lag.
„Bitte Nick“, flüsterte sie, „komm zurück ins Bett.“
Wie in Trance drehte er sich um und ging mit einem entrückten Gesichtsausdruck an ihr vorbei. Sie folgte ihm und beobachtete jede seiner Bewegungen. Wie geschickt er schlafwandelte, ohne ein einziges Mal anzuecken, dachte sie erstaunt.
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass er tief und fest schlief, legte sie sich neben ihn. Beim Frühstückstisch würde sie das Thema Schlafwandeln ansprechen. Hoffentlich konnte sie sich damit abfinden, dass die Nächte unruhiger für sie wurden, sobald sie zusammengezogen waren.
Unruhig wälzte sie sich von einer Seite auf die anderen. Erst als die Morgenröte über der Stadt aufzog und den Himmel in ein Flammenmeer verwandelte, schlief sie wieder ein.
Sophie stellte hastig den Wecker aus und drehte sich auf die andere Seite. Zärtlich strich sie Nick durch das Haar, um ihn zu wecken.
„Guten Morgen“, sagte sie und küsste ihn. Nick wirkte etwas angeschlagen.
„Warum ist die Nacht nur so kurz?“, seufzte er. „Ich fühle mich, als hätte ich kein Auge zugemacht.“
Das war genau das Stichwort, um das Thema anzusprechen. „Warum hast du mir eigentlich nie erzählt, dass du schlafwandelst?“, fragte sie.
„Schlafwandeln? Wie kommst du denn auf die Idee?“
„Na hör mal, du hast geschlagene zwei Stunden im Wohnzimmer in der Ecke gestanden. Du warst nur mit Boxershorts bekleidet, dein Körper war eiskalt.“
„Sophie, du hast wirklich eine blühende Fantasie. Bis jetzt hat sich noch nie jemand darüber beschwert, dass ich nachts durchs Haus geistere.“
„Dann bin ich eben die Erste“, erwiderte sie. „Ich hatte Durst und bin in die Küche gegangen, um ein Glas Wasser zu trinken. Dort habe ich ein merkwürdiges Flüstern gehört und dich dann im Wohnzimmer entdeckt. Falls du mir nicht glaubst, das Glas steht noch neben der Spüle.“
„Gut“, Nick klopfte auf die Decke, „dann lass uns in die Küche gehen.“ Mit einem Satz war er auf den Beinen und lief voraus. Sophie folgte ihm. „Siehst du, ich hatte recht, da steht kein Glas.“ Er deutete auf die Spüle.
„Aber … aber das kann nicht sein“, stammelte sie verwirrt. „Ich könnte schwören, dass ich wach gewesen bin. Deine Hände haben sich eiskalt angefühlt und ich schmecke noch immer das Wasser auf meiner Zunge.“ Sie versuchte ihren Worten mehr Nachdruck zu verleihen, doch ihre Stimme klang wenig überzeugend.
Nick musterte sie nachdenklich. „Manchmal spielen uns die Sinne einen Streich, wenn wir die Grenzen der Belastbarkeit erreicht haben. Du hast ziemlich lebhaft geträumt, nicht mehr und nicht weniger. Es besteht kein Grund zur Sorge.“
Er zog sie zu sich heran und küsste ihren Scheitel. „Lass den Tag heute ruhig angehen und nimm dir deine wohlverdiente Auszeit. Ich kann nachvollziehen, wie sehr dich das belastet, aber das wird schon wieder. Geh dich erst einmal frisch machen, ich werde in der Zwischenzeit Kaffee kochen und den Tisch decken.“ Er gab sich Mühe, sie mit seiner lockeren Art zu trösten und das Gewesene zu überspielen.
„Danke, du bist ein Schatz.“
Sie lächelte ihn an und verschwand im Badezimmer. Dort hockte sie sich auf den Toilettendeckel und versuchte zu begreifen, was da vor sich ging. Wieso war das Glas verschwunden? Das ergab doch alles keinen Sinn. Sie hatte Nick gesehen, sich über sein Verhalten gewundert. Litt sie tatsächlich unter Halluzinationen?
Sobald Nick die Wohnung verlassen hätte, würde sie sich im Internet über psychische Krankheiten informieren. Mit solchen Dingen hatte sie sich zwar noch nie beschäftigt, aber sie wollte endlich begreifen, was mit ihr nicht stimmte.
Sie duschte kurz, zog sich an und setzte sich zu Nick an den Frühstückstisch. Sie hatte ihre liebe Not damit, ihr aufgewühltes Innerstes vor ihm zu verbergen. Zum ersten Mal überkamen sie ernsthafte Bedenken, dass das gemeinsame Leben mit einem angehenden Psychiater anstrengender werden könnte, als angenommen. Aber die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass man sich mit der Zeit daran gewöhnen und ganz unbefangen miteinander umgehen würde. Leider war Geduld noch nie ihre Stärke gewesen.
„Ich komme nach der Uni wieder zu dir“, sagte er. „Du kannst ja schon ein paar Dinge auf einen Zettel schreiben, die verpackt werden sollen. Und während du die Füße hochlegst und Anweisungen erteilst, stopfe ich die Kartons voll. Na, was hältst du davon?“
„Ich weiß nicht so recht …“, zögerte sie. „Es ist mir unangenehm, anderen beim Arbeiten zuzusehen.“
„Ach was“, widersprach Nick und fügte mit einem Lächeln hinzu: „Du gibst nur ungern die Kontrolle ab. Stimmt’s oder habe ich recht?“
„Wirst du mich jetzt immer analysieren?“, fragte sie mit einem Seufzer.
„Nein, natürlich nicht.“ Er musterte sie mit ernstem Blick. „Es sei denn, du lässt dich privat versichern. Dann können wir gerne über meinen Stundensatz verhandeln.“
„Du bist unmöglich“, erwiderte sie lachend.
Nick stand auf, stellte das Geschirr in die Spüle und verabschiedete sich von ihr. „Ruh dich aus und lasse mal alle Fünfe grade sein. Ich helfe dir nachher beim Packen, versprochen. Hab einen schönen Tag, Liebes.“
„Danke Nick, du auch.“
Sie stand am Fenster, winkte ihm ein letztes Mal zu und sah dem davonfahrenden Wagen hinterher. Dann war sie mit ihren Sorgen wieder allein.