Читать книгу Lina und der Traum von Freiheit - Ana Gostini - Страница 6

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Kapitel 2

1976

Vier Jahre sind vergangen und Lina ist nun acht Jahre alt. Ihr Leben verläuft ruhig.

In der Zwischenzeit sind ihre Urgroßeltern verstorben, aber Lina hat ihre Großeltern noch und das ist die Hauptsache.

Bestraft wurde sie seitdem nicht mehr, den Lina war seit diesem Tag, als sie vor lauter Schmerzen kein Auge zumachen konnte, ein ganz braves Mädchen gewesen. Sie hat verstanden, wie die Dinge laufen. Da Lina Harmonie sehr schätzt, achtet sie immer darauf, gehorsam zu sein.

Sie wollte ihrem Großvater keinen Grund mehr geben, sich zu ärgern.

»Wenn man schön artig ist, gibt es keine Strafen.«

Heute ist Mittwoch, ein ganz normaler Tag im September.

Lina hatte vor kurzem Geburtstag und bekam ein Märchenbuch von ihrer Mutter.

Sie ist gerade im Lesen vertieft, als ihre Großmutter ins Zimmer kam. »Lina, ich muss mit dir reden.«

»Ja, „gute Mama“, was ist denn los?«

»Dein Vater wird am Samstag herkommen und du fährst mit ihm in die Hauptstadt.«

Lina ist verwundert, denn sie weiß, dass sie einen Vater im Ausland hat, kennt ihn jedoch nicht. Er wanderte nach Deutschland aus, als Lina zwei Jahre alt war. Fünf Jahre hatte er dann als Flüchtling ein Einreiseverbot. Im Laufe der Jahre hatte sie ein paar Pakete mit Süßigkeiten von ihm bekommen, aber für sie war er „der unbekannte Vater“, den sie nie gebraucht hatte.

Ein echter Vater hat ihr nie gefehlt, denn eine Vaterfigur gab es ja schon, in Gestalt ihres Großvaters.

»Was will er?«

»Dich kennenlernen«, sagte die Großmutter.

»Dein Vater muss in die Hauptstadt, weil er durch den Tod seiner Mutter eine Wohnung dort geerbt hat, dorthin würde er dich gerne mitnehmen.«

»Ich will aber nicht, ich kenne diesen Mann doch nicht!« Trotzig stemmt Lina die Hände in die Hüfte.

»Gib ihm bitte eine Chance, es wird bestimmt alles nicht so schlimm werden, wie du glaubst.«

Lina ist so traurig, dass sie keine Ruhe findet, sie hat Angst vor diesem unbekannten Mann.

»Bitte, „gute Mama“, ich will nicht weg von zu Hause.«

Leider hilft alles nichts, denn sie muss mitfahren.

Ein Kind hat nicht das Recht, selbst Entscheidungen zu treffen, sondern muss sich nach den Erwachsenen richten.

»Immer gehorsam sein, Lina«, dachte sie sich und ihr wurde bewusst, dass sie so oder so keine Wahl hatte.

Lina hat ein ungutes Gefühl dabei, ihr Verstand sagte, dass Gefahr im Anmarsch ist und sie spürt, wie ihr kleines Herz ganz schnell zu klopfen beginnt.

Sie versuchte in den darauffolgenden Tagen, die Zeit zum Stillstehen zu bringen, indem sie ganz konzentriert und mit starrem Blick vor einer Uhr stand und bettelte, »Liebe Zeit, bleib doch bitte stehen!«

Ihre kleinen Hände schlug sie dabei wie zum Beten zusammen.

Ihr war bewusst, dass das nicht möglich war, nur wenn jemand sterben würde, aber das wollte Lina auch nicht. Sie hoffte trotz allem auf ein Wunder.

»Wir können die Zeit leider nicht anhalten, sie wird uns immer in eine ungewisse Zukunft mitnehmen.«

Lina ist zu jung, um das zu begreifen. Samstag ist da und Lina hofft noch immer, nicht mitfahren zu müssen.

Es klingelt an der Tür. Lina hält den Atem an.

Eine bekannte und eine unbekannte Stimme sind ganz leise vom Flur aus zu hören.

»Es ist leider kein Wunder passiert«, sagt Lina mit ganz leiser und trauriger Stimme zu sich selbst. Die Wohnzimmertür öffnet sich, die Großmutter und ein hässlicher Mann treten ein. Mit energischer und aufdringlicher Stimme begrüßt er sie. »Hallo Lina, ich bin dein Vater Erwin, ich freue mich, dich wieder zu sehen.« »Ich mich auch«, log Lina mit bedrückter Stimme. Sie freut sich überhaupt nicht, aber sie hat gelernt, immer höflich und gehorsam zu sein. »Schöne Reise, mein Liebling«, sagte die Großmutter zum Abschied.

»Nein, das wird keine schöne Reise«, denkt sich Lina, während sie in das fremde Auto steigt.

Sie schaut sich neugierig die Innenausstattung des Autos an. Sie saß erst zwei Mal in einem Auto, besser gesagt in einem Taxi. In ihrer Familie besitzt niemand ein Auto, denn auch wenn sie sich eines leisten könnten, würden sie keines brauchen.

Wofür hat man denn zwei gesunde Beine, eine Straßenbahn und Busse, hörte sie ihre Großmutter immer sagen. Lina wünscht sich aber trotzdem als Erwachsene auch mal so ein schönes Auto zu besitzen.

Sie sitzt vorne am Beifahrersitz neben ihrem vermeintlichen Vater und studiert sein Gesicht. Sie findet ihn wirklich nicht schön. Ein bärtiger Mann mit einer großen Nase, einem großen Mund mit dicken Lippen und mittellangem Haar. Sein Geruch ist unangenehm und unbekannt.

Lina sitzt ganz steif da und kann sich nicht entspannen. Sie weiß nicht, worüber sie mit diesem Unbekannten sprechen könnte. Die Stunden vergehen, der Mann, der sich ihr Vater nennt, redet ununterbrochen und Lina betet, dass sie endlich ihr Ziel erreichen würden. Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen sie am Ziel an. Kein großer Unterschied zu der kleinen Vorstadt, aus der sie kam. Die Menschen waren dunkel gekleidet und hatten ernste Blicke auf ihren Gesichtern. In der Luft lagen Traurigkeit und Resignation.

Sie traten in einen tristen Wohnblock ein und stiegen die Treppe nach oben in eine extrem kleine Wohnung, die nach Armut stank. In der Zwischenzeit ist es Abend geworden und Lina hat eine zehnstündige Reise hinter sich. Sie fühlt sich müde, aber innerlich unruhig.

»Komm, zieh deine Klamotten aus, wir gehen jetzt duschen!«

»Ich will mich aber nicht ausziehen«, sagt Lina fast schon panisch.

Nur bei dem Gedanken, dass sie nackt vor einem Fremden steht, wurde ihr schlecht.

»Hör auf mit dem Theater«, sagt Erwin mit lauter Stimme und fängt an, Lina auszuziehen.

Lina wehrt sich nicht, sie hat Angst, fühlt sich so schwach, dass sie alles über sich ergehen lässt wie eine Marionette.

Sie schämt sich, kann aber nichts dagegen tun.

Sie steigt in die Dusche, Erwin, der sich ebenfalls schon ausgezogen hat, steigt dazu und fängt an, Lina zu waschen, insbesondere zwischen ihren kleinen Beinchen. Komplett starr wartet Lina darauf, dass alles vorbei ist.

»Anziehen und ab ins Bett!«, ruft ihr Erwin entgegen.

Lina geht ins Bett, Erwin schaltet das Licht aus und legt sich zu ihr. Er presst seinen Körper an Linas und legt seine Hand zwischen ihre Beine.

»Gute Nacht, träum was Schönes.«

Lina ist ängstlich, alles fühlt sich ganz falsch an.

Ihr Großvater hat sie niemals intim berührt und sie spürt, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmt. Sie kann nicht einschlafen und traut sich nicht, sich zu bewegen, irgendwann schläft sie dennoch ein.

»Lina steh auf, genug geschlafen.«

Lina öffnet die Augen und von einer Sekunde auf die andere erinnert sie sich an den letzten Abend, sie spürt, wie ihr schlecht wird und läuft schnell ins Bad, um sich zu übergeben.

»Was ist los mit dir, bist du schwanger?« Der Vater lacht lauthals und denkt, dass er einen guten Witz gemacht hat.

Vor lauter Schreck kann Lina nicht antworten. »Was wäre, wenn sie wirklich schwanger wäre?«

»Wäre das möglich?« In ihrer Familie spricht niemand über solche Dinge, dieses Thema war immer tabu.

Sie hat ein paar Freundinnen, diese reden aber nur über Puppen, Prinzen und Prinzessinnen.

Mit ganz leiser Stimme fragte sie ihn.

»Kann es sein, dass ich schwanger bin?«

Erwin fängt an zu lachen. »Du bist so dumm wie deine Mutter. Ich frage mich, ob du überhaupt mein Kind bist, denn charakterlich und äußerlich sind wir uns überhaupt nicht ähnlich.«

Das tat weh und Lina versteht nicht, was sie falsch gemacht hat. Sie wünscht sich nur, wieder zu Hause zu sein.

»Ich muss noch etwas erledigen und komme erst am Abend wieder zurück. Eine Bekannte von mir wird auf dich aufpassen.«

Lina freut sich über diese Nachricht und atmet auf.

Der Tag verging wie im Flug, die Bekannte war nett und erzählte ihr viele Geschichten, sie blieb auch über Nacht. »Dein Vater kommt leider erst morgen wieder zurück.«

»Warum leider?«, fragt sich Lina, denn sie freut sich darüber und ist erleichtert.

Am Morgen kam Erwin wieder zurück. »Pack deine Sachen, ich fahre dich nach Hause.«

»Super danke, ich freue mich.«

»Froh? Wieder in dem dreckigen Nest zu sein? Du bist wirklich ein Schwachkopf«, verspottete er sie. Lina blieb ruhig, er konnte sagen, was er will, sie freute sich nur auf zu Hause.

Wieder zehn Stunden Reisen und Selbstgespräche von Erwin …

Endlich zu Hause angekommen, rennt Lina in die Arme der „guten Mutter“. Dieser bekannte und geliebte Geruch und das Gefühl von Geborgenheit, das hat Lina sehr vermisst.

»Wir sind da und ich muss mit dir reden«, sagte er zur Großmutter.

»Sicher, kommt rein. Ich bin so froh, dass ihr wieder da seid.«

»Ich war etwas besorgt, schade dass wir kein Telefon besitzen, denn sonst hätte ich mich vergewissern können, dass alles in Ordnung ist.«

Wenn die Großmutter wüsste, was alles passiert ist.

Sie wird es aber niemals erfahren. Das wird Linas Geheimnis bleiben, weil sie sich dafür schämt und weil ihre Großmutter sicher verärgert wäre. Sie liebt sie abgöttisch und möchte ihr keinen Kummer bereiten.

Lina geht in ihr Zimmer und belauscht das Gespräch aus der Ferne.

»Ich muss berichten, dass ich ganz enttäuscht von Lina bin. Sie redet kaum etwas und ist sehr introvertiert. Ihr Benehmen ist nicht das eines glücklichen Kindes. Ich glaube, dass sie psychische Probleme hat und die Gene ihrer Mutter geerbt hat.«

Die Großmutter zog eine Augenbraue hoch und musste erstmal schlucken. »Wie kannst du so etwas behaupten?«, fragte sie ihn mit zittriger und weinerlicher Stimme. »Lina ist empfindlich, aber ein ganz gutes und liebes Kind. Es war bestimmt nicht einfach für sie, mit einem Fremden so eine weite Reise machen zu müssen.«

»Man wird sehen, wie sie sich entwickelt«, sagte er mit einer arroganten Stimme. Die Tür öffnete sich und Erwin verabschiedet sich.

»Wiedersehn«, sagte Lina mit schwacher Stimme.

Die Tür fiel ins Schloss und Lina konnte endlich wieder aufatmen. »Der böse Mann ist weg.« Sie lachte und lief durchs Haus.

»Lina, ich bin so froh, dass du wieder da bist, wie war es?«, fragte die Großmutter neugierig.

»Es hat mir nicht gefallen.« Lina erzählt ihr alles, bis auf das Geheimnis. Dieses bleibt versteckt. In einem kleinen Kästchen, ganz tief in ihrer Seele.

Sie hofft, dass der böse Mann nie wieder zurückkommt.

Lina und der Traum von Freiheit

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