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Warum Gores Heimatstadt keine Geschichte hat, welche Rolle ein Ziegelstein bei seiner Erziehung spielte und wie er die Texte der größten Siebziger-Hits lernte.

Der Zweite Weltkrieg traf London hart. Deutsche Bomber richteten in einigen Vierteln der englischen Metropole große Zerstörungen an; ganze Wohnsiedlungen verschwanden – und für die vielen Menschen, die zu dieser Zeit in London lebten, fehlte plötzlich Wohnraum. Schon in den Dreißigerjahren gab es Bestrebungen der britischen Regierung, die enge Hauptstadt zu entvölkern und Bewohner in neu gegründete Städte außerhalb Londons anzusiedeln. Durch die Luftangriffe der Deutschen verschärfte sich diese Problematik; es entwickelte sich der sogenannte »London Overspill«: Städte, die man eigens für Menschen aus dem Boden stampfte, die in London keinen Platz mehr fanden. Eine dieser »New Towns« liegt 41 Kilometer östlich von London und heißt Basildon. Sie ist ein Zusammenschluss aus vier kleinen Dörfern – eine Stadt, entstanden in einem städtischen Planungsbüro. Ende der Vierzigerjahre lebten 34.000 Menschen in Basildon. Heute sind es fast viermal so viel.

Die ersten Familien aus dem übervölkerten London kamen 1951 nach Basildon. Später zogen auch Briten aus anderen Ecken der Insel nach Basildon, denn der Staat förderte die New Town: Fabriken entstanden, für damalige Verhältnisse schicke Wohnsiedlungen und eine beachtliche Infrastruktur. So entwickelten sich in Basildon besondere soziale Verhältnisse: Die neuen Einwohner der Stadt waren in familiärer Hinsicht entwurzelt und suchten daher Anschluss in anderen Gemeinschaften. Vereine und Pubs spielten dabei eine große Rolle; die Jugendlichen gründeten Gangs. Menschen, die am Tag ihres Umzugs lediglich einte, dass sie fortan zusammen in einer Stadt ohne Historie leben würden, schlossen sich zusammen – und manchmal hielten diese jungen Communities länger als tief verwurzelte Gemeinschaften, die zu jeder Zeit einen historischen Rucksack mit sich trugen. Dass mit Martin Lee Gore und Andrew John Fletcher zwei Charaktere aus Basildon das Rückgrat einer seit fast 30 Jahren aktiven Band bilden, ist daher mehr als ein Zufall.

Die Familie Gore – die Eltern David und Pamela sowie Martins zwei jüngere Schwestern Karen und Jacqueline – siedelten von Dagenham, Essex, im Speckgürtel von London 20 Meilen weiter östlich nach Basildon um. Anders als andere große Brüder in dieser Gegend war der junge Martin, geboren am 23. Juli 1961, kein Draufgänger. In einem Interview 1985 erzählt er von einem Ereignis aus seiner frühen Kindheit, das aus seiner Sicht seine scheue Art begründet: »Ich erinnere mich, dass ich bis zu meinem fünften Lebensjahr ein sehr braver Kerl war. Dann ging ich durch eine Phase, in der ich andere Kinder verdrosch. Eines Tages erwischte mich meine Mutter, als ich einen Ziegelstein auf den Kopf eines anderen Kindes schlug. Mein Vater wurde sehr wütend. Er drohte mir, ich solle nie wieder jemand anders schlagen. Heute bin ich froh, dass er mir das so klar gesagt hat. Seine Worte haben mich sehr passiv und harmlos werden lassen.« Gore ging gerne zur Schule. Später sagte er, er habe sich dort »sicher gefühlt«. Seine Stärke waren die Sprachen, Französisch und Deutsch fielen ihm leicht. Und doch: Das Reden an sich missfiel ihm. Egal wen man bis heute fragt, welchen Eindruck Martin als Teenager gemacht habe, alle sagen zunächst: »Er war schüchtern.« Erst später kommen sie dann fast alle mit der Anekdote, die von einem anderen Gesicht Gores erzählt. Ein Gesicht, das sich zeigt, wenn der dünne Junge mit den blonden Locken gehörige Mengen Alkohol konsumiert hat. Dann kommt es vor, dass dieser sonst so wortkarge Mann in geselliger Runde spätnachts plötzlich den Alleinunterhalter gibt – am liebsten mit der Akustikgitarre und fehlerfreien Versionen amerikanischer Middle-of-the-road-Songs.

Die Textsicherheit erwarb Gore als fleißiger Leser des britischen Magazins Disco 45. Das Heftchen – am Kiosk für zehn Pence zu haben – verstand sich als Songbook und bot weniger Neuigkeiten und Interviews aus der Musikszene der Siebzigerjahre als die Song-Lyrics der größten Hits eines jeden Monats. Manchmal verriet das Magazin sogar die Akkorde einiger Stücke. Gore hatte nach eigener Aussage Hunderte Ausgaben von Disco 45 zu Hause und ging vom ersten bis zum letzten Song alle Texte durch. Er bekam ein Gespür für Themen und Versmaße – und später, nachdem ihm ein Freund die ersten Akkorde auf der Akustikgitarre beigebracht hatte, auch für die musikalische Struktur eines erfolgreichen Hits. Eine seiner Lieblingsbands in den Siebzigern machte es ihm in dieser Hinsicht jedoch äußerst schwer: Gore stand – neben einer Leidenschaft für Gary Glitter – auf die Sparks, die Band um die Brüder Russell und Ron Mael, die sich 1970 in L.A. formierten und 1973 nach England zogen, weil sie dort mehr Fans hatten.

Interessant an den Sparks: Neben dem Sänger Russell spielte Bruder Ron scheinbar eine Nebenrolle. Doch echte Fans wie Gore wussten nicht nur dessen exaltiertes Auftreten zu schätzen (vor allem natürlich sein legendäres Schnurrbärtchen), das John Lennon beim Anblick der Band in der TV-Show Top Of The Pops zu dem Ausruf animierte: »Jesus, die haben Hitler in der Sendung!«), sondern auch seine musikalischen Visionen, die er uneitel im Schatten seines singenden, im Scheinwerferlicht stehenden Bruders als heimliches Mastermind verwirklichte. Gore war früh klar: Um seine Rolle gut zu spielen, muss ein Chef nicht unbedingt singen. Auch in seiner ersten Band nutzte Gore das Mikrofon nur für gelegentliche Backing Vocals; ansonsten spielte er bei Norman & The Worms die begleitende Akustikgitarre. Die Stimme der Gruppe gab sein Schulfreund Philip Burdett. In einem frühen Feature über Depeche Mode beschrieb ein Journalist des Magazins Smash Hits, der das Duo und dessen spätere Backingband um 1978/79 live sah, Norman & The Worms als »eine am Westcoast-Sound orientierte Band, die ›nette Lieder‹ spielte«.

Die meisten davon stammten aus der Feder Burdetts, der bis heute Teil des Songwriter-Circuits rund um London ist (der Besuch seiner Seite auf MySpace gibt einen Eindruck davon, welchem musikalischen Stil sich Norman & The Worms gewidmet haben). Eine der wenigen Gore-Kompositionen hieß See You – und kam einige Jahre später auf ganz andere Weise nochmals zu Ehren. Auch die spätere Depeche-Mode-Nummer A Photograph Of You entstand zu dieser Zeit – ein recht naives Liebeslied, das Gore vielleicht seiner ersten Freundin Anne Swindell widmete, die wie er auf die St. Nicholas School ging. Dort drückte auch ein schlaksiger Kerl namens Andy Fletcher die Schulbank, dessen Familie von Birmingham nach Basildon gezogen war. Er und sein Klassenkamerad Gore bauten eine Beziehung auf, die das Wort »Freundschaft« nur zu einem Teil charakterisiert (was aber nichts damit zu tun hat, dass Fletcher zuvor mit Anne Swindell zusammen war).

Auf eine Art ergänzten sich die beiden: Fletcher war lange nicht so schüchtern wie Gore und Ende der Siebziger sogar ein fast missionarisch gesinnter Christ mit festem Willen, andere von seinem Glauben zu überzeugen. Außerdem war er in Basildon gut vernetzt und spielte früh in Bands. In den Anfangstagen seiner Beziehung zu Gore gab Fletcher den Ton an. Er war es, der nach der Schule einen Job in London annahm. Gore zog nach, denn für den Gang an die Universität fehlte es ihm an Motivation. Fletcher machte ihn zudem mit der Clubszene in und um Basildon vertraut. Bis dahin war Gore abends kaum aus gewesen; später sagte er, er habe als Teenager unter der »Anschauung eines Vorstadtlebens« gelitten. Und Fletcher hatte auch die entscheidenden Kontakte, die Gore schließlich in die Band führten, die bis heute sein Leben bestimmt. Martin Gore und Andy Fletcher: zwei Basildon Boys, die eigentlich kaum mehr eint, als dass sie beide aus einer Stadt kommen, die es zur Geburt ihrer Eltern noch gar nicht gab. Und die bis heute dennoch so stark miteinander verbunden sind, dass keine der vielen Turbulenzen, die sie zusammen erlebt haben, sie auseinanderbringen konnte.

Insight - Martin Gore und Depeche Mode

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