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Punk bringt Farbe ins graue England der Siebziger – und Martin Gore profitiert davon.

Die Engländer sind kein optimistisches Volk. Manchmal ist die Klappe groß und der Humor böse. Aber im Grunde sind sich die Menschen zwischen Newcastle und Dover ziemlich sicher, dass ihr Land nicht wirklich zu den gesegneten Flecken auf der Erde gehört. Warum sonst dieses Wetter? Engländer finden immer einen Grund, sich über Gott und die Welt zu beklagen. So wie sie auch immer einen Weg finden, irgendwo mit irgendwem einen zu trinken. Doch Mitte der Siebzigerjahre ist die Stimmung in England besonders düster. Die Wirtschaft steckt in der Rezession. Es regiert die Labour Party, und weil die Sozialdemokraten auch kein anderes Mittel wissen, wollen sie die Löhne senken. Die Arbeitslosigkeit erreicht Zahlen wie zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Der britische Popjournalist und Punk-Chronist Jon Savage schreibt am 2. Dezember 1975 in sein Tagebuch: »Eine Vorstadt von London: Sterilität – Zynismus – Langeweile, die in Gewalt umschlägt; beginnende rechtsextreme Gegenreaktion. Fuck London für seine Dumpfheit, die englische Bevölkerung für ihre Verzagtheit und das Wetter für seine Kälte und Dunkelheit.«

Bonjour Tristesse. Cool Britannia kommt erst Jahre später. Bernard Sumner von New Order sagt, er habe als Kind der Stadt Manchester seinen ersten Baum erst mit neun Jahren gesehen. Klar, im industriellen Norden ist das Grau doppelt grau. Aber England ist Mitte der Siebziger kein Land, in dem Teenager vor Lebenslust zur Gitarre greifen. Das Motiv ist eher Frust – sowie das dringende Bedürfnis, etwas gegen die Langeweile zu unternehmen. Pophistorisch betrachtet sind die fast apokalyptischen Mittsiebziger die zweitwichtigste Zeit für das Land. Da waren die Sechziger mit den Beatles, den Stones, der British Invasion. Doch diese Musik spielt 1975 und später kaum noch eine Rolle. Die alten Beat-Musiker, die nicht souverän ihr Erbe verwalten, weil sie keines haben, spielen mit dicken Bäuchen und schütterem Haar auf kleinen Kneipenbühnen. Pubrock heißt die Musikrichtung: gemütliches Standardgedudel. Kein Funke Innovation, keine Lust auf Rebellion.

Und die britische Jugend? Geht trotzdem in die Pubs, weil es keinen anderen Ort gibt, an dem man sich in England betrinken kann. In Basildon schon mal gar nicht. Martin Gore zieht es, sobald er Zutritt erlangt, in die typischen Trinkhallen der Satellitenstadt. Er hört die gemütlichen Pubrocker, die schamlos das Repertoire der Standards aus den Sechzigern plündern, und die Lieder aus der obligatorischen Jukebox. Was er da hört, gefällt ihm. Sein Faible für traditionelle Rockmusik verbietet ihm, geschmäcklerisch gegen den Pub-Mainstream zu wettern. Seine erste Band Norman & The Worms ist im Grunde nichts anderes als Pubrock nach einer moderaten Frischzellenkur. Es hilft nichts: Um auch in Basildon ein wenig von der Stimmung des Londoners Jon Savage zu verstehen, der der ganzen Nation ein lautes »Fuck!« zubrüllt, müssen wir Gore für einen Moment verlassen.

Erste Station: Chelsea, London. Dort wirkt der Designer und Kommunikationsprofi Malcolm McLaren und findet, die englische Jugend habe bessere Bands verdient als die Progrock-Dinosaurier und Pubrock-Parasiten. Darum konzipiert er die Sex Pistols. Sein Motiv nennt er 1977 dem Musikmagazin Sounds: »Ich will die Teenager in Aufregung versetzen, ihnen eine Band mit ein bisschen Inhalt und Wert geben. Ich will ihrem Leben ein Abenteuer schenken und ihnen das Selbstbewusstsein geben zu sagen, was sie denken. Das ist der einzige Grund für Rock’n’Roll.« Über die Begriffe Inhalt und Wert lässt sich sicher streiten, aber Aufregung, Abenteuer und Selbstbewusstsein treffen ins Schwarze: Als die Stimmung in England auf dem Tiefpunkt ist, entsteht mit dem Punkrock eine musikalische Bewegung, deren Wucht die Popkultur des Landes für Jahre prägt. Die Sex Pistols gönnen sich den Spaß, die gesamte englische Tradition mit Füßen zu treten. Anarchisten, Antichristen, Anti-Monarchisten, Anti-Kapitalisten – von allen englischen Heiligtümern lassen sie nur den Sport in Ruhe: Hasslieder der Sex Pistols auf Fußball, Cricket oder Wimbledon gibt es nicht.

In Basildon bekommen besonders Neugierige natürlich mit, was da von Chelsea ausgehend in England passiert. Die paar TV-Auftritte der Sex Pistols sind legendär, die ersten Punkrock-Bands spielen ab 1976 auch in den Clubs von Basildon und Umgebung. The Sex Pistols, The Damned, The Stranglers, The Clash, The Adverts, The Vibrators – jede Woche ein neuer Name, jede Woche neue Aufregung und ein neues Abenteuer. Das Geschehen auf der Bühne ist das Gegenprogramm zur politischen Entwicklung: Die Regierung der Labour Party unter Premierminister James Callaghan steht auf wackligen Beinen, und in seinem Schatten entwickelt sich Margaret Thatcher zur Hoffnung der Konservativen. Ihren Spitznamen »Iron Lady« trägt sie schon seit 1976, und wer ein bisschen Sinn für politischen Realismus besitzt, weiß Mitte und Ende der Siebzigerjahre bereits, was England bald blühen wird. Doch die Lage ist auch ohne eine Eiserne Lady an der Spitze mies – und für die Jugend besonders perspektivlos. Der Staat ist überschuldet, und unter den Sparmaßnahmen leiden vor allem die jungen Engländer, die nach dem Schulabschluss plötzlich alleine dastehen und nicht wissen, was sie tun sollen.

Im Zweifel bleibt dann eben der Griff zum Musikinstrument. Die Punkrocker machen es vor – Können ist nicht notwendig, mehr noch: nicht erwünscht. Nachdem der Progrock die Botschaft in sich trug, Musiker müssten wirklich Musiker sein, heißt die Devise des Punk: Musik ist, wenn die Band das sagt und laut genug ist. So kommt es in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre zu einer Reihe von Bandgründungen – auch in Basildon. Vince Clarke (der sich zu dieser Zeit noch Vince Martin nennt) ist einer dieser Teenager ohne Perspektive. Wer weiß, ob Martin Gore überhaupt ein erfolgreicher Songwriter geworden wäre, hätte dieser Clarke nach der Schule Karriere machen können. Doch da ging außer ein paar Aushilfsjobs nichts, und so hegt er, angestiftet vom Punkrock und ohne wirklich gute Kenntnisse eines Instruments, den Wunsch, Musiker zu werden. Als wäre es ein Recht der Jugend, sich auf diesem Weg Gehör zu verschaffen.

Statt sich – wie vor der Punk-Explosion üblich – an den Standards der Beatles oder von T-Rex zu versuchen und dann beim Üben die Unschuld zu verlieren, gründet Clarke zusammen mit Andy Fletcher die Band No Romance In China, die sich ganz offen an einem anderen aufregenden neuen Act orientiert: an The Cure, deren Album Three Imaginary Boys 1979 für Aufsehen sorgt. Von Beginn an entwickeln Clarke und Fletcher ein Faible für Bands, die nicht bestmöglich spielen, sondern einen Code besitzen. Später, bei Depeche Mode, lautet er »synths only« – und auch wenn Punkrock für Gitarren und Rotz steht statt für Keyboards und gebügelte Hemden: Die Attitüde der Band, in der Gore zum Songwriter wird, ist stark vom Punkrock und dem Zeitgeist der mittleren und späten Siebzigerjahre beeinflusst. Depeche Mode – ein reines Kind der Achtziger? Wohl kaum.

Dass kein Missverständnis aufkommt: Depeche Mode sind zu keiner Zeit eine Punkrock-Band. Dafür steht eine schöne Anekdote, die Robert Marlow – Szenegröße aus Basildon und in den Bands The Plan und French Look aktiv – in Jonathan Millers Depeche-Mode-Biografie Stripped erzählt: »Andy und ich waren eines Abends auf dem Weg nach London, um The Damned zu sehen. Fletch trug eine Eisenbahnjacke mit British-Rail-Buttons. Wir stiegen in den Zug und trafen ein paar Mädchen, die ebenfalls aus Basildon kamen. Und was sagt Fletcher? ›Oh, Rob, fandest du es gestern Abend nicht auch schön in der Kirche?‹ Da saß ich also, war auf dem Weg zu einem Punkrock-Gig, rauchte meine Zigarette, versuchte vor den Mädels cool auszusehen – und er reitet auf unserem Abend in der Kirche herum.« Schade, dass Gore damals nicht dabei war. Er hätte sicher schallend über seinen Fletch gelacht.

Insight - Martin Gore und Depeche Mode

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