Читать книгу Vorhang zu! - André Storm - Страница 10
KAPITEL 3
ОглавлениеDas Kapitel, in dem Ben sich gerade noch rausreden kann und am Schluss ein wohliges Gefühl in der Herzgegend verspürt.
Jemand knallte die Tür mit einem Krachen ins Schloss.
»Sie ist von einer Schlange gebissen worden«, schrie Ben. Seine Kräfte ließen nach. Er pumpte weiter Blut durch Lilys Herz, ohne den Glauben, sie damit zurück ins Leben holen zu können. Er ließ erst von ihr ab, als er endlich die zwei Rettungssanitäter sah, die in den Saal gestürmt kamen. Er unterrichtete die Helfer darüber, dass er eine Bissspur an Lily Polleys Unterarm gefunden habe. Pedro Möller war ebenfalls herbeigekommen und ergänzte, dass es sich entweder um den Biss einer Kobra oder den einer Klapperschlange handeln müsse. Ben bezweifelte, dass das noch irgendeine Relevanz für die Schlangenfrau hatte.
Nassgeschwitzt ging er zurück zur Theke und setzte sich schwer atmend auf einen der freien Barhocker. Er fröstelte. Die umstehenden Gäste beobachteten entsetzt die vergeblichen Versuche der Sanitäter, das Leben ihrer Kollegin zu retten.
»Was ist denn mit dem da?«, fragte einer der Rettungsassistenten an Pedro Möller gewandt, und zeigte auf den am Boden schlafenden Kai. Ben hatte ihn vollkommen vergessen.
»Der ist nur besoffen«, antwortete er stellvertretend für Schottner und ging zu Kai hinüber.
Mann, dachte Ben, das eben hätte er auch lieber verpennt. Er gab seinem Freund kraftlose drei Ohrfeigen, die Kai mit nichts als ein paar tiefen Schnarchgeräuschen quittierte, zog ihn zur nächsten Wand und lehnte ihn dort aufrecht sitzend ab. Sein Kopf fiel dabei ungesund zur rechten Seite. Bestimmt würde er morgen zusätzlich zu seinem Kater noch prächtige Nackenschmerzen haben. Wenigstens konnte er so nicht an seinem Erbrochenen ersticken, was früher oder später todsicher aus ihm herausbrechen würde.
Die Helfer gaben auf. Einer von ihnen griff zu seinem Handy und erklärte dem Notarzt, der noch unterwegs war, dass er sich nicht mehr beeilen müsse. Danach rief er bei der Polizei an und meldete den Vorfall.
Pedro Möller kam mit bedächtigen, vorsichtigen Schritten zu Ben herüber, fast so, als wollte er Kai mit seinem Getrampel nicht aufwecken. »Vielen Dank, dass du dich sofort gekümmert hast. Du konntest nichts mehr für sie tun.«
Ben wusste, dass Pedro Möller es freundlich meinte, fühlte sich aber nicht im Mindesten getröstet. »Was ist mit der Schlange?«, fragte er.
»Frank hat den Zugang über die Bühne geprüft. Die obere Tür war zum Glück geschlossen, genau wie die Tür zum Raum mit den Terrarien. Bisschen blöd von Frank, dass er in den Kellergang gucken musste. Na ja, wenigstens wissen wir jetzt, dass Lily die Tür noch geschlossen hat, bevor …« Er hielt einen unbehaglichen Moment inne und fuhr dann fort: »Wie es im Raum selber aussieht, weiß ich natürlich nicht, aber wenigstens ist es ziemlich sicher, dass das Viech weder im Kellergang, noch irgendwo hier rumkriecht.«
»Wie fängt man die ein?«
»Erst mal warten wir ab, was die Polizei sagt. Ich würde sonst im Zoo anrufen und einen von den Kollegen aus dem Tropenhaus kommen lassen. Wenn ich geahnt hätte, dass das nach einem Biss so schnell geht, hätte ich mich nie darauf eingelassen.«
»Gibt es denn kein Gegengift?«
»Doch, natürlich! Das liegt auch da im Raum. Sogar schon in Spritzen aufgezogen. Ist ja alles Vorschrift. Ich kann mir das nicht erklären. Anscheinend ging alles zu schnell, oder sie hat in der Panik nicht daran gedacht. Keine Ahnung, vielleicht hat es nicht gewirkt. Oh Mann, hoffentlich machen die mir nicht den Laden dicht.« Diese Möglichkeit schien ihm das erste Mal durch den Kopf zu gehen, und Ben fand, dass Pedro Möller aussah, wie er sich selbst fühlte: krank, verzweifelt und einsam. Er wünschte sich, dass Kai aufwachen würde. Auch wenn er keine große Hilfe sein würde, hätte es ihm schon geholfen, ihn einfach um sich zu haben.
Er sah zu Pedro Möller, der geistesabwesend die Sanitäter dabei beobachtete, wie sie ihre Sachen zurück in die Koffer sortierten. Einer der beiden bemerkte das und fragte mit müder Stimme in seine Richtung: »Sind Sie der Chef hier? Könnten Sie bitte mal herkommen?«
Ben wusste, dass er nicht viel Zeit für den Plan hatte, der ihm soeben in den Sinn kam. Er schaute in alle Richtungen. Die meisten hatten den Saal bereits verlassen. Einige standen in kleinen Grüppchen zusammen, redeten miteinander oder hielten sich stumm in den Armen. Ein paar waren damit beschäftigt aufzuräumen oder wirkten zumindest geschäftig.
Ben ging zu der Tür, durch die vor knapp zwanzig Minuten Lily Polley halbtot in den Saal gekrochen war. Er öffnete sie, blickte noch einmal nach links und rechts – niemand schien sich für ihn zu interessieren – und war im nächsten Moment im Kellergang verschwunden.
Ben schloss die Tür hinter sich, nachdem er sicher war, dass keine Schlange im Gang auf ihn wartete. Durch die fehlende Klinke auf der Innenseite, stellte sich das als schwierig heraus. Er musste umständlich seinen kleinen Finger in das Loch stecken, in dem irgendwann mal eine Klinke gesteckt haben mochte, und so die Tür ranziehen, bis sie im Schloss einrastete. Er verspürte den Drang, sich gegen die Tür zu lehnen und durchzuatmen, sah aber davon ab, als er die Spinnweben bemerkte, die grau und staubig an Tür und Wänden herabhingen. Ben hasste Spinnen und stellte soeben fest, dass er Schlangen noch mehr verabscheute. Eins war ihm klar, Pedro Möller würde diesen Tag auf jeden Fall bezahlen!
Ein Schrecken fuhr ihm durch die Glieder. Was, wenn Frank Pracht nach seinem Kontrollgang die obere Tür abgeschlossen hatte? Sein eigener Schlüssel lag ja dummerweise im Auto. Es sähe schön blöd aus, wenn die Polizei ihn hier irgendwann finden würde, oder wenn er von innen klopfen musste wie vorher die Schlangenfrau in ihrem Todeskampf. Einen guten Eindruck könnte er damit jedenfalls nicht machen, und als besonders origineller Gag würde es wohl auch nicht durchgehen. Ein toller Detektiv war er – nämlich gar keiner. Er stieß ein ärgerliches Grummeln aus.
Bedächtig schritt er auf die geschlossene Tür ihm gegenüber zu. Dahinter wartete höchstwahrscheinlich eine freigelassene und äußerst tödliche Schlange auf ihn. Ohne sich etwas davon zu versprechen hielt er ein Ohr gegen die Tür und lauschte. Wie erwartet hörte er nichts. Giftschlangen waren ja nicht gerade dafür bekannt, besonders viel Krach in ihren Terrarien zu veranstalten. Eigentlich lagen ja Schlangen meistens nur rum, dachte er und drückte die Klinke.
Das Licht im Raum war noch eingeschaltet. Lily Polley hatte noch einen Rest Vernunft bewiesen, als sie die Tür hinter sich zugeschlagen hatte. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn die Schlange ebenfalls den Weg nach draußen gefunden hätte. Strom sparen stand dagegen nicht mehr auf ihrer Liste. Ben linste vorsichtig durch einen schmalen Türspalt von nicht mehr als drei Zentimetern. Für mehr reichte sein Mut nicht aus. Eine trockene Wärme schlug ihm entgegen. Er vermutete, dass diese von Wärmelampen herrührte, die zur Beheizung der Terrarien verantwortlich waren. Er spürte Schweiß auf seiner Stirn, der nichts mit den Wärmelampen zu tun hatte und sich kalt anfühlte. Oh Gott, dachte er, bloß keine DNA hinterlassen.
Er zog mit der Linken seinen rechten Ärmel über die Hand und wischte die Klinke sowie die Stelle ab, an die er vorher sein Ohr gehalten hatte. War der Ohrenabdruck eines Menschen auch einmalig?. Er hatte absolut keine Ahnung von so etwas. Er schob die Tür weiter auf und konnte ein kleines Stück eines Terrariums erkennen. Eine Glaswand, Grünzeug, ein knorriger Ast, und darauf liegend eine stattliche, grüne Schlange. Ben hatte diese Schlange bei der Show gesehen und wusste, dass es irgendeine Boa Con-Dingsbums war, und er wusste ebenfalls, dass diese Art nicht giftig war. Er steckte den Kopf durch die Tür, wohlbedacht, nichts mit dem Körper zu berühren. Er fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis die Polizei hier auftauchte. Er rechnete sich aus, dass sie sicher nicht scharf darauf waren, hier die Ermittlungen aufzunehmen, solange der Raum noch nicht als hundertprozentig schlangenfrei galt. Wenn Kai doch nur auf der anderen Seite Schmiere gestanden hätte. Er zog seinen Kopf langsam und behutsam – ohne in der Amphibienwelt zu große Wellen zu schlagen – wieder zurück, fischte das alte Nokia aus seiner Hosentasche und drückte lange die Rautetaste, um es auf stumm zu stellen. Wenn es ausgerechnet jetzt anfing zu klingeln, würde er ohne Zweifel auf der Stelle tot umfallen – auch ohne Schlangenbiss. Da er seit Ewigkeiten keinen Anruf mehr zu so einer Uhrzeit bekommen hatte, diente die Angelegenheit eher dazu, das, was er vorhatte, noch etwas aufschieben. Aufschieben konnte er besonders gut. Aufschieberitis war seine größte Schwäche – im Moment fand er sie äußerst unpassend, und er zwang sich zu handeln.
Er steckte seinen Kopf zurück und lugte auf die andere Seite des Raums. Er spürte die Hitze noch intensiver, erblickte drei Terrarien, ausgestattet mit Pflanzen, Ästen, Sand und jeweils einer Wasserstelle. Davor drei kleinere Glaskisten mit seitlichen Griffen, die offensichtlich als Trageboxen dienten. Bis auf die Würgeschlange, die ihm schon beim ersten Mal aufgefallen war, konnte er keine weitere Schlange ausmachen. Vor allem nicht außerhalb eines der Terrarien, was ihn etwas entspannte aber auch misstrauisch werden ließ. Er schob die Tür noch ein Stück weiter auf, wagte es aber nicht, den Raum zu betreten. Das Terrarium mit der Boa war das größte. Es stand auf dem Boden und war etwa 1,50 Meter hoch. Die beiden anderen, davon eins wahrscheinlich für die Kobra und eins für die Klapperschlangen reserviert, waren kleiner und ruhten auf Holzpodesten. Sie sahen ein bisschen so aus wie das Aquarium mit Guppis und Clownfischen, das früher bei seinen Eltern im Wohnzimmer gestanden hatte.
Ben bemerkte, dass der Glasdeckel bei dem linken Terrarium nach oben geklappt war. Er zuckte bei der Erkenntnis heftig zusammen, so als ob jemand hinter ihm laut »Buh« gerufen hätte. Vorsichtshalber scannte er den Raum noch einmal ab. Keine Schlange. Danach durchbohrte er das geöffnete Terrarium mit seinen Blicken. Er kannte das aus dem Zoo. Zuerst fand man die Schlange nicht, die es sich gut getarnt im Grünzeug gemütlich gemacht hatte. Hatte man sie dann einmal entdeckt, wunderte man sich, wie man so blind gewesen sein konnte. Er blinzelte und traute sich ein Stück in den Raum hinein. Die Tür fiel laut krachend ins Schloss, nachdem er sie losgelassen hatte, und Ben stieß vor Schreck einen Schrei aus. Er taumelte zwei Schritte nach hinten, stürzte, und fiel rückwärts mit dem Rücken an die Tür. Durch das Adrenalin in seinem Körper erlebte er jeden Moment deutlich und klar. Noch im Fallen sah er sie. Die Kobra fühlte sich offenbar durch den Radau, den er veranstaltet hatte, gestört und schaute ihn mit erhobenem Kopf durch die Glaswand des Terrariums an. Sie schien nicht angriffslustig, eher neugierig.
Vielleicht hatte sie gar kein Gift mehr, mutmaßte Ben in Gedanken, glaubte sich das aber selbst nicht. Keine Sekunde ließ er die Schlange aus den Augen. Links von ihm stand ein Besen, und er überlegte, ob er mit dessen Hilfe, sozusagen als verlängertem Arm, den Deckel zuklappen konnte. Ihm war bewusst, dass er auf diese Weise den Tatort verändern würde.
Beim Stichwort Tatort fiel ihm wieder ein, warum er hier war. Die Schlange schien ihm bei seinem Vorhaben keinen Strich durch die Rechnung machen zu wollen. Sie kam mit ihrem Kopf näher ans Glas, musterte Ben eindringlich, legte sich dann wieder zurück auf den Sandboden und schlängelte sich mit abgewandtem Kopf unter ihr grünes Blätterdach.
Ben entschied sich, den Deckel nicht zu schließen. Er bemerkte feuchte, verschmierte Schweißabdrücke vorne und an den Seitenscheiben des Terrariums. Der Deckel wies ebenfalls schmierige Flecken auf, allerdings großflächiger und weniger verschmiert, als ob ein ganzes Körperteil dort angedrückt gewesen wäre. Ben bemerkte, dass die Flecken von innen am Glas klebten, nicht von außen, wie er es natürlicherweise angenommen hatte. War es möglich, dass Lily Polleys Oberkörper ins Terrarium gedrückt und sie mit Hilfe des Glasdeckels festgehalten worden war, bis die Schlange zugebissen hatte? Ben hielt diese Theorie für halbwegs plausibel. Er meinte, im Fleck auf dem Glasdeckel sogar die hervortretenden Knochen einer Wirbelsäule erkennen zu können.
Ben warf einen Blick auf die Schlange, die – scheinbar beleidigt, wie er fand – nach wie vor von ihm abgewandt dalag. Er kniete sich hin. Neben dem Terrarium, in der schmalen Spalte zwischen Wand und Podest, erkannte er einen Fingerring auf dem Boden liegen. Er bestand aus einem silbernen und einem goldenen Teil, die sich ineinander zu umschlingen schienen. Er passte aufgrund seines extravaganten Designs durchaus zu Lily Polley, aber irgendwas stimmte hier nicht. Ben streifte den dunklen Hämatit-Ring ab, den er an seinem Ringfinger trug und hielt ihn in einigen Zentimetern Abstand vor den anderen. Der vor ihm auf dem Boden war noch ein Stück größer. Er bezweifelte stark, dass die zierliche Schlangenfrau solche dicken Wurstfinger hatte. Ben ärgerte sich, dass er kein Handy mit Kamerafunktion besaß, zu gerne hätte er ein Foto vom Ring geschossen. So musste er damit vorliebnehmen, sich das Aussehen des Ringes einzuprägen.
Er erhob sich behutsam und mit einem weiteren kritischen Blick zur Kobra, streifte seinen Ärmel über die Hand, drückte bedächtig und nur am äußersten Ende die Türklinke, öffnete vorsichtig die Tür und blickte in ein äußerst erstauntes Augenpaar.
»Sagen Sie es mir, wenn ich meine Dienstwaffe ziehen muss«, sagte der Mann mit strenger Miene und kühler Stimme. »Kommissar Huntrich, Kriminalpolizei.« Er musterte Ben herausfordernd. Die Tatsache, dass er seine Dienstwaffe nicht sofort gezogen hatte, deutete darauf hin, dass er Ben nicht für gefährlich hielt. Trotzdem schüchterte die Erscheinung dieses Mannes Ben ein. Er wirkte bullig. Sicher um die 1,90 Meter groß und kräftig, mit einem deutlichen Bauchansatz, der wahrscheinlich vom Alter und von regelmäßigem Feierabendbier herrührte. Sein Gesicht war kantig und von Falten durchzogen. Auf der Nase trug er eine eckige Brille in einer schmalen Metallfassung, deren Gläser gelblich schimmerten. Die kurzen, grau durchzogenen Haare trug er in einem struppigen Seitenscheitel.
»Alles klar! Nicht nötig … Ben Pruss, mein Name. Ich … ich arbeite hier.« Zur Vorsicht nahm Ben seine Hände ein Stück nach oben, ließ sie jedoch sofort wieder sinken, als er hinter Kommissar Huntrich zwei Polizisten in Uniform und seinen Auftraggeber Pedro Möller bemerkte. Er wusste, dass er sich eine gute Geschichte einfallen lassen musste, wenn
a. seine Deckung nicht auffliegen sollte, und
b. er nicht als potentiell Tatverdächtiger verhaftet werden wollte. Zufällig fiel ihm gleich eine Geschichte ein, und noch bevor er sich im Klaren darüber war, ob es eine gute war, platze er hervor: »Hab nur kurz den Raum gesichert. Alles gut, die Kobra ist in ihrem Terrarium und ruht sich aus.« Kein Klassiker, fand Ben, aber besser als die Wahrheit.
»Wer hat Sie dazu veranlasst? Und überhaupt …« Kommissar Huntrich hielt mitten im Satz inne und schaute, mit langem Hals, skeptisch an Ben vorbei in den Raum. »Warum ist das Terrarium denn immer noch geöffnet?«
»Ja nun, äh …«, antwortete Ben, der keine Ahnung hatte, warum. Dann fiel es ihm ein: »Von der Schlange geht momentan wenig Gefahr aus. Ein Angriff, wie er gerade eben passiert ist, ist für eine Giftschlange dieser Größe sehr kräftezehrend. Deswegen habe ich mich entschieden, die Klappe geöffnet zu lassen, nicht zuletzt, weil wir es hier ja möglicherweise mit einem Tatort zu tun haben.« Wenn Ben nicht gewusst hätte, dass er keinerlei Ahnung von Schlangen hatte, wäre er selbst auf seine Geschichte hereingefallen.
»Mit einem Tatort? Wie kommen Sie darauf?«, fragt der Kommissar mit hochgezogener Braue.
Auch diese Antwort musste Ben improvisieren: »Na ja …«, sagte Ben und hüstelte leicht. »Ich habe gehört, wie der Sanitäter die Polizei angerufen hat, und da habe ich angenommen, dass bei einem unnatürlichen Tod diese Frage immer zuerst geklärt wird.« Er war ein bisschen stolz auf sich. »Und Ihre Anwesenheit scheint mir das zu bestätigen!« Er lachte, hörte aber gleich damit auf, als er merkte, dass alle vier Personen ihn mit unbewegter Miene ansahen.
»Das ist richtig«, sagte Kommissar Huntrich. »Mir wäre es allerdings lieber, wenn ich meine Ermittlungen in diesem Raum bei geschlossenem Terrarium fortsetzen könnte.«
»Das kann ich mir denken«, antwortete Ben lächelnd. Einige Sekunden war es still, dann registrierte er mit einigem Schrecken, dass die Worte des Kommissars ein Appell an ihn waren, das Terrarium zu schließen. Unbehaglich drehte er sich um, und versuchte, fähig, belastbar und abgeklärt zu wirken. Die Schlange drehte sich gerade um und starrte nun die kleine Gruppe an. Vier Personen hinter der Türschwelle (nur die Fußspitze des einen Polizisten hielt die Tür auf und ragte einige Zentimeter in den Raum hinein), und eine, Ben, davor. Für Ben schien es, als würde die Schlange nur ihn fixieren und ihm leise ein »Komm nur!« zuzischen. »Komm nur, wenn du dich so gut mit Schlangen auskennst … sssssssh … Wollen wir mal sehen, ob der Biss eben wirklich so kräftezehrend war … sssssssh … Komm rüber, los!«
Langsam bewegte er sich in Richtung des Glaskäfigs. Es fühlte sich an, als müsste er sich durch einen Berg Watte vorarbeiten. Nach einigen Schritten hielt er inne und drehte sich zur Tür. Pedro Möller bedeutete ihm mit einem Kopfnicken und weit aufgerissenen Augen, dass er sich beeilen solle. Er wollte soeben seinen Weg fortsetzen, als ihn der Kommissar stoppte: »Halt! Bitte streifen Sie sich Handschuhe über.« Er warf einem der Polizisten einen Blick zu, der augenblicklich in die Innentasche seiner Dienstuniform griff und zwei Einweghandschuhe hervorholte, die er Ben mit weit ausgestrecktem Arm entgegenhielt. Offensichtlich wollte er möglichst weit von den Schlangen entfernt bleiben, was Ben gut nachvollziehen konnte. Bedächtig streifte er sich die Handschuhe über und schlich vorwärts.
Vorsichtig griff er mit einer Hand die offene Glasklappe und schloss sie mit einer Bewegung, die ein Mittelding aus größtmöglicher Schnelligkeit gepaart mit maximaler Sanftheit zu sein schien. Die Schlange ließ sich davon nicht im Mindesten beeindrucken und rührte sich keinen Millimeter.
»So, jetzt habe ich es geschlossen. Einfach zugemacht«, verkündete Ben das Offensichtliche und fühlte sich ziemlich erleichtert.
»Erzählen Sie mir bitte, was arbeiten Sie hier, und warum kennen Sie sich mit Schlangen aus? Waren Sie Frau …« Kommissar Huntrich blickte fragend zu Pedro Möller. »Polley«, antwortete dieser und Kommissar Huntrich fuhr mit einem Kopfnicken fort: »Waren sie Frau Polleys Assistent?«
»Nein, nein, ich kannte sie noch gar nicht. Ich bin komplett neu im Team, heute Abend das erste Mal da. Herr Möller hat mich eingestellt als Masseur für das Ensemble.«
»Ja, und weiter? Ihre Schlangenkenntnisse?« Kommissar Huntrich blickte Ben mit gesenktem Kopf über den Rand seiner Brille hinweg an.
»Ach so. Ja. Die!« Er räusperte sich, um ein wenig Zeit zu gewinnen. »Ich war während meiner Ausbildung in China. Die machen ganz viele Behandlungen mit Schlangengift«, log er, und ihm war selbst schleierhaft, wie er auf diese dämliche Idee gekommen war. China war er in seinem Leben niemals nähergekommen als bis zum Wok-Meister in der Gutenbergstraße. Doch als würde jemand anderes dafür sorgen, dass sich seine Lippen bewegten, fuhr er fort: »Da habe ich den Umgang mit Schlangen gelernt. Also so ’n bisschen zumindest.«
»Mmmh, mmmh. Schlangengift beim Massieren. So, so«, murmelte Kommissar Huntrich, was in Bens Ohren etwas skeptisch klang. Mit nach vorne gebeugtem Oberkörper betrat er den Raum und inspizierte die Terrarien. Er bewegte sich schnell, um dann auf einmal abrupt zu stoppen. Dann bewegten sich einige Sekunden lang nur seine Augen, bis er erneut zu einer flinken Positionsänderung ansetzte und sich einer anderen Sache widmete. Ben, die Polizisten und Pedro Möller, dessen Augen weit aufgerissen waren und dessen Stirn in tausend kleinen Falten lag, schauten dieser Prozedur schweigend zu. Nach einigen Minuten richtete sich Kommissar Huntrich kerzengerade auf, drehte sich zu der Gruppe um und sagte: »Sie hat die Schlange aus der Transportbox genommen und sie in das Terrarium gelegt.« Er unterstrich seine Worte mit Handbewegungen und Fingerzeigen. »Dabei war sie eine Sekunde unachtsam und ist gebissen worden. Ein tragischer Unfall! Der Raum wird versiegelt, bis wir die genauen Ergebnisse der Gerichtsmedizin haben, denn …« Er wandte sich an Ben: »Mir kommt das Ganze trotzdem komisch vor. Wenn man von einer Schlange gebissen wird, hat man doch eigentlich genügend Zeit, sich das Gegengift zu spritzen, oder? Man kippt doch nicht gleich um und stirbt?«
Ben hatte keine Ahnung, ob das stimmte, war aber gerne bereit, dem Kommissar recht zu geben. Er öffnete den Mund, um zu antworten, als der Kommissar weitersprach. Mehr zu sich, als zu den anderen Personen im Raum, sagte er: »Warum hat sie sich das Gegengift nicht gespritzt?« Er schritt auf die andere Seite des Raumes zu einem dort in Augenhöhe angebrachten, weißen Kasten mit einem aufgedruckten, roten Kreuz. Ben schämte sich wieder über seine Unzulänglichkeiten. Er hatte diesen Kasten bisher überhaupt nicht wahrgenommen. Als er den Raum betreten hatte, war diese Seite des Raumes von der offengehaltenen Tür verdeckt gewesen, und er hatte nur Augen für das Terrarium gehabt. Allerdings war dem Kommissar bis jetzt der Ring neben dem Terrarium verborgen geblieben, und von den merkwürdigen Hautabdrücken im Glaskasten hatte er ebenfalls noch nichts bemerkt. Ben war sich nicht sicher, ob er ihn drauf ansprechen sollte, und entschied sich vorerst dagegen.
Um besser sehen zu können, rückten jetzt alle anderen auch in den Raum vor. Der eine Polizist hielt die Tür weiterhin geöffnet. Wahrscheinlich wollte er möglichst schnell abhauen können, falls aus dem Arzneischränkchen noch eine Schlange fallen sollte.
Kommissar Huntrich öffnete die Schranktür, indem er einen kleinen, weißen Knopf hineindrückte und an der Tür zog. Der Arzneischrank war komplett leer. Der Polizist, der die Tür aufhielt, stieß ein leises Zischen durch die geschlossenen Zähne. Ben bemerkte, dass der Teil seiner Stirn, der nicht von der Dienstmütze verdeckt war, schweißnass war. Ben erkannte, dass dieser Mann ziemlich sicher an einer Schlangenphobie litt und ihm eine ausgiebige Shiatsu-Massage guttun würde.