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KAPITEL 2

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Das Kapitel, in dem die Show beginnt und endet, und danach erst die richtige Show abgeht.

Die Bersonstraße in der nördlichen Dortmunder Innenstadt konnte nicht als Aushängeschild bezeichnet werden. Fünf- und sechsstöckige Häuser säumten die Seiten der Straße und wirkten, bis auf wenige Ausnahmen, grau und schäbig. In den Erdgeschossen reihten sich die verschiedensten Geschäfte aneinander. Ein gewissenhafter Beobachter konnte auf den 380 Metern drei Dönerbuden, zwei Italiener, zwei Chinaimbisse und eine Pommesbude ausmachen. Des Weiteren residierten hier noch ein Friseur, ein Elektrofachmarkt, mehrere Billigmodeläden und ein Geschäft für Druckerpatronen. Menschen, die in der Bersonstraße wohnten, brauchten praktisch nie die Straße zu verlassen. Selbst Kultur war hier vertreten. Neben einem Programmkino gab es ein Striplokal und das Zack-Varieté. Dieser Bau war deutlich flacher als die anderen und dehnte sich über die doppelte Grundstücksbreite nach hinten aus. Er hatte den Eingang für die Künstler in der parallel gelegenen Jakobistraße. Dort lag auch der unbewachte Parkplatz, den Ben verbotenerweise benutzte, wenn er die Innenstadt besuchte. Es gab zwar ein Schild Parkplatz nur für Mitarbeiter des Zack-Varietés – unberechtigt parkende Fahrzeuge werden kostenpflichtig abgeschleppt, aber diese Warnung wurde niemals wahrgemacht. Es gab einfach mehr Parkplätze als benötigt für die Mitarbeiter, und das Geheimnis um die widerrechtliche Parkmöglichkeit wurde von den Eingeweihten als Geheimtipp behandelt. Ben wusste es von seinem Kumpel Dennis und hatte es noch keinem anderen verraten. Heute wollte er eine Ausnahme machen. Er hatte das Gefühl, sein Freund Kai könne eine Aufmunterung gebrauchen.

Langsam fuhr er seinen klapprigen, rostroten 1995er Ford Fiesta Magic die Auffahrt zum Parkplatz hoch und sagte mit unverkennbarer Freude in der Stimme: »Das hier ist ein Parkplatz, auf dem du immer parken kannst! Den überwacht keiner. Ich parke hier jedes Mal, wenn ich einkaufen gehe.« Er streckte in einer präsentierenden Geste die Hand aus und blickte seinen Freund verschwörerisch an.

»Weiß ich. Weiß jeder!«, sagte Kai, der seit seinem vierten Bier recht kurz angebunden war und grimmig aus der Frontscheibe schaute. Er hatte seine fünfte Flasche Bier einsatzbereit zwischen die Beine geklemmt.

Ben wollte protestieren und holte tief Luft für einen verbalen Gegenschlag, besann sich aber eines Besseren und hielt den Mund. Er stellte sein Auto neben die C-Klasse von Pedro Möller. Ben wusste, dass es dessen Auto war, denn er hatte den Varietéchef durch die Vorhänge hindurch beobachtet, als dieser sein Büro/Probenraum verlassen hatte. Sorgen bereitete Ben, dass Kai immer besoffener wurde. Im Moment war er damit beschäftigt, aus dem Fußraum des Fiesta sein sechstes Bier zu fischen und es mit den Worten »Für später. Blöde Weiber!« in seine hintere Hosentasche zu stopfen.

Sie umrundeten das Gebäude über einen schmalen Kiespfad, vorbei an einer verrosteten Tür, die mit Künstlereingang beschriftet war, und einer fensterlosen, langen Wand, hinter der der Vorführsaal lag.

Bei Tage war das Zack keine Augenweide und reihte sich ebenso trostlos wie die übrigen Gebäude in die Straße ein. Es wirkte, als wäre es schon vor langer Zeit »in die Jahre« gekommen. Die Schrift auf dem roten Vordach verkündete in goldenen Lettern Zack Varieté-Theater. Hinter einer Glasfront, in der sich mittig der Eingang befand, prangten Bilder und Plakate der aktuellen Produktion mit dem Namen Back to the Roots neben Schwarz-Weiß-Fotografien von Künstlern aus Produktionen vergangener Tage. Auf einem Flachbildschirm in Augenhöhe lief in Endlosschleife ein Film mit den Highlights der Show. Seinen Glanz versprühte das Gebäude erst in der Dunkelheit, sobald die indirekte Beleuchtung die roten Wände in ein zauberhaftes Licht tauchte. Dann leuchteten die anthrazitfarbenen Steinstufen, die unter das Vordach führten, zart golden. Aus versteckten Lautsprechern ertönte gedämpfte Musik, und zwei Mitarbeiter in roter Uniform erwarteten die Gäste an beiden Seiten der geöffneten Eingangstür.

Ben sah auf die Uhr. Zehn vor sieben. Sie hatten noch über eine Stunde Zeit, bis die Show begann, und Ben hoffte, sich vorher ein wenig umsehen zu können. Vielleicht ergab sich auch die Möglichkeit, noch einmal mit Pedro Möller zu sprechen und seine Schlüssel zu erhalten. Kai parkte er am besten so lange an der Bar.

Bis jetzt hatten sich nur wenige Leute im Foyer eingefunden, doch in einer halben Stunde würde es hier nur so von Menschen wimmeln. Ben marschierte auf direktem Weg zum Ticketschalter, Kai schlurfte brav hinterher, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, um sein geheimes Mitbringsel in der Hosentasche vor den Blicken der Mitarbeiter zu schützen. Durch eine verkratzte Plexiglasscheibe strahlte eine junge Frau der Marke »Ich bin Germanistikstudentin, und das ist nur mein Nebenjob« Ben warmherzig lächelnd an.

»Guten Abend«, sagte Ben. »Für mich sollen zwei Karten hinterlegt sein. Ben Pruss.« Die Dame nickte, ohne ihren Gesichtsausdruck zu variieren, tippte klackernd in die Tastatur und blickte in den Monitor. Sekunden später setzte sich ein Drucker neben dem Bildschirm sirrend in Bewegung. Routiniert riss sie die Karten an der Perforation ab und überreichte sie Ben. »Tisch 12. Mit den besten Grüßen von Herrn Möller. Sie möchten bitte in sein Büro kommen. Die Tür hier links, dann den Gang durch und die vorletzte Tür rechts.«

»Vielen Dank«, sagte Ben und drehte sich zu Kai um. »Und du setzt dich so lange an die Bar. Übertreib es nicht. Der Abend ist noch lang, und ich will hier keinen schlechten Eindruck hinterlassen!« Er bemühte sich, streng auszusehen und eindringlich zu klingen.

»Geht klar, Chef!« Kai hob zwei Finger an die Stirn zu einem unbeholfenen militärischen Gruß, drehte sich um und schlurfte in Richtung Bar. Ben bemerkte seinen betont vorsichtigen und achtsamen Gang, doch noch schwankte er nicht.

Pedro Möllers Büro war ein dunkler Raum mit wenigen Büromöbeln, die in den siebziger Jahren als schick durchgegangen wären, heutzutage aber an eine muffige Amtsstube erinnerten. Kalter Zigarettenrauch hing in der Luft, und Ben hätte liebend gern ein Fenster geöffnet, um frische Luft hereinzulassen. Leider gab es in diesem Raum nur eines, das in den Saal zeigte. Von hier aus konnte Pedro Möller jederzeit die Show verfolgen.

Er begrüßte ihn mit den Worten: »Ah, Herr Pruss. Sehr gut! Sie hätten Ihre Begleiterin gerne mit reinbringen dürfen.«

»Äh, Begleiter«, antwortete Ben. »Ich habe meinen Assistenten mitgebracht. Herrn Siebert. Den kennen Sie ja. Der von heute Nachmittag.«

»Richtig, klar!« Er zwinkerte Ben wissend zu. »Übrigens, wir duzen uns hier alle. Sie haben doch nichts dagegen?« Strahlend hielt er Ben seine ausgestreckte Hand entgegen.

»Nein, gerne. Ich heiße Ben«, sagte Ben, der Duzen in Ordnung fand, sich in diesem Augenblick jedoch unbehaglich fühlte.

»Pedro. Auf den Kuss verzichten wir aber!« Er kicherte heiser, dann schlugen sie quer über die Tischplatte hinweg ein. Er nahm einen Schlüssel vom Schreibtisch und warf ihn Ben zu, der ihn aus purer Überraschung auf den Boden fallen ließ, ohne auch nur im Ansatz seine Hände gehoben zu haben. »Na, tolle Reaktionen hast du ja nicht gerade«, sagte Pedro Möller mit einem gehässigen Lachen.

Ben wunderte sich. Durch das Du schien er für Pedro Möller gleich zu einer Art Kumpel geworden zu sein. So ging es eben zu im Ruhrgebiet. Pedro setzte sich auf seinen ledernen Chefsessel und erklärte Ben, welche Türen der Schlüssel öffnen konnte. Der Künstlereingang hinterm Haus, alle Gemeinschaftsräume inklusive Saal und Keller gehörten dazu. Ausschließlich die Künstlergarderoben und Pedro Möllers Büro besaßen separate Schließvorrichtungen. »Der Schlüssel passt auch zu dem Raum, in dem du dich einrichten kannst, der ist im Gang auf der anderen Seite. Die Künstler bekommen immer zwei Schlüssel für ihre Garderobe. Dafür gibt es natürlich auch Universalschlüssel. Einen hat der Techniker, einer liegt hier bei mir im Safe. Mir wäre es lieb, wenn wir die Garderoben erst mal außen vor lassen könnten?«

Ben nickte. Er hatte nicht vor, in einem Privatraum rumzuschnüffeln. Sein Mund wurde trocken, als ihm einfiel, dass dies durchaus zum Tätigkeitsprofil eines privaten Ermittlers gehörte.

»Ach ja«, erklärte Pedro weiter: »Die Künstlerwohnungen haben natürlich auch eigene Schlüssel. Die sind auf jeden Fall tabu, es sei denn, es gibt einen ganz konkreten Verdacht gegen jemanden aus dem Ensemble, was ich allerdings bezweifle.«

»Künstlerwohnungen?« Davon hatte Ben noch nie gehört.

»Ja. Hinten in der Jakobistraße, vier Wohnungen in der Hausnummer 32. Das ist billiger, als die Künstler immer in ein Hotel einzubuchen. Es wohnen nicht alle da. Unser Moderator wohnt hier in der Nähe mit seiner Familie, und Elmar Neuenburg, der Jongleur, wohnt bei Freunden.«

»Elmar? Hört sich nicht sehr nach Showbusiness an.«

»Er nennt sich Giulio Elmo. Hat ein bisschen was von ’nem Italiener, kommt aber eigentlich aus dem Osten … Erzgebirge glaube ich. Ach, und noch was.« Er rollte in seinem Bürostuhl zum Drucker, der etwas abseits auf einem Sideboard stand, holte einige Blätter aus dem Papierschacht und hielt sie Ben hin. »Eine Liste aller Mitarbeiter. Künstler, Techniker, Küchenpersonal, Servicekräfte, Platzanweiser und Putzfrauen. Ach ja, einen Mann fürs Klo haben wir auch noch. Insgesamt fast dreißig Leute.«

Dreißig Leute, dachte Ben mit Schrecken. Das Gefühl, einen dummen Fehler begangen zu haben, stieg erneut in ihm hoch. Er hatte keinen blassen Schimmer, was er machen sollte. Suchte man erst das Motiv oder erst einen Verdächtigen? Und welche der Varianten stellte man wie an?

Pedro Möller bemerkte Bens nachdenkliche Miene und deutete sie prompt falsch. »Na? Schon voll drin im Fall, was?«, sagte er mit einem grunzenden Lacher.

»Ja … immer. Voll drin!«

»Ey, Kai, jetzt reicht’s aber!« Mit einer wütenden Geste nahm Ben seinem Freund, der an einem Barhocker in einer Ecke der Bar saß, ein halbvolles Glas aus der Hand. Er roch dran. Wodka Energy in einer Ich-will-schnellbesoffen-werden-Mischung. »Mann! Du kannst dich hier doch nicht volllaufen lassen.« Er stellte das Glas außer Reichweite von Kai auf die Theke.

»Alter, bleib locker. Ich hab alles im Griff!« Die Worte kamen nicht mehr ganz flüssig über Kais Lippen. Er sah Ben milde lächelnd an. Ben kannte diesen Gesichtsausdruck. Er war in der Lage, ihn ebenso leicht zu deuten wie einen Stempelabdruck auf Kais Stirn mit dem Wort besoffen.

»Schluss mit der Sauferei! Ich gehe eben zum Auto und bringe die Sachen weg.« Er hob die zusammengerollten Papiere in seiner Hand kurz an. »Und du wartest hier auf mich, gleich ist Einlass.«

»Warte, ich komm mit. Wenn ich hier alleine bleibe, bestelle ich mir noch einen.« Kai rappelte sich hoch, sortierte mit ausgedehnten Gesten seine Kleidung und kontrollierte den Sitz der Bierflasche in der hinteren Hosentasche. »Hast’n Schlüssel gekriegt?«

»Ja, hab ich hier.«

»Dann lass doch durch die Hintertür gehen. Is kürzer.«

Ben hielt diesen Vorschlag für gut, schließlich gehörte er ab sofort offiziell zum Team, selbst wenn er noch nicht mit seinen Kollegen bekannt gemacht worden war. Im Foyer überlegte er, welcher der richtige Weg sein mochte. Eine breite Treppe neben dem Ticketstand führte durch einen düsteren Gang mit roten Samtwänden zu den seitlichen Zugängen des Saals. Ben entschied, es dort zu versuchen. Obwohl sich das Foyer bereits mit Menschen in feinster Abendgarderobe füllte, war der Gang menschenleer. Die letzte Tür trug die Aufschrift Privat. Sie war nicht verschlossen und führte in einen weiteren langen und unbeleuchteten Gang. Nur das spärliche Licht, das durch die halbgeöffnete Tür fiel, ließ Ben erkennen, dass mehrere Türen nach rechts abzweigten und nur eine nach links. Ohne hinzusehen, patschte Kai mit der Hand an der Wand neben dem Türrahmen herum und fand den Lichtschalter. Acht Türen zählte Ben. Das mussten die Garderoben sein, dachte er und bemerkte ein etwa fünfzig Zentimeter hohes, knapp drei Meter langes Fenster in der linken Wand, welche hier nicht, wie in den öffentlichen Räumen, mit rotem Samt beklebt, sondern lediglich rot getüncht und mit zahlreichen Macken und Kratzern übersät war. Ben und Kai gingen einige Schritte in den Gang hinein und schauten durch das Fenster. Die Tür fiel hinter ihnen mit einem leisen Klacken ins Schloss. Genau wie durch das Fenster in Pedro Möllers Büro, konnte man von hier ins Innere des Vorführsaals sehen. Im kalten Licht der Arbeitsbeleuchtung, die noch kein bisschen Theaterstimmung aufkommen ließ, erkannte Ben einen Mann in schwarzem T-Shirt und schwarzer Hose, der auf einer Leiter balancierte und an einem Scheinwerfer werkelte. Kai lehnte sich mit der Stirn ans Fenster und hinterließ einen schmierigen Fleck.

»Lass das! Du kannst hier doch nicht alles vollsauen.« Ben zog ihn unsanft zur Seite.

»Der Typ hat mich angeguckt und voll nich gesehen. Das ist bestimmt so ’n Fenster, wo man von der anderen Seite nich durchgucken kann.« Kai gluckste und versuchte im Zurückweichen den Schweißfleck mit dem Ärmel abzuwischen, was diesen nur noch deutlicher auf der Scheibe verteilte.

Vor der vierten Tür hielt Ben inne. Er vernahm gedämpfte klassische Musik aus dem Raum dahinter. Das Schild neben der Tür verkündete, dass diese Garderobe einem Frank gehörte. Sprach da nicht auch jemand? Ben legte den Kopf schief und trat näher an die Tür. Mit kribbelnder Aufregung stellte er fest, dass er beabsichtigte, an der Tür zu lauschen. Oh Mann, dachte er. Er war ein echter Schnüffler. Damit hatte er zumindest Punkt 2 auf seiner privaten Liste Anforderungen an Detektive erfüllt.

Nr. 1: Heimlich Zimmer durchsuchen.

Nr. 2: Andere Leute belauschen.

Kai wandte sich wieder dem Fenster zu. »Ey, guck mal, da kommt noch einer.«

»Pssst! Sei leise!«, unterbrach ihn Ben in einem schroffen Tonfall. Er beugte seinen Oberkörper noch weiter in Richtung der Tür. Eindeutig vernahm er die gedämpfte Stimme eines Mannes. »Mietzekatze, Mietzekatze, Mietzekatze, Bla, Blaaaa, Blaaaaaa«. Irritiert, ohne den Kopf von der Tür zu nehmen, drehte Ben sich zu Kai um, der ihm keine Beachtung schenkte, sondern weiterhin fasziniert durch das Fenster in den Saal starrte. Die Stimme, die soeben begann »Ooooooooola, Ooooooooola« zu skandieren, wurde mit einem Mal lauter, dann öffnete sich schlagartig die Tür. Erschrocken sprang Ben zurück und prallte hart an die Mauer hinter ihm.

»Haben Sie sich verlaufen?«, fragte der Mann, der im Türrahmen erschien. Er überragte Ben um nahezu eine Kopflänge. Sein schulterlanges Haar hing in einem lockeren Seitenscheitel herab, und sein Gesicht zierte ein gepflegt wirkender Drei-Tage-Bart. Ein glänzender Anzug und silberne Stiefeletten rundeten das Bild ab. Er schaute Ben mit einem freundlichen und unaufgeregten Lächeln an.

Dieser hatte ihn gleich erkannt. Das war Frank Pracht, Zauberer und Moderator der Show. Der allerdings kein Zeichen des Erkennens in Bens Richtung sandte, obwohl die beiden sich mehrfach auf Zauberkongressen gesehen und auch schon das ein oder andere Wort miteinander getauscht hatten.

»Nein. Äh. Ich habe nur … Ich wollte nicht.«

»Stimmübungen«, antwortete der Mann. »Sehr wichtig vor der Show. Hört sich wohl nicht so intelligent an, was?«

»Tschuldigung.« Ben sah sich in Gedanken durch das verschlossene Fenster springen und durch den Saal davonhechten. Er grinste verlegen. »Ben Pruss ist mein Name, ich bin der neue … der neue Masseur.« Er hielt dem Mann die Hand hin, und sein Gegenüber schüttelte sie kraftvoll. »Masseur? Meine Güte! Man sollte meinen, der Pedro würde es gut mit uns meinen!« Er lächelte halbherzig, und Ben war sich nicht sicher, ob er es scherzhaft meinte. Wahrscheinlich war er einfach schon etwas angespannt vor seinem Auftritt. Ben kannte das von sich. Kai grüßte kurz mit zwei Fingern an der Stirn und einem angetrunkenen Lächeln. »Das ist Kai Siebert. Wir sehen uns gleich die Show an und müssen schnell noch mal zum Auto.« Ben deutete den Gang entlang in die Richtung, in der seiner Meinung nach die Hintertür sein musste.

»Hallo!«, sagte der Mann zu Kai, und dann, an Ben gewandt: »Ich heiße Frank Pracht. Ich bin der Conférencier und Zauberer der Show. Na, dann sehen wir uns sicher später noch.«

»Conf… Confronz und Zauberer?«, meldete sich ausgerechnet jetzt Kai zu Wort, und die Aussprache wankte dabei so stark wie sein Oberkörper. »Cool. Kannst du mal ’nen Trick machen? Mein Kumpel hier …«, er deutete ungelenk mit dem Zeigefinger auf Ben, »kann auch Tricks.«

»Nicht jetzt, Kai«, brummte Ben streng und zog seinen Freund mit sanfter Gewalt zur Seite. Dabei warf er ein versöhnliches Lächeln in Richtung Frank Pracht.

Der lächelte verständnisvoll zurück und ging zu Bens Erleichterung nicht näher auf Kais Einlassung ein. Dann nickte er kurz, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand durch die einzelne Tür auf der linken Seite. Ben atmete hörbar aus. Froh, halbwegs unkompliziert aus dieser Nummer herausgekommen zu sein, machte er sich eine gedankliche Notiz: Stimmübungen vor der Show sind wichtig!

Ein Großteil der Zuschauer saß bereits auf seinen Plätzen, als Ben und Kai den Saal betraten. Es herrschte reges Treiben in allen Reihen, und in die leise Musik, die aus den Boxen drang, mischte sich ein unverständliches Stimmengewirr. Sie standen auf einer Empore, die der Bühne gegenüberlag. Vor einem Geländer gab es hier zwei Tischreihen. Da die Empore ein Stück höher lag als die Bühne, boten alle Plätze hier einen unverstellten Blick auf die Spielfläche. Zwei Treppen an den Seiten führten in den unteren Teil des Saals. »Da hinten müssen wir hin.« Er deutete auf einen Tisch in ungefähr fünf Metern Entfernung zur Bühne, genau in der Mitte.

Eine Minute später sanken sie in die weichen, rot gepolsterten Sessel, die im Boden verankert waren und sich leicht in alle Richtungen drehen ließen. Kai grunzte unverständlich und suchte nach einem Kellner. Am Parkplatz hatte ihm Ben seine Notration Bier abgenommen, und er schien wieder nüchtern genug zu sein, um dieser Situation entgegenzutreten.

Ben genoss es, das eigene Gewicht im Sessel zu spüren, und er nahm den Raum in sich auf. Rote Polstersessel, rote Wände, roter Samtvorhang vor der Bühne. Alles warm, indirekt beleuchtet. Seitlich an den Wänden verlief eine golden glänzende Borte durch den Saal, die vorne an den Stufen am Bühnenrand endete. Auf den Tischen aus dunklem Holz standen kleine, fest verschraubte Stehleuchten. Der Raum wirkte von innen höher als von außen. Ben gefiel es hier, und einmal mehr kam ihm der Gedanke, dass ein Auftritt in so einem Etablissement doch ein ganz besonders tolles Erlebnis sein müsse. Er wusste, wenn man bei Tageslicht genauer hinsah, würde man Flecken auf den Teppichen, Kratzer auf den Tischen und Macken an den Wänden erkennen. In diesem Licht wirkte der Saal jedoch zeitlos und edel – und für dieses Licht war er schließlich gebaut worden.

Ein Kellner mit schwarzer Stoffhose, rotem Zack-Hemd und Tablett kam an den Tisch, und sie gaben ihre Bestellung auf. Ein großes Bier und eine Apfelschorle.

»Voll peinlich wie du eben beim Lauschen erwischt worden bist«, setzte Kai unvermittelt mit einem gehässigen Grinsen an und versetzte Ben damit einen Stich in die Magengegend. Die Sache war ihm äußerst unangenehm, und er hätte gerne für immer darüber geschwiegen.

»Ach ja, und du hast die ganze Scheibe mit deiner fettigen Stirn verschmiert«, konterte er mittelmäßig. »Und hör bloß auf, irgendwem zu erzählen, dass ich auch Zauberer bin. Das bin ich nämlich im Moment nicht!« Zu seinem Glück verdunkelte sich just in diesem Moment der Saal und ein dramatischer Jingle setzte ein, um den Beginn der Show anzukündigen.

Ben und Kai gefiel die Show. Sie hatte Speed, sie hatte ruhige Momente und sie hatte in Frank Pracht einen Conférencier, der sein Handwerk außergewöhnlich gut verstand. Ben hatte Schwierigkeiten, sich alle »mentalen Notizen« zu merken, die er sich gemacht hatte, um seine eigene Show in Zukunft ein Stück weit nach Frank Prachts Vorbild aufzuwerten. Der war es, der als Erster die Bühne betrat und mit einer Stand-up-Comedy eloquent und perfekt getimt die Zuschauer anheizte. Der Act, der folgte, war Guilio Elmo, der »italienische Jongleur« aus dem Erzgebirge. Beim Höhepunkt seiner Darbietung stellte er sich in einen mit Schwarzlicht beleuchteten, quadratischen Rahmen und jonglierte dort mit sieben leuchtenden Bällen, die er an den Wänden, dem Boden und dem Dach des Rahmens abprallen ließ. Das Publikum tobte.

Die zweite Nummer, nach einer kurzen Anmoderation von Frank Pracht, bei der er das gesamte Publikum in ein magisches Kunststück einbezog, war die Schlangenfrau Lily Polley. Ben lernte hier ein Wort, welches er vorher noch nie gehört und am nächsten Tag schon wieder vergessen haben würde. Denn Frank Pracht erklärte, dass der Fachbegriff für eine Schlangenfrau »Kontorsionistin« sei. Lily Polley trieb es auf die Spitze, indem sie lebende Schlangen, eine Würgeschlange, eine Kobra und zwei Klapperschlangen in ihre Akrobatik mit einbezog. Am Ende ihrer Nummer kletterte sie zu der Würgeschlange in eine gläserne Truhe, die viel zu klein für sie beide schien. Bei dieser Nummer herrschte Totenstille im Publikum, und erst als Lily wohlbehalten aus der Kiste stieg und sich in eine Applauspose warf, brandete der Beifall los.

Act Nummer drei war die Hundedressur einer Schwedin namens Aletta Fernström. Die Dame war das Gegenteil von Lily Polley. Rundlich, mit paillettenbesetztem, rosa glitzerndem und hautengem Kleid. Passend dazu einen rosa Cowboyhut und rosa Stiefel. Vier Hunde, ein Collie und drei Pudel, rannten aufgeregt um ihre Füße und vollführten die verschiedensten Kunststückchen. Ben fand diese Nummer langweilig. Zu Hunden hatte er kein sehr gutes Verhältnis – ein Umstand, der seit jeher auf Gegenseitigkeit beruhte. Kai schon. Er konnte während der Nummer sein begeistertes Lächeln nicht unterdrücken und klatsche frenetisch am Ende der Darbietung, die die Pause einläutete.

»Hunde sind so cool! Ich gehe mal pinkeln«, sagte er mit einer leichten Klatschbewegung, die kein Geräusch mehr verursachte, sondern eher von einer alkoholgeschwängerten Selbstvergessenheit und nachdrücklicher Begeisterung herrührte. »Also bis jetzt war ja nur diese Schlangentrulla da, die ich mal gerne massieren würde.« Er gluckste. »Bestimmt steht als Erstes diese Hundefrau bei dir auf der Matte und will eine beidseitige Ganzkörpermassage.« Bens Magen zog sich unwillkürlich zusammen. Egal, wer von den gesehen Künstlern bei ihm zur Massage auftauchen würde – er wollte keinen davon durchkneten. Er konnte sogar klipp und klar behaupten, das Letzte, was er jemals tun wollte, wäre, einen davon durchzukneten. Er war definitiv kein Masseur und wollte absolut auch nicht so tun, einer zu sein. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Lächerlich!

Kai seinerseits hatte insgesamt drei Biere während des ersten Teils der Show geschafft und jetzt war er wieder vollumfänglich betrunken. Seine Haltung konnte problemlos mit »deutlich schwankend« bezeichnet werden, als er umständlich von seinem Sessel aufstand und in den sanft beleuchteten Gang trat.

»Ich komm mit.« Ben musste eigentlich nicht, aber er wollte Kai in seinem Zustand lieber nicht alleine unter die Menschheit lassen. »Mann, du bist ja komplett knülle«, sagte er, als Kai vor die noch besetzten Stühle des Nachbartisches rempelte und ihn ein junges Paar kritisch und leicht empört taxierte. »Denk dran, dass wir gleich noch diese After-Show Party haben.«

»Kein Problem, Alter, bleib locker! Und außerdem …« Er holte tief und seufzend Luft. »Außerdem … hat mich heute meine Frau verlassen. Da kann ich mir das ja wohl mal ein bisschen schönsaufen, oder.« Er schwankte ein Stück vor Ben her, hielt plötzlich inne und lallte: »Wird aber gar nicht schöner …«

Der zweite Teil der Show startete mit einer Nummer von Frank Pracht, in der er das Smartphone eines Gastes in einen durchsichtigen Haushaltsmixer steckte und es zum Vergnügen der Zuschauer »pürierte«, bis nur noch graues Pulver übrigblieb. Deutlich hörte man die Schadenfreude aus den Lachern heraus, denn der Handybesitzer schaute etwas konsterniert drein. Mit einem maliziösen Lächeln saugte Frank Pracht das Pulver mit einem Handstaubsauger auf, öffnete das Gerät und ließ den Zuschauer sein Handy aus dem Staubbeutel nehmen. Applaus!

»Mit Sicherheit eingeweiht, der Zuschauer«, mutmaßte Kai knapp. Ben, der es besser wusste, sagte nichts.

Danach folgten die Einradnummer von Franjo Hirsch und eine weitere Einlage von Frank Pracht, bei der er unzählige Bettgestelle und Matratzen aus einem einzigen Umzugskarton produzierte, bis die ganze Bühne mit Betten vollgestellt war.

Den Abschluss bildete eine atemberaubende Trapeznummer von Corina und Raves Pitu, die dem Publikum einige »Ohs« und »Ahs« entlockte.

Beim anschließenden Finale rief Frank Pracht alle Künstler unter großem Beifall auf die Bühne. Bei den letzten beiden, Corina und Raves, hielt es das Publikum nicht mehr in den Sitzen. Mit begeisterten Standing Ovations und lautem Johlen schickten sie die Künstler in den wohlverdienten Feierabend.


Lily Polley schwitzte, obwohl sie in ihrer spärlichen Auftrittskleidung eher nackt als angezogen war. Sie wartete am linken Bühnenrand hinter dem Samtvorhang, bis ihre Kollegen in den Garderoben verschwunden waren. Erst als es Backstage still war, ging sie zu dem tragbaren Terrarium und legte die Netzpython, die sie für den Schlussapplaus um den Hals getragen hatte, behutsam hinein, griff unter das weiße Tuch auf dem Boden und entnahm ihm ein kleines Blechdöschen, das dort versteckt lag. Dann schloss sie den schweren, gläsernen Deckel, der hörbar an vier Stellen einrastete. Routinemäßig kontrollierte sie ebenfalls die beiden Transportboxen mit den Klapperschlangen und der Kobra. Seitdem sie regelmäßig Kokain nahm, gab sie sich Mühe, doppelt vorsichtig zu sein. Sie wusste, dass man ihr bei dem kleinsten Vorfall die Schlangen abnehmen würde, und sie traute sich selbst nicht über den Weg, wenn sie high war. Ihren Künstlerkollegen und Pedro Möller hatte sie erzählt, dass sie sich nach der Show in der düsteren Backstage-Atmosphäre in aller Ruhe ihren Schlangen widmen wolle – und es gab eine Zeit, in der das tatsächlich der Fall gewesen war. Nunmehr benötigte sie diesen privaten Moment, um auf der gläsernen Oberfläche eines der Terrarien zwei Linien Koks zu ziehen und sie sich durch einen abgeschnittenen Strohhalm in die Nase zu pfeifen.

Schlagartig ging es ihr besser. Das Schwitzen ließ nach. Sie erlaubte es sich erst nach der Show zu schnupfen, vorher war das ein Tabu. Zu groß war ihre Sorge, dass einer ihrer Kollegen etwas mitbekommen könnte. Kokain galt in Künstlerkreisen durchaus als gesellschaftsfähig, doch wäre der Aufschrei sicher groß bei einer Frau, die drei extrem giftige Schlangen beaufsichtigte und eine weitere, die in der Lage war, ein junges Reh mit Haut, Haaren und Geweih zu verspeisen.

Sie setzte sich entspannt, mit sanft geschlossenen Augen auf das Terrarium der Klapperschlangen. Für einen Moment verharrte sie so bewegungslos wie die beiden gelangweilten Schlangen hinter der dicken Glasscheibe. Sie atmete nicht. Sanfte Lichtblitze erschienen vor ihr in der Schwärze, und kein Laut drang an ihr Ohr. Sie war im Reinen mit sich und der Welt. Ihre hübschen Lippen zeigten ein zartes Lächeln, und ihre Atmung setzte wieder ein. Flach. Gleichmäßig. Ihr war klar, dass es nicht immer so weitergehen konnte. Bald brauchte sie den Stoff schon vor der Show. Hinzu kam, dass der Scheiß verdammt teuer war und ihr Körper nicht ewig die Zeichen wegstecken würde. Verdammtes Gift. Schon war die Reinheit des Momentes wieder verflogen.

Sie schniefte als sie sich von der Kiste erhob. Die laufende Nase nach dem Kick war ihr zur Gewohnheit geworden. Die Kobra, die bis jetzt bewegungslos verharrt hatte, schien die Unruhe zu bemerken und richtete sich sanft auf. Sie wirkte interessiert, nicht angriffslustig. »Entspann dich, Leika«, sagte Lily Polley, hob das Terrarium mit einem leisen Ächzen hoch und stellte es auf einem Rollwagen ab, der an der hinteren, schwarz getünchten Mauer stand. Mit den zwei weiteren Transportboxen verfuhr sie ebenso, dann musste sie die Schlangen nur noch in das große Terrarium in den Keller hinunterbringen. Heute gab es leider keinen Feierabend. Heute stand ihr noch der Ensembleabend bevor, und dort musste sie sich blicken lassen. Das gehörte zum Spiel, das man hier spielte. Wenn sie als Letzte kam, hatten ohnehin alle schon einen intus, und keiner würde merken, dass sie high war. Verdammt, warum auch? Schließlich fühlte sie sich jetzt normaler als vorher.

Sie trug jedes einzelne Terrarium nach unten vor die Kellertür und ging dann noch einmal zurück, um ihren Schlüsselbund zu holen. Für die erste Tür, die in einen schmalen, mit drei nackten Glühbirnen beleuchteten Kellergang mündete, reichte der Hauptschlüssel. Sie stutzte. Ihre koksgeschärften Sinne zeigten ihr, dass etwas nicht stimmte. Ihr Blick fiel auf den Schlüsselbund in ihrer Hand. Der Garderobenschlüssel fehlte. Merkwürdig. Sie hatte ihn garantiert nicht entfernt. Warum auch? Vielleicht saß Frank endlich mal nackt auf ihrer Couch und wartete auf sie. Sie grinste müde und dachte nicht weiter darüber nach. So geschärft die Sinne nach dem Koks auch sein mochten, sie ließen sich verdammt leicht ablenken. Sie stand vor der Tür, hinter der sich das große Terrarium befand. Hierfür gab es nur zwei Schlüssel. Einen hatte sie, den anderen Pedro Möller. Dieser gegenüber lag noch eine weitere Tür, hinter der sie gedämpfte Musik und Stimmengewirr ausmachen konnte. Dort war der sogenannte Lichtsaal. Ein im Stile des Varietés eingerichteter Saal mit Bar, Tanzfläche und moderner Ton- und Lichttechnik. Heute fand dort der Ensembleabend statt, und wie es sich anhörte, waren dort schon einige ihrer Kollegen versammelt. Um selbst in den Saal zu kommen, musste sie gleich den längeren Weg durch das Foyer nehmen, denn die gottverdammte Tür hatte von dieser Seite keine Klinke. Sie hörte gedämpftes Lachen.

Nur eine halbe Stunde später sollte niemand mehr lachen – und die Party zu Ende sein.


»Mann Kai, steh gerade!«, motzte Ben. »Da kommt mein Klient.« Ben schaute den Bruchteil einer Sekunde mit strenger Mine in Kais Richtung, um dann wieder zur Tür zu blicken, durch die Pedro Möller gerade hereinkam und ihn anlächelte.

Kai und Ben waren neben einigen Servicekräften und einem Techniker die Ersten gewesen, die zur Party im Lichtsaal eingetroffen waren. Kais erster Weg hatte auf direktem Weg zur Bar geführt, und Ben hatte es nicht gewagt, ihn von der Leine zu lassen. Kai lehnte sich mit dem Rücken an die Theke und wirkte mit dem Wodka Lemon in der Hand so zackig wie eine Bundesdienstflagge bei Flaute. Sollten seine letzten Kräfte ihn verlassen, und Ben hatte die leise Ahnung, dass das nicht mehr lange dauerte, würde er in dieser Position sanft auf die Tanzfläche rutschen.

Unvermittelt begann er zu kichern. »Klient! Ich schrei mich weg! Jetzt bist du nicht mehr der große Mumpitz, sondern Sherlock Humbug …«

»Mann, Kai«, unterbrach ihn Ben scharf. »Sei mal ruhig, ich bin hier schließlich undercover.«

Kais Lachflash wurde noch heftiger. Er rappelte sich auf, stellte sein Getränk auf die Theke und hielt theatralisch seinen Bauch. »Undercover! Ich halt’s nicht mehr aus!«

»Ich sehe, ihr habt Spaß, dann war die Show wohl nicht so schlecht, oder?« Pedro Möller war bei ihnen angelangt.

»Nein, nein, ganz im Gegenteil. Es war super.« Ben schaute peinlich berührt in Kais Richtung, der zwar nicht mehr laut lachte, doch immer noch fröhlich in sich hineinkicherte. »Sie müssen entschuldigen. Kai hat heute seinen Fall abgeschlossen, und das feiert er jetzt.«

»Ja, ich hab meinen Fall abgeschlossen! Gelöst!« Er brüllte wieder los. Ben war klar, dass sie an einem Punkt angekommen waren, an dem er sagen konnte, was er wollte. Kai würde alles witzig finden. Glücklicherweise ergriff Pedro Möller das Wort. »Na! Genauso muss das sein. Ordentlich mal einen nehmen, was?« Er klopfte Kai anerkennend auf die Schulter und sagte zum Barkeeper gewandt: »Klaus, machst du mir auch mal so einen?«

Es blitzte, und Ben bemerkte den Fotografen, der plötzlich vor ihnen stand und wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Seine Kleidung war komplett schwarz, und er hatte einen runden Kopf mit wenig Haaren sowie eine Statur, die Ben als »kompakt« bezeichnet hätte. Recht klein, dafür etwas mehr Breite.

»Ah, Gerold! Sehr gut. Komm gleich mal her.« Pedro Möller legte den Arm um den Mann und zog ihn näher zu sich, Ben und Kai heran. »Das hier ist Gerold Schottner. Unser Fotograf. Liefert immer top Arbeit. Hat alle Bilder für die aktuelle Show gemacht.« Pflichtbewusst lächelte Gerold Schottner, senkte die stattliche Spiegelreflexkamera in seiner linken Hand und streckte Ben seine rechte entgegen. »Und das hier«, sprach Pedro Möller weiter, »ist Ben Pruss und sein Freund Kai … äh …«

»Siebert«, antworteten Ben und Kai gleichzeitig.

»Richtig. Siebert. Ben arbeitet seit heute bei uns. Masseur. Weißt ja, die Damen und Herren müssen bei Laune gehalten werden.« Er zwinkerte dem Fotografen verschwörerisch zu, der lächelnd sagte: »Der ist doch wohl nicht nur für die Bühnenheinis da, oder? Ich hab schließlich eine Fotografenschulter.« Er verzog unter gespielten Qualen das Gesicht und griff mit seiner linken Hand theatralisch an die gegenüberliegende Schulter.

Alle vier lachten. »Na, ob ich da noch was machen kann? Das sieht ziemlich aussichtslos aus«, gab Ben zur Antwort und spürte, wie sein Mund trocken wurde.

Alle lachten wieder. Der Fotograf nutzte die Gelegenheit, seine Kamera ans Auge zu heben und die Dreiergruppe zu fotografieren. Ben spürte sein Handy in der Hosentasche vibrieren, er kramte es hervor. Die Rufnummernerkennung zeigte den Namen einer Person, die Ben noch weniger sprechen wollte, als heute Nachmittag seine Mutter und seine Vermieterin.

»Hey, deine Frau ruft an.« Ben streckte Kai das Handy entgegen, der keine Anstalten machte es entgegenzunehmen.

»Nee. Lass einfach klingeln. Keine Lust«, winkte Kai ab. Er sah jetzt nicht mehr lustig aus. Dann drehte er sich zur Bar und bestellte einen weiteren Wodka Lemon. Die Kamera blitzte nach wie vor munter drauflos, nun in andere Richtungen, denn der Saal hatte sich mehr und mehr gefüllt.

»Stress mit der Frau?«, fragte Pedro Möller an Ben gewandt und nickte in Kais Richtung.

»Ein bisschen. Wird schon wieder«, gab Ben zurück, der sich schuldig fühlte, weil er den Anruf nicht angenommen hatte. Er mochte Steffi, und er wusste, dass sie, was Kai anbetraf, nicht ganz im Unrecht war. Auf der anderen Seite fand Ben es, in Anbetracht seines eigenen Lebenswandels, nicht angebracht, seinen Freund in dieser Hinsicht zu belehren. Pedro Möller schien bemerkt zu haben, dass das Stimmungsbarometer tief in den Bereich »wechselhaft« abgesunken war. Dass gerade der Jongleur Giulio Elmo und der Einradkünstler Franjo Hirsch den Saal betraten, schien für ihn die passende Gelegenheit zu sein, sich rasch zu verabschieden und zu verschwinden.

Ben hatte das Gefühl, es könne besser sein, Kai erst mal in Ruhe zu lassen. Dieser hatte sich gerade einen Barhocker gegriffen und saß nun, Ellenbogen auf der Theke abgestützt und das Kinn auf den Fäusten abgestellt, reglos vor seinen Getränken. Zu dem halbleeren Wodka-Lemon hatte sich ein Ramazotti gesellt. Ben schüttelte es innerlich beim Anblick dieser Kombination. Er ließ seinen Blick durch den Saal streifen. Was machte er eigentlich hier?, fragte er sich beklommen. Überall standen Menschen in zahlreichen kleinen oder größeren Grüppchen zusammen. Sie lachten, redeten, gestikulierten, tranken. Waren das alles Verdächtige? Wie sollte er bei so vielen Angestellten den Überblick behalten? Womit um Himmels willen, sollte er überhaupt anfangen? Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie ein echter Ermittler an die Sache herangehen würde. Gleichzeitig war ihm klar, dass er gleich jetzt anfangen sollte. Es war die perfekte Gelegenheit, heute Abend einige Leute kennenzulernen. Sein Mund war staubtrocken. Er hatte noch gar nichts zu trinken. »Das ist doch mal ein Anfang«, sagte er leise zu sich selbst und bestellte ein alkoholfreies Bier. Fast jeder hier hielt ein alkoholisches Getränk in der Hand, und Ben fand, es könne nicht schaden, wenn seine vermeintlichen Kollegen annahmen, er würde ebenfalls etwas Alkoholisches trinken. Er stellte sich, stolz auf seine Finte, lässig mit dem Rücken an die Bar. In einer Hand sein Bier, die Ellenbogen hinter dem Körper auf der Theke abgelegt. Niemand schenkte ihm Beachtung. Gleich würde er sich irgendwo einklinken und seine Ohren offenhalten. Hier und da ein bisschen Smalltalk … gleich. Jeden Moment. Erst noch einmal aufs Klo vielleicht. Er sah sich nach einer Tür um oder einem Schild. Beides fand er nicht, aber draußen im Gang hatte er ein Toilettenschild gesehen, wenn ihn nicht alles täuschte. Er stellte sein Bier auf die Theke und verließ den Saal durch den Haupteingang.

Unten fand Ben keine Toilette. Vom Gang zweigten zwar drei Türen ab, diese waren aber allesamt unbeschriftet. Er lief die verwaiste Treppe zum Foyer entlang und entdeckte ein WC-Schild an einer Tür zwischen Bar und Kassenhäuschen. Er erkannte, dass es sich um die Örtlichkeit handeln musste, in der der Wasseranschlag passiert war. Ihm fiel zum ersten Mal der neue Teppich im Foyer auf, und er erkannte im Fußbereich der Mauer feuchte Stellen im Putz. Zum Glück war die Tür geöffnet und der Sanitärbereich beleuchtet. Ben hasste Pissoirs, da er immer das Gefühl hatte, das ihm daraus die Bakterien direkt in die offene Hose sprangen. Also suchte er eine der Kabinen aus, die ihm nach einer Sichtprüfung am saubersten erschien, schloss die Tür und urinierte im Angesicht eines laminierten Bitte im sitzen pinkeln-Schildes im Stehen.

Wieder auf der Treppe zum Saal, überholte ihn Frank Pracht, der Moderator der Show. Dieser wirkte nervös und abwesend, als registrierte er Bens Anwesenheit überhaupt nicht. Ben vernahm eine satte Schweißfahne und atmete flach in den Kragen seiner Lederjacke. Er registrierte, dass Franks Bühnenschminke zerlaufen war, als hätte er sich mit den Fingerknöcheln durch die Augen gerieben. Frank stieß die Tür zum Saal einen Spalt auf und glitt hinein. Mit einem Rums fiel sie, direkt vor Bens Nase, zurück ins Schloss.

Wieder im Saal, beobachtete Ben, wie Frank grußlos an allen anderen Gästen zur Bar eilte, einen Jägermeister bestellte und diesen hastig hinunterkippte. Dann ließ er sich auf einen Barhocker sinken und saß einen Moment regungslos, mit geschlossenen Augen da. Es dauerte keine halbe Minute, dann sprach ihn die Frau mit der Hundedressur-Nummer (Ben hatte ihren Namen vergessen) an, die bis dahin alleine an einem der Stehtische verweilt und an einem bunten Cocktail geschlürft hatte. Ben hörte nicht, was die beiden sprachen, doch aufgrund der Bla-bla-bla-Lächeln-Bla-bla-bla-Lächeln-Verteilung tippte er auf Smalltalk. Frank wirkte angestrengt, doch sein Gegenüber schien das nicht zu bemerken.

Ben entschied sich, für heute Schluss zu machen und nach Hause zu fahren. Er fühlte sich nicht mutig genug, zu einem der Grüppchen zu gehen und sich bei den Kollegen bekannt zu machen. Pedro Möller hatte vor einer Traube Menschen an der Bar Aufstellung genommen und machte große Gesten beim Reden. Sein Glas Wodka-Lemon immer in der Hand und häufig an der Kehle. Wenn es auch keinen Platz auf der Bühne für ihn gab – hier genoss er offensichtlich seinen Auftritt.

Ben trank einen Schluck von seinem Bier und fragte sich, ob er diesen Tag schon in Rechnung stellen sollte? Besser nicht. Der Geschmack in seinem Mund war schal und bitter. Ein paar Meter neben ihm krachte es, und Ben blickte instinktiv in die Richtung des Geräuschs. »Das ist jetzt nicht wahr!«, grummelte er, dann lief er zu Kai, der vom Barhocker gerutscht war und weiterhin selig schlafend auf dem Parkettboden lag. Das Gemurmel ringsum verstummte und scheinbar jeder gaffte auf die unbekannte Person zu ihren Füßen. Manche wirkten erschrocken, manche peinlich berührt, einige lachten und deuteten mit dem Finger auf Kai.

Ben kniete sich neben ihn, griff ihn mit der linken Hand am Kragen und gab ihm mit der anderen Hand rechts und links ein paar schallende Ohrfeigen. Das fühlte sich gut an. »Alter! Geht’s noch? Wach auf!«, rief er, wohl wissend, nun das Zentrum der Aufmerksamkeit zu sein.

Kai rührte sich nicht. Sein Kopf hing nutzlos zur Seite, und seine Zunge hing schlapp aus dem Mund. Vermutlich hätte Ben Kais Kopf an dieser Stelle wieder sacht auf dem Boden abgelegt, wäre zur Bar gegangen, hätte sich ein Glas Wasser besorgt, und dieses, zum Amüsement der umstehenden Gäste, Kai ins Gesicht gekippt – doch es sollte anders kommen.

Ben bemerkte den Aufruhr an einer Seite des Saals. Hektisches Treiben, laute Stimmen. Zuerst glaubte er, dass es wegen Kai sein müsse. Immer noch neben seinem Freund kniend blickte er auf. Nein, etwas anderes war da im Gange. Eine in die Wand eingelassene und mit Samt eingefasste Tür, war für die Gäste ins Zentrum des Interesses gerückt. Der Jongleur Giulio Elmo stand zusammen mit Gerold Schottner davor. Beide hatten ein Ohr an das Türblatt gelegt und lauschten. Schottners rechte Hand lag auf der in die Tür eingelassenen Klinke, doch da er die Tür nicht öffnete, nahm Ben an, dass sie verschlossen sei. »Hallo!«, schrie er, und klopfte mit der Faust, während er mit der anderen Hand eine Geste machte, die das Publikum ringsherum zum Schweigen brachte. »Wer ist da?«

Ben wusste nicht, ob Gerold Schottner eine Antwort bekommen hatte oder nicht, denn die Musik verebbte erst in diesem Moment.

»Wir müssen diese Tür aufmachen! Wer hat einen Schlüssel?«, schrie Pedro Möller in den Saal.

»Vielleicht ist es einer von denen. Die Tür wurde schon seit Ewigkeiten nicht mehr geöffnet«, rief der Barkeeper, der eilig mit einem Schlüsselbund hinter der Theke hervorkam.

Ben war unbewusst näher zur Tür gerückt, und mit ihm die meisten weiteren Gäste im Saal. Giulio Elmo griff den Schlüsselbund, suchte den erstbesten Schlüssel aus und versuchte ihn in das Schloss zu stecken. Bis auf das Geklimper der Schlüssel war alles still. Doch nicht lange. Die Stille schaffte Platz für die Geräusche hinter der Tür. Ben, der noch näher herangerückt war, hörte ein gedämpftes, dringliches Klopfen auf der anderen Seite, untermalt von einem anderen Geräusch. Ben konnte es nicht gleich zuordnen. War es ein Schreien? Nein, eher war es ein Keuchen.

»Der passt«, rief Giulio Elmo und riss die Tür auf. Der Kellergang wurde sichtbar – nackte Wände aus Backsteinen, diffuses, gelbes Licht. Feuchter Kellergeruch machte sich breit und jahrealter Staub rieselte von der Tür in den Saal. Graue Spinnweben. Niemand war auf der anderen Seite zu sehen. Die vier Personen, die direkt vor der Tür standen, gaben scheinbar gleichzeitig einen Ausruf des Schreckens von sich und traten einen Schritt zurück. Ben erkannte eine Gestalt, die auf dem Boden lag. Er hörte wieder dieses Keuchen. Nicht mehr durch die dicke Eisentür gedämpft, ließ es eine Gänsehaut auf seinem Kopf sprießen. Es hörte sich an, als ob jemand heftig keuchend und röchelnd bemüht wäre, Luft in seine Lungen zu saugen.

Chhhhhh … Chhhhhh …

Die Gäste im Saal schienen sich kollektiv weiter von der Tür wegzubewegen oder erstarrt zu sein. Ben spürte den Drang, sich umzudrehen und wegzulaufen, doch er zwang sich zu handeln. »Lasst mich durch! Ich bin Masseur!«, schrie er der Menschengruppe vor der Tür zu, die sich vor ihm teilte und den Blick auf die Gestalt am Boden gänzlich freigab.

»Das ist Lily!«, schrie ein Mann. Plötzlich war Bewegung im Saal. Ben erreichte die Frau, zog sie weiter in den Saal und drehte sie auf den Rücken. Giulio Elmo, oder vielleicht Gerold Schottner, half ihm dabei. Jetzt erkannte er, dass es sich um die Schlangenfrau handelte. Lily Polley starrte ihn aus hervortretenden, panischen Augen an. Ihr Mund weit aufgerissen, die milchig schimmernde Zunge nach vorne aus dem Mund gestreckt. Die Haut nass glänzend vor Schweiß. Aufgedunsen, kalkweiß. Adern traten ihr pochend aus Stirn und Schläfe. Wieder ein Röcheln. Ein verzweifelter, sinnloser Versuch, Luft in die Lungen zu bekommen. Ben würde dieses Geräusch sein Leben lang nicht mehr vergessen.

Lily Polley griff in Panik nach seinem Revers, versuchte, sich an ihm hochzuziehen. Er musste einen Luftröhrenschnitt machen, dachte Ben mit einem Grausen und ohne den blassesten Schimmer, wie das praktisch vonstattengehen sollte. Er hörte die anderen um ihn herum schreien, rufen, durcheinanderreden.

Sie würde hier und jetzt sterben, das war Ben klar. Doch noch starb sie nicht. Sie bäumte sich auf, drehte sich auf den Bauch und robbte auf allen vieren einige Meter weiter. Mit aufgerissenen, flehenden Augen blickte sie ihre Kollegen an, die vor ihr zurückwichen, als wollte sie sie mit einer ansteckenden, tödlichen Krankheit infizieren. Ein langer, kehliger Laut, mehr tot als lebendig, löste sich aus ihrer Lunge, dann brach sie zusammen. Der Kampf war vorüber, und Ben wusste mit vollkommener Sicherheit, dass es nichts brachte, was er als Nächstes tat. Er drehte ihren Körper auf den Rücken und begann eine Herz-Lungen Massage. Von irgendwoher flammte in seinem Kopf das Wissen auf, wie das ging. Fest, mit durchgedrückten Armen, zum Beat von Yellow Submarine. »Nimmt jemand den Notarzt in Empfang?«, schrie er in die glotzende Menge.

»Pedro ist oben«, antwortete irgendwer.

Ben sah auf Lily Polley, deren tote Augen ins Leere starrten. Ihr Körper bebte unter seinen sinnlosen Stößen. Er erkannte, woran sie gestorben war, und eine weitere Dosis Adrenalin durchfuhr seinen Körper. »Schnell! Macht sofort die Tür zu! Schnell, die Tür zu!«, schrie er panisch in den Saal.

Vorhang zu!

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