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Solo
Оглавление„Wo bin ich?“
Die Sonne kommt, Frank wird aus dem Halbschlaf gerissen. Vor Kurzem noch am Schatten steht sein Liegestuhl nun in zufälligem Licht. Ach, er hätte doch damit rechnen müssen. Meistens stellt er seinen Liegestuhl gegen die Zypressenwand, bevor er sich seiner gewohnten Siesta hingibt. Heute aber – die Wolken hängen tief, der Wind weht aus dem Massif des Maures herüber – war eine solche Aufhellung beim besten Willen nicht vorauszusehen. Während dieser Jahreszeit hat die Sonne einen zwiespältigen Stand.
Frank war einfach zu träge. Nach dem kategorischen Aperitif und einem üppigen Mahl sank er weinselig in seinen Liegestuhl. Es übernimmt ihn ist seit Wochen täglich. Wenn nur die quälende Aufsässigkeit der Erinnerung nicht wäre: Frank wird von der Vergangenheit heimgesucht. Mit beiden Füssen auf dem Boden war ihm das Vergessen immer leicht gefallen, ja, sogar Vergeben war Prinzip, was bei diesem Bild von Mann die gewohnten Verdrängungen einschließt.
Ausflüchte scheinen ihm seit einiger Zeit nicht mehr zu gelingen. Erinnerungen lauern auf und fallen über ihn her. Nur Wein und Schlaf lassen ihn nach dem Essen etwas Ruhe finden. Wenn er jedoch aus der Obhut seiner Siesta wieder zu sich kommt, sind die Bilder zum Greifen nah. Anna, sagt er halblaut zu sich selber. Aber das ist nur der Anfang, ein möglicher Anfang unter vielen anderen, wenn die Erinnerung Buch führt. Anna? Es hätte auch Eva sein können.
„Ich hab ein Rendezvous mit dem Wind“...
Drei Jahre an der Seite seiner Maman liegen hinter ihm. Die Erinnerung ist anhänglich, die Anhänglichkeit hält die Erinnerung wach, ein Teufelskreis. Die Rolle als Pfleger hätte er sich niemals selbst ausgesucht, obschon sie ihm mit der Zeit wie auf den Leib geschrieben schien. Seine geliebte Maman hätte er weiß Gott nie im Stich gelassen. Ein anderer Lebensentwurf war ihm versagt geblieben. Er hatte alles aufgegeben, um nichts anderes mehr zu beginnen.
So ist es, nichts zu machen. Vielleicht hätte Freund Igor für diesen einfachen und ehrlichen Befund Verständnis gehabt, er kennt sich in Sackgassen aus.
Erzählen – das tut Frank seiner kranken Maman zuliebe. Es lenkt sie von den Schmerzen ab. „Bitte“, sie braucht es nicht einmal zu sagen, es ist ihren Zügen anzusehen. In ihren Augen flackert unvermittelt Lebendigkeit auf, wenn sie die vertrauten Namen vernimmt: Mona und Tim, Elena und Clemens, Ruth und Valentin, Vanessa und Cesare, Igor, Roman und wie sie alle heißen. Anna aber hat sie ins Herz geschlossen. Sie ist der rote Faden im atemlosen Fluss der Aufzählungen.
Lesen wäre Maman zu anstrengend. Vorgelesen wird hin und wieder ein Nachruf aus der Zeitung, sonst aber dreht sich alles um die Geschichten von Frank, die angeblich sein Leben schrieb. Für Maman ist die Ununterbrochenheit die reine Wahrheit, daran hält sie sich.
Trost findet sie in den steten Verwicklungen, im täglichen Auf und Ab der tragischen oder komischen Momente, die – wie bei kleinen Kindern – am liebsten noch einmal jene vom Vortag sind. Fragen zu stellen und zu unterbrechen, das vermag sie im engelhaften Zustand ihrer Schwäche nicht mehr. Im augenblicklichen Aufflackern ihrer Züge ist nachzulesen, wenn Frank abweicht oder gar verkürzt. Zuweilen kann das Erzählen auch Frank selbst beflügeln. Er ist ganz begeistert, wenn ihm eine Szene einfällt, die bislang durch das Netz der Wiederholungen fiel. Ein Lächeln streift sein Gesicht, denn in diesem Augenblick hat ihn das wahre Leben tatsächlich auf seiner Seite.
Maman scheint das Maß der Zeit verloren zu haben. Unterbrochen wird der Lauf des Erzählens nur, wenn sie einnickt. Sie meint dann, von ihren Träumen auf die richtige Fährte gelockt, an der Bar zu stehen, miterleben zu können, wofür sie ihn früher insgeheim bewunderte, Frank, ihren einzigen Sohn, der in der ganzen Welt herumgekommen ist. Keine Frage, er hat etwas erlebt.
Sie steht an der Bar, Tipptopp, ihre Träume entführen sie. Sie befindet sich unter den jungen Frauen, die Frank begehrt. Sie muss nicht einmal vorgestellt werden, sie wird sofort erkannt. Sie taucht auf und ist im Kreise der Gäste an der Bar bereits aufgenommen. Sie ist eine zufällig weitere, aber jederzeit willkommene Gegenwart in Person. Roman, wie immer zuvorkommend, bietet ihr seinen Hocker an. Sie sieht sich im Spiegel und darin auch Igor. Sie ist im Bild. Er sitzt im hinteren Teil der Bar wie immer. Er würde ausnahmsweise aufstehen, um sie zu begrüßen, comme il faut.
Sie wäre liebend gern Großmutter gewesen. Sie wünschte sich einen Springinsfeld, der durchs Feuer geht, einen unbestechlichen Querkopf, der sich auf seinem Weg zum Höhepunkt von niemandem aus der Fassung bringen lässt. Einen kleinen Napoleon, so einer musste ihr vorgeschwebt haben, aber Frank hatte eben nur Geschichten im Sinn und keine Frau fürs Leben gefunden. Nachdem die Ranken um seine legendäre Bar in der Talkshow „Herz hat unsere Welt“ wirklichkeitsgetreu inszeniert worden waren, hatte er einen Schlussstrich gezogen und seine Maman im Süden besucht. Er dachte, nur ein paar Wochen zu bleiben, um auf andere Gedanken zu kommen. Und jetzt? Ein Hirnschlag aus heiterem Himmel hatte die Sinnfrage erübrigt: Non, Maman! „Wie grausam das Schicksal sein kann.“ Die Dorfbewohner schoben den Satz vor, weil es in diesem Fall keinen besseren gab. Das Leben hat keine innere Logik, man kann sagen, was man will. Frank blieb, ließ sich eine Weile noch von der Hoffnung tragen, es würde bald besser gehen und er wieder auf und davon. Verschlechterte sich ihr Zustand auch nicht, er blieb wie er war, konstant – und Frank am Lager seiner Maman, drei Jahre lang, Mon Dieu, eine Ewigkeit.
„Mama, einst wird das Schicksal uns wieder vereinen“...
Die Wiederholung leistet alles, sie nimmt das Buch in die Hand. Frank ist unfähig, sich selbst zu erklären, wie er beim Aufzählen vorgeht. Er verlässt sich auf seine Eingebung, die ihm einen Einfall zuspielt, wenn er sich ans Bett setzt, die Hand seiner geliebten Maman hält und irgendwo anknüpft. Jede Anstrengung oder Überlegung würde den Fluss der Rede behindern. Seine Ausführungen haben keinen Anfang und kein Ende, sie kreisen um einen Namen. Solange dieser etwas abwirft, kann es länger werden. Die Dauer des Interesses hängt von einer inneren Spannung ab, die sich im Gesicht seiner Maman spiegelt.
Spürbar warm ist ihm ums Herz, wenn er sich über einem Namen und dem damit einhergehenden Lebensabschnitt aufhält. Die Ausstrahlung überträgt sich augenblicklich auf seine Maman. Ebbt die Intensität der Zuwendung aus, wird die Seite gewechselt. Ein anderer Name gibt den Anstoß, eine weitere Konstellation nimmt Formen an. Die Züge eines Gesichtes beleben sich, wie gehabt.
Gerüstlos und anfällig wird das Ganze vom Reden als solches getragen, von einem eigensinnigen Rhythmus, der den Episoden den Platz anweist. Weitergehen, das muss es einfach, anders kann es nicht sein. Wie, das ist schließlich weniger entscheiden, Maman hört ja zu.
Trotzdem können sich empfindliche Lücken breitmachen. Langeweile lässt die Spannung sinken, die heimtückische Frage nach dem Sinn taucht plötzlich auf. Dann scheint es, die Zuverlässigkeit der ununterbrochenen Rede schere aus, weil sich die Frage an Frank selbst richtet. Ein Sinn, fehlte noch! Nicht immer gelingt es, die Frage durch eine nachlässige Bewegung der Hand zu vertagen. Sie greift Frank an, der eben noch selbstvergessen erzählt, wie seine Bar, Tipptopp, renoviert wird. Wie Tim die Kabel seiner Apparate für den bevorstehenden Karaoke-Abend vernetzt. Wie sich Vanessa, von ihrem Großvater Cesare behütet, auf ihren unvergesslichen Auftritt vorbereitet. Das war einmal.
Frank verlässt sich bei Fragen nach dem Sinn auf weiterführende Maßnahmen, erzählerische Tricks und Ticks, die ihm helfen, dem Angriff Herr zu werden. Als tauglich erweist sich der Reigen der Weltanschaulichkeiten meistens. Frank schöpft aus dem Vollen der geläufigen Tiefsinnigkeiten, kommt über unzulänglichen Verallgemeinerungen aber zu keinem Schluss. In der Regel setzt das Geschehen etwas später wieder ein, es nimmt seinen gewohnten Verlauf, und sei es, indem ihm Igor – wie aus einem Souffleurkasten – ein Stichwort zuflüstert. Es kann jedoch auch vorkommen, dass es in der Tat nicht weitergeht. Alles scheint ineinander zusammenzubrechen, es fehlt plötzlich an Atem, und die Wörter finden kein inneres oder äußeres Entsprechen mehr. Der Sinn hat es in sich wie eine „femme fatale“. Frank verliert den Kopf.
Für drohende Ausweglosigkeiten und Sinnkrisen hat Frank eine naheliegende Lösung. Er legt Platten seiner geliebten Sängerinnen auf: Mistinguett, Barbara, Cora Vocaire, Jeanne Moreau, Juliette Gréco, Brigitte Bardot. Frank ist übermannt, Ah, ces femmes, er summt oder singt gar mit. Wie viel Schmerz sich hinter dieser elenden Frage nach dem Sinn aufstaut, kennen nur sie, die herzzerreißenden Damen mit ihren unverwechselbaren Stimmen, mit ihrer Hingabe, ihrer Empfänglichkeit für bittere Enttäuschungen und in ihrer grenzenlosen Bereitschaft zu leiden, gerade weil sie zu wissen meinen wofür. Melancholie ist der Seufzer der Ewigkeit. Aber ein Sinn, und erst recht ein tieferer, lässt sich dadurch auch nicht finden. Ein Lied ist zu Ende, es knistert, die Nadel des Tonarms schwächelt, ein nächstes beginnt.
„Plötzlich ein schwarzer Adler!“...
Als Barkeeper prahlt er oft damit, seine Memoiren schreiben zu wollen, ein Buch, in dem alles offengelegt wird, was es zu sagen gibt. Die Frauen fühlen sich geschmeichelt, ja, ihm dem Jäger und stimmgewaltigen Sänger, dem leibhaftigen Verführer trauen sie es allemal zu, nicht zuletzt in der Hoffnung, in einer bedeutenden Passage namentlich erwähnt zu werden – als eine der treuen Anhängerinnen an der Bar. Nur Anna glaubt Frank kein Wort, sie lächelt, worauf wartest du? An dieser Stelle würde sich ohne Zweifel Igor zu Wort melden. Ein Donnerwetter setzt es ab: Bücher, wozu Bücher? Und erst ein Buch über eine Bar? Die Welt findet in Gottes Namen anderswo statt und schon gar nicht zwischen den Zeilen. Roman würde an dieser Stelle beschwichtigend eingreifen, um nicht aus seiner Rolle zu fallen.
Frank versucht ununterbrochen jemanden darzustellen, seinem inneren Bilde gleich, dem er jedoch nie auf die Spur kommt. Die Erinnerungen beharren auf diesen langjährigen Angestrengtheiten, jemand sein zu wollen. Und sie erweisen sich, gerade durch das wiederholte Mahnmal des Rückrufs, als furchtbar mühselig, weil sie sich nicht weglegen lassen wie ein Buch, auf das wir nach Belieben zwar zurückkommen mögen, aber das für eine Weile auch geschlossen bleiben darf, zumindest über Nacht.
Als einer der beliebtesten Barkeeper auf der Mary Queen, auf der France, später an den exklusiven Adressen in aufstrebenden Quartieren einiger Großstädte hatte es ihn in die Provinz verschlagen. Tipptopp, für diese Bar hatten sich die Verhandlungen in einem Handschlag erledigt. Die Besitzerin war sichtlich erlöst. Er hatte diesen Wechsel nie als Abstieg verstanden, sondern als allmählichen Abschied, den er ein für allemal zu vollziehen nicht imstande war. Eine ruhige Kugel war noch zu schieben und vom Gebrannten loszukommen. Karaoke, das aber hatte ihn besonders gereizt. Am Tipptopp.
Seit seine geliebte Maman gestorben ist, hat er im Leben keinen Halt mehr. Damit hat er nicht gerechnet. Er ist widerstandslos geworden, etwas dünnhäutig, eine Art Membran oder Sphäre, die von Reminiszenzen erschüttert wird. Es ist wie mit der Muschel aus dem Meer, die ihm seine Maman ein erstes Mal ans Ohr legt. Aus dem Rauschen dringen die Stimmen herüber, der Lockruf der Geschichten, das Strandgut der Wiederholungen. Frank hat das Nachsehen.
Es gibt nun niemandem mehr etwas zu erzählen. Im Resonanzraum der inneren Muschel scheint sich das Verhältnis umzudrehen, als wollte ihm ein Engel oder ein Dämon die bekannten Anekdoten aufs Neue erzählen. Nicht so sehr der Reihe nach, sondern als aufgebrochene Schichten und Sichten wie in einem Traum, wo die Durchlässigkeit alles miteinander in Verbindung bringt. Er selbst treibt in einem Tümpel aus reiner Beliebigkeit und eigentümlicher Schlüssigkeit, der mit der weltlichen Logik oder mit der Vernunft nicht beizukommen ist. Nur Götter und Musen kennen das Geheimnis.
„Meine Ruh’ ist hin, mein Herz ist schwer“...
Manchmal kitzelt ihn die Vorstellung, ein Buch zu schreiben. Wahrscheinlich glaubt er, dadurch das bare Durcheinander einer ersichtlichen Ordnung überführen zu können. Es verwirrt ihn, dass in den Streifungen seiner Träume Personen in Erscheinung treten, die er nie zuvor gesehen hat. Oder es schleichen sich Menschen in die Bar ein, denen er erst jüngst begegnet ist, hier im Süden. Clemens etwa, der emeritierte Professor, seine Frau Elena und ein gemeinsamer Freund von ihnen, Christian Fleck.
Ihr Haus war dem Feuer zum Opfer gefallen, was bei der Exponiertheit der Lage für die Hiesigen kein Wunder ist. Nun sind Sie unverdrossen mit dem Wiederaufbau beschäftigt. Den Kindern zuliebe, meinen sie, für Michael auf jeden Fall, ein berühmter Neurologe, den der Vater wie Gott persönlich verehrt. Der Tatendrang vermag inzwischen auch die Einheimischen zu beeindrucken. Wer nicht aufgibt, hat sein Schicksal gemeistert. Man kennt die Deutschen.
Nun kann es ja in Träumen wie in Büchern durchaus vorkommen, dass eine weitere Person sich einer einst erlebten Situation aufdrängt, sich dazu gesellt und wortreich einmischt, als wäre sie in Wirklichkeit dabei gewesen. Im Moment bewussteren Erwachens kann dieses anheimelnde Mitsein sogar einleuchten, auch wenn die imaginären Sphären mit ihren heimlichen Botenstoffen machen, was sie wollen. Frank ist ihrem Ansturm kaum gewachsen, weghören will nicht gelingen, denn die Ohrmuschel kann kein Geheimnis für sich behalten.
„Die Gefühle haben Schweigepflicht!“...
Einige Wochen nach dem Tod seiner geliebten Maman geht Frank in die kleine Schreibwaren- und Buchhandlung im Dorf, wo er seit seiner Rückkehr noch nie gesichtet wurde. Er kauft zum Erstaunen der Verkäuferin einen Ordner, ein alphabetisches Register und Papier. Das geht in Ordnung.
Dieser Schritt, der ihn über den Dorfplatz in den Laden führt, ist so außerordentlich und auffällig, dass er bald einmal die Runde macht. Man spricht ihn darauf an, als er einen Pastis bestellt, auf der Terrasse der Bar Aux Oliviers. Auskunft gibt er nicht. Die Fragen bleiben offen. Roman fällt ihm ein, ach, der besonnene Roman hätte an seiner Stelle eine Antwort gefunden. Endlich macht Frank mit seinem Vorsatz ernst. Zuhause beginnt er eine Liste zu erstellen: Vornamen als Erstes.
Die Liste, oh Schreck! Seine Wahrnehmung war immer selektiv gewesen, wenn auch hellwach, wie er selber meint, aber entschieden genug, um Prioritäten setzen zu können. Jetzt aber ist er in Verlegenheit vor einem weißen Blatt Papier, das kennen wir.
Selten hatte er überlegen müssen, welches Wort zu wählen war. Das Leben hatte an seiner Stelle den Ton getroffen, angemessen und passend fiel er meistens aus. In dieser für ihn ungewohnten Situation vor einem Blatt Papier, einen billigen Kugelschreiber in der Hand, macht ihm auf einmal jedes Eigenschaftswort zu schaffen, das er hinter einen Vornamen setzen will. Womit beginnen? In der praktischen Anwendung wird er von den Wörtern im Allgemeinen enttäuscht und von seinen eigenen Unzulänglichkeiten im Besonderen sitzengelassen.
Er erfährt am eigenen Leib, dass die inneren Bilder zwar halten, was sie versprechen, wenn ihnen die Ähnlichkeit Verbindlichkeit unterstellt, dass es mit den Wörtern aber ganz anders ist. Sie sind schlicht und ergreifend unzuverlässig, gar unzulässig, sollen sie den Augenblick eines Eindrucks treffen oder einen Abend überleben.
Vielleicht war es ja nur die atmosphärische Gleichzeitigkeit der Gespräche, des Rauches und der Musik, die ihm das richtige Wort zugespielt hatte, Wörter, die am folgenden Tag bereits vergessen oder an der Bar spontan durch andere ersetzt werden konnten. Wie immer – das Wort war ihm noch nie in die Quere gekommen. Ein Mann, ein Wort, keine Ursache.
Hinter Anna hätte er nun ein beachtliches Lexikon von Eigenschaften schreiben mögen, so beweglich und bewegend erscheint sie ihm. So ist Anna. Wie nahe sie ihm jetzt kommt, die Anna! Welche Anna? Das ist die Frage, für die es immer nur eine Lösung gibt, ein mögliches Wort unter vielen anderen. Warum genügt nicht schlicht und einfach Anna? Punkt! Damit beginnt kein Buch.
Die Liste wird bald einmal vertagt. Die Essenszeit begründet den Vorwand; vorübergehend stellt sich Erlösung ein. Morgen ist auch ein Tag. Von der Flasche Rotwein bleibt kein Tropfen. Heute, hellsichtig genug, stellt er seinen Liegestuhl vor die Zypressenwand.
„Träume der Jugend verwehen, dann fängt das Leben erst an“...
Ungeachtet der Liste, mit der er nach den anfänglichen Unwegsamkeiten zuzuwarten gedenkt, fällt ihm als Laie auf, was Schriftsteller immer wieder übersehen. Weil sie gutgläubig und verbissen dran bleiben, entgeht ihnen, dass es die chronologische Stringenz ist, um die sie sich so angestrengt bemühen, die dem wahren Leben vollkommen widerspricht.
Im Leben geht es gar nie vorwärts, denkt Frank an dieser Stelle. Kein Mensch muss sich darum kümmern. Das eine folgt selten auf das andere, wie es vorgesehen ist. Das Da-Sein kommt ohne Reihenfolge aus. Wie an der Bar, wo der Augenblick darüber entscheidet, wer vorkommt. Betritt jemand die Bar, ist schon alles klar. Von der Vergangenheit nur eine Andeutung, von der Zukunft keine Ahnung. Man wird sehen. Für den Anfang genügt ein Name, ein Vorname ohne Eigenschaftswörter. Schön, dass du da bist!
Der Körper macht die Zeit aus und gibt ihr ein erlebbares Maß. Und nicht die Geschichte. Sie jedoch führt uns die sinnliche Verzerrung des Chronologischen als schwachen Trost vor Augen. Aus diesem Grund wohl konnte seine Maman ununterbrochen zuhören. Der Sinn lag ausschließlich in der bruchlosen Vortäuschung des Unendlichen. Eine beliebige Folge und unterhaltsame Fortsetzung nährte die Illusion, durch die Überbrückung der Zeit würde die Frage nach dem Sinn aufgehoben. Die Lückenlosigkeit als Sinnersatz – das ist es!
Frank scheint der Sache näher zu kommen. Wenn auf einer Landkarte zwei Orientierungspunkte ausgewählt werden, was macht den Weg wirklich aus? Die Anteilnahme der Wahrnehmung, das Gehen als Geschehen – im Gegensatz etwa zum Finger, der zielgerichtet eine direkte Verbindung herstellt. Aber diese Zeitspanne zwischen einem Aufbruch zu Beginn und einem Ankommen am Ende lässt sich nicht abbilden und nicht beschreiben, von den Höhen und Tiefen ganz zu schweigen. Punkt Schluss. Frank lächelt. Diese Folgerung wird ihm an dieser Stelle von Igor zugespielt, obschon dessen Herleitung und Beweisführung tiefschürfender ausgefallen wären.
„Als ob es gestern gewesen wäre“...
Die Liste murmelt Frank nach der Siesta, nichts einfacher als das! Vor der Renovation seiner Bar Tipptopp war ihm ja auch eine brauchbare Aufstellung geglückt, unter der Hand, pingelig genau. Hinter den Bestellungen der Materialien, der Farben und des neuen Mobiliars standen die Namen. Genaue Anweisungen, Daten und Zeitfenster gaben Auskunft darüber, wer was wann übernehmen würde. Begleitenden Skizzen zum Umbau in allen Einzelheiten war der künstlerische Schmiss nicht abzusprechen. Von den Frauen einmal abgesehen, deren Bewunderung keine Grenzen kannte, waren auch die Handwerker von seiner Planung beeindruckt. Übersichtlicher und verständlicher hätten sie den bevorstehenden Umbau nicht zur Darstellung bringen können. Da gab es nichts zu mäkeln.
Eine Liste ist eine Liste ist eine Liste und nicht mehr. Keine Frage. Allein, mit den Namen zu beginnen, verstellt den Blick. Schon meint Frank alle Geheimnisse seiner literarischen Neigung gelüftet zu haben. Im Gegensatz zum wahren Leben an der Bar kommen die Namen erst am Schluss an die Reihe. Zuerst steht die Persönlichkeit im Mittelpunkt, ihre Konturen und Gewohnheiten, ihre Umgebung und der lebensweltliche Hintergrund, aus dem sich ihre Figur bildlich herausschält und selbst erklärt. Wenn das keine gute Methode ist! Frank kommt in Fahrt.
Ein Bartresen ist ein Bartresen ist ein Bartresen und nicht mehr. Die Bühne ist gebaut. Das Register und der Ordner werden zur Hand genommen. Frank stellt einen Klapptisch vor die Zypressenwand. Jetzt ist er aus dem Gröbsten heraus; die Geschichte wird neu geschrieben.
Erstens: Die Apokalypse, der Auszug aus Ägypten, der Ätna, das ewige Feuer, die erstarrte Lava, der verlorene Sohn, der Messias, der Anführer, der Aufklärer, ein rebellisches Naturell, dem die Massen zu Füssen liegen, Doppelpunkt:: Lukas, Lukas zum Beispiel, Werner auf keinen Fall.
Zweitens: Gestreifter Anzug, Seidenkrawatte, Windsorknoten, die Memoiren von Churchill, immer rasiert, zur Schlacht bereit, Gibraltar, Untergrund, Falschgeld, Sieger, Verlierer, Lügen und Wahrheit, Leben und Tod, Doppelpunkt:: Oskar, Stanislas oder Igor. Substantive haben es in sich. Die halbe Geschichte ist durch freie Assoziationen gedeckt. Eine löst die andere ab.
Frank weiß nicht, dass Schriftsteller ersten Würfen geduldig eine Spanne zugestehen, um später ohne Vorurteile darauf zurückzukommen. Er aber liest die Stichwörter bereits ein erstes Mal durch; das Ergebnis ist niederschmetternd. Außenseiter haben die Neigung, die erste Geige spielen zu wollen. Mit Einzelgängern ist kein Buch zu machen, das sieht Frank ein, bevor er damit begonnen hat. Obwohl ihm die Vorbilder fehlen, kommt er intuitiv mit den bewährten Techniken des Erzählens in Berührung.
Gegen vordrängelnde Figuren und Fälle gibt es nur ein einziges Mittel, nämlich in Paaren zu denken und sich all das vorzustellen, was zwischen ihnen geht oder nicht geht. Frank kommt in Form. Das entspricht haargenau und realitätsgetreu den Gegensätzen, an die sich die sinnlichen Eindrücke zwingend halten, wollen sie verortet und verstanden werden: kalt und warm, rund und eckig, gerade und gebogen, hart und weich, dünn und dick. Das erscheint Frank so einfach wie Mond und Sonne, Himmel und Hölle, Mann und Frau, Drittens: Briefe, Telefone, Missverständnisse, Verspätungen, zerschlagene Hoffnungen, falsche Erwartungen, Krieg und Frieden, Happyend, Doppelpunkt:: Ruth und Valentin. Typisch! Die Liste wird sich nach Belieben ergänzen lassen.
Der Triumph des Anfängers ist von kurzer Dauer. Anna fährt dazwischen. Verdammt, die einzigartige Anna behauptet sich immer selbst. Mit Anna bleibt alles beim Alten. Vor ihrem Bild versagen alle vermeintlich gefundenen Methoden. Ihr Name beansprucht den ersten Platz. Anna wäre ein ganzes Buch wert. Frank gibt sich geschlagen. Ein Buch ist kein Kind und noch lange keine Frau. Die üblichen Vergleiche kommen Frank gar nicht in den Sinn. Denn auch damit kommt er nicht weiter im Text.
Zudem: Nichts käme von ihm, würde er dieses Buch auch schreiben wollen. Alles stammt von den anderen, aus ihrem Leben, aus ihrem Kommen und Gehen, Ankommen und Vergehen. Wahrlich, eine kluge Einsicht. Sie wird von Anna eingestreut, anders kann es nicht sein. Frank ist sich kaum bewusst, wie viele Fortschritte er mit dieser Einsicht als werdender Schriftsteller schon gemacht hat. Basta! Ein erster Pastis. Es ist zehn Uhr dreißig.
„Wann geschieht hier endlich etwas?“...
In seinem Leben ist Frank bislang nie gedemütigt worden, fehlte noch, einer sollte es wagen, zu motzen oder ihn anzugreifen. Kommt nun den Erinnerungen und Träumen diese vernichtende Rolle zu? Bekanntlich vermögen auch Träume listenreich vorzugehen mit ihren zermürbenden Attacken aus dem Hinterhalt. Im Folgenden weist ihn ein Buch zurecht, das er zu schreiben zwar nicht imstande ist, das ihn jedoch traumatisiert wie ein grober Wälzer.
Für Schwächen, von Memmen ganz zu schweigen, interessiert sich kein Mann wie Frank, solange er stark ist. Erwacht er plötzlich geschwächt, ist es bereits zu spät. Er ist am Ende, bevor es begonnen hat. Schicksal? Dieses gewichtige Wort kommt nicht über seine Lippen.
Eine Siesta ist eine Siesta ist eine Siesta und genügt sich selbst, obschon sie im Habitus von Frank ungewohnt und neu ist. Sie widerspricht jeder literarischen Pässlichkeit. Er, der triebhafte Anstifter erliegt dem Pastis, dem Rotwein, das erfüllt das erwartete Klischee vorbildlich. Er hat seine geliebte Maman verloren. Das fängt ja gut an. Der Ansturm der Erinnerungen hat ein leichtes Spiel, mangels Frauen, versteht sich, obschon die Sublimation auch nicht sein Thema ist.
Dass sich in der Begegnung mit dem Tod vor dem inneren Auge, in der Seele, am neuralgischen Punkt so etwas abspielen soll wie ein Film, ist eine Spekulation und wahrscheinlich eine schiefe Metapher. Wiederbelebt werden die Bilder und Fragmente nur, solange diese Frank als Projektionsfläche benutzen können. Sie machen ihm das Leben zur Höhle, in der unterschiedlichste Stimmen zu Wort kommen. Immer lauter werden sie. Frank ist der Schatten seiner selbst. Das ist neu.
Aus der Zypressenwand lugen sie hervor wie lebensgroße Marionetten, Mona und Tim, Elena und Clemens, Ruth und Valentin, Vanessa und Cesare, Igor, Roman, Doppelpunkt:: so heißen sie nun mal. Noch ist die Liste nicht ganz vollständig „Wo bist du, Anna?“ Frank spricht dem letzten Schluck Rotwein zu. Schon ist er untergetaucht in einen entrückten Zustand, der ihn dahin versetzt, wo sein Traumrausch ihn behaftet. Hinter dem Tresen seiner Bar Tipptopp. Heute weht der Marin; keine Wolke trübt das Bild.
„Den Seinen gibt’s der Herr im Schlafe.“