Читать книгу Der falsche Ton - André Vladimir Heiz - Страница 5

Im Chor

Оглавление

"Sieht man die Menschen sich sehnen, sieht ihren Schmerz, ihre Tränen, fragt man sich immer nur, muss das so sein? Immer nur scheiden und weinen, immer nur warten und leiden, und hier so wie dort bleibt jeder allein! Unsere Welt sei so schön, sie wollen niemals auseinandergehen"...

Mona klatscht als erste. Sie hört jedoch nichts, die Stimmen bleiben stumm. Ihre Augen verfolgen das Vorüberziehen der Buchstaben auf der Leinwand. Sie werden auf ein Himmelszelt gezaubert und erscheinen in einer ausgezogenen Schrift, deren Umrisse mit Farbe ausgefüllt werden, wenn diese Wort für Wort im rhythmischen Einher der Melodie gesungen werden. „Sie wollen immer beieinanderstehen.“ Der Satz zieht sich in die Länge. Keine Silbe geht verloren, der Text ergibt sich dem Fluss. Er leuchtschriftelt ungerührt daher, mache er nun Sinn oder nicht. Eingeblendete Unterstreichungen sprechen auf die erwünschten Betonungen an, wenn sie der Fall sind. Darauf kommt es beim Singen an. Vanessa macht es allen vor.

Auf dem Podest steht jetzt ein junger Mann. Wann kommst du wieder in meine Arme? Mona liest den Wortlaut von seinen Lippen ab und beobachtet gleichzeitig, wie die einzelnen Wörter von der Bildfläche nach und nach wieder verschwinden, wenn sie ausgesungen sind. Manchmal entfällt ihr ein nöliges Summen, von dem sie nicht weiß, ob es die Tonlage trifft. Aber die entfesselte Menge, die jetzt den Refrain übernimmt, grölt so laut: "Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben", dass sie die Ballung der Lautstärke auch nicht ertrüge, wenn sie hörte.

Heute sind neue Titel eingetroffen, die noch nicht im Register aufgenommen sind. Tim gibt ihr einen Kuss und zeigt ihr die Liste. Mona geht der Reihe nach. Sie lächelt. Sie kennt die Lieder fast alle auswendig.

Hier ist es zu laut, komm, gehen wir, man versteht ja sein eigenes Wort nicht“...

Gegessen ist das noch lange nicht, da nimm, Bissen um Bissen, bis alles aufgeputzt ist, brav, ein Gäbelchen voll Spinat für die liebe Omama, aus ihrem eigenen Garten kommen die Blätter, handverlesen, taufrisch gedünstet, dann mit weißen Zwiebeln, fein gehackt, in Butter gewendet, schwipp, schwapp, schwupp, schon kommt er auf den Teller für den kleinen Mann, was zum Lukas will der mehr.

Ein Kartoffelklößchen für die liebe Mama, wie gut sie heute wieder gekocht hat, Lirum, Larum Löffelstiel, hat der kleine Bär keinen Hunger mehr? Mund auf, Mund zu, schnippschnapp, ein letzter Happen Fleisch für den Bruder Lustig, Peter Pan, Jim Knopf und Harry Potter. Über das Kinn mit dem Latz, du niedlicher Fratz, schau mich nur so an, Grünschnabel, schon bald wirst du nicht mehr essen wollen, was auf den Tisch kommt, ein Haar in der Buchstaben-Suppe wirst du finden und das letzte Wort haben wollen, es ist Dir anzusehen, Lukas, mein Lukas, gib mir einen Kuss.

Du kommst noch groß heraus, dafür leg ich die Hand ins Feuer“...

Aber Anna! Fang nicht wieder damit an. Wir alle kennen doch die Geschichte. Damit kannst du nicht noch einmal kommen. Frank schenkt nach. Wir verstehen dich beim besten Willen nicht. Warum hast du dich bloß darauf eingelassen? Wir haben dich alle gewarnt, du erinnerst dich, von Anfang an. Roman fand wie immer das treffende Wort, und Katja meinte es nur gut mit dir. Ich war ja dabei.

Du zehrst am Nerv. Was für eine Geschichte, wie kannst du nur darauf hereinfallen? du bildest dir ein, jemand würde sich an dich erinnern. Du meinst, den Lauf der Zeit anhalten und zurückkehren zu können, dorthin, woher du zu kommen glaubst. Es kennt dich jedoch niemand mehr in Syrakus, das war es doch? Anna weint sich aus.

Ewig gestrige Vorstellungen, im offenen Kamin der großen Küche brennt ein Feuer. Sie tritt durch die fensterlose Hintertüre auf die enge Gasse hinaus. Da liegt der Ursprung, endlich Heimat unter den Füssen. Die Kirche bleibt im Dorf, die Männer drehen sich um nach ihr, die Erde ist ein Olivenhain, ein aufgeklärter Himmel wölbt sich versöhnlich über Land und Strand. Die Alten erinnern sich nur entfernt an ihren Namen, die lichtscheuen Weiber fahren mit dem Handrücken über ihr gezeichnetes Antlitz, als wollten sie lästige Fliegen vertreiben oder dem Schweiß zuvorkommen. Eva, sagt die eine, Maria, murmelt die andere, nein, Anna, betont die dritte. Sie gehen weiter, sie reden über Annas Großmutter.

Ach, die unerbittliche Wirklichkeit: Jetzt bist du wieder zurück. Auf der Stelle willst du hier erneut anfangen, die Vergangenheit verabschieden, indem du uns die ganze Geschichte noch einmal erzählst, von ganz vorne, die Seele von herben Enttäuschungen belastet. Du wiederholst dich, seit wir dich kennen. Unverbesserlich beschwörst du das Schicksal herauf, als ob dich Deine Geschichte endlich in die Gegenwart entlassen könnte. Hier bist du, hier musst du bleiben, wir haben dich lieb. Anna sucht ein Taschentuch; Roman hat eines.

Du hast gut lachen, aber ich komme einfach nicht darüber hin weg“...

Hilf mir, ich bin maßlos überfordert. Elena schaut ihm über die Schultern. Der Tisch ist gedeckt. Morgen bringt der Gärtner die Blumengebinde, rot, weiß, blau, die Trikolore. Clemens wird sich freuen.

Die Karten in der Hand hat sie sich die Sitzordnung noch einmal durch den Kopf gehen lassen; halbfett fallen die Namen unter ihren Bildern aus. Sie hat bewusst eine Auswahl getroffen und die Aufnahmen einzelnen Personen zugeordnet. Auch Landschaften haben ein Antlitz, das sich einprägt. Clemens kennt ihre Ansichten. An Himmel und Erde werden Licht und Züge fassbar, die sie mit körperlichen Eigenschaften in Verbindung bringt. Die Welt besteht für sie nur aus Menschen. Dieser einzigartigen Unfassbarkeit begegnet sie mit einem eigenen Bild.

Christian fällt aus; sie hätte ihn gerne neben sich gesetzt. Seit Monaten beschleicht ihn eine unheimliche Krankheit – darüber jetzt kein Wort. Clemens tut sich mit der Tischordnung schwer. Sie will ihm nicht dreinreden, es ist schließlich sein Geburtstag. Es genügt, wenn sie neben ihm steht und seine Erwägungen zugeneigt teilt.

Der plötzliche Entschluss zu dieser Einladung hat sie überrascht. Immer wieder beklagt er sich darüber, hier nie richtig Fuß gefasst zu haben. Was hältst du von einem Fest zu meinem Geburtstag? Sie befinden sich auf der Heimreise aus dem Süden. Sie stecken in einem Stau, als er ihr sein Vorhaben eröffnet. Seine Stimme, die seit Jahren auf den gesetzten Tonfall seiner Vorlesungen und Vorträge anspricht, klingt überraschend jugendlich.

Große Feste sind zwar ihre Sache nicht, aber sie spielt mit, ruft hinter seinem Rücken Freunde und Bekannte an. Davon weiß er nichts. Marcel und Fanny, ihre Nachbarn in Südfrankreich, haben zugesagt. Durch alltägliche Handreiche über die Gartenzäune hinweg ist eine Freundschaft entstanden. Auch Michael, sein ältester Sohn, kommt. Er nimmt in der folgenden Woche an einem Ärzte-Kongress in Köln teil und freut sich auf den willkommenen Abstecher. Soll sie es ihm jetzt sagen?

Sie geht um den langgezogenen Tisch, um die Übersicht zurückzugewinnen. Sie will jede zusätzliche Aufregung vermeiden. Komm, setzen wir uns in den Garten. Sie nimmt ihm die Tischkärtchen aus der Hand und setzt sich in einen hellblauen Korbstuhl. Die Beine übereinander geschlagen strahlt sie Gelassenheit aus.

Hängt das Gelingen dieses Festes wirklich von der Tischordnung ab? Überlassen wir es unseren Gästen, ja, lassen wir sie selber ihre Karten ziehen. Das darf doch offen bleiben, nicht? Den Aperitif nehmen wir ohnehin im Garten ein; wenn nur das Wetter schön wird!

Gute Idee!“...

Heute Morgen wird die Ansicht des Hauptplatzes durch eine Schar von Studierenden bestimmt. Nach einem Rundgang haben sie sich für einen eigenen Sichtwinkel entschieden. Auf Klappstühlen sitzen sie, den Kopf über einen großen Block gebeugt, den Bleistift in der Hand. Ein wolkenloser Himmel begünstigt den Gesamteindruck. Der frühherbstliche Lichteinfall mildert die Kontraste.

Schön, sagt Lehrer Busch, Zeichnen ist zwar – wie hier alle wissen – ein Freifach, was nicht heißt, dass man machen kann, was man will. Zeichnen hat seit Leonardo da Vinci auch wissenschaftlichen Tiefgang. Denkt an den Fluchtpunkt innerhalb und außerhalb des Blattes und berücksichtigt die Gesetzmäßigkeiten der Perspektive, mit denen wir letzte Woche ausführlich Bekanntschaft geschlossen haben. Vorübergehende Menschen und Autos dürfen vernachlässigt werden. Der Mensch und seine Formen der Darstellung werden im kommenden Modul behandelt.

In dieser Übung geht es – vor Ort und nach wirklichen Vorgaben – um die getreue Empfindung der Komposition und um die Präzision der Proportionen. Meißelt an den Fassaden die Tiefe heraus, auch der Schatten ist ein Gegenstand. Achtet auf die wesentlichen Einzelheiten, immer aber im Hinblick auf ein harmonisches Ganzes. Alles steht in einem Kontext, Ihr erinnert Euch.

Katharina und Sunhild sitzen an der Ecke, die Kreuzung im Rücken. Sie haben ein Panorama im Sinn, das sich aus ihrer beiden Zeichnungen ergeben soll. Vom Hotel zur Krone werden im Vordergrund nur das rotweiße Leuchtschild und der Fall der hervorragenden Mauerkante aufgenommen. Von hier aus fällt der Blick auf dem Blatt auf die Reihe der Altstadthäuser. Der Schuster zunächst, ein Italiener, der Frisörsalon und eine Buchhandlung, leicht abseitig. Den weiteren Verlauf der nahtlos gefügten Fassaden, deuten sie nur an, weil so der gegenüberliegende Vorsprung der Kirche die Symmetrie des Platzes betont. Über dem Frisörsalon ein Balkon, dessen ziseliertes Geländer erst bei genauerem Besehen auffällt. Katharina und Sunhild brechen in schallendes Gelächter aus. Auf dem Balkon sitzen nämlich Peter und Paul. Sie haben die Bewohnerin davon überzeugt, dass ein Standpunkt, leicht erhöht, dem Charakter des Platzes angemessen sei. Tatsächlich kommt von hier aus die quadratische Terrasse der Bar eindrücklich zur Geltung. Auf der Bordüre der breiten Store, hinuntergelassen, mitten Signete von Carlsberg links und rechts die fetten Buchstaben des Schriftzuges ein: Bar Tipptopp, weiß auf grün.

Wer sich wie Sonja und Fabian in der Einfahrt des langgezogenen Hauses aufhält, sieht vornehmlich den Brunnen von zwei Linden flankiert, dahinter Werkstätten im Erdgeschoss eines Hauses aus den Fünfzigerjahren, das sich hier fremd ausnimmt, wenn man die Geschichte kennt und stilistische Einheit anstrebt. Lehrer Busch zeigt eine vergilbte Postkarte, auf welcher der ehemalige Zustand ohne die Neubauten und Eingriffe der Renovationen als Kupferstich für die Ewigkeit festgehalten ist. Martin ist begeistert, er will sich auf die Dächer und die eindrücklichen Kamine beschränken.

Lehrer Busch klärt auf, schaut allen einzeln über die Schultern, korrigiert, macht aufmerksam, regt an und ermuntert. Detailgetreu und bemerkenswert hat Sunhild die Tafel vor der Bar wiedergeben. Heute Abend Karaoke mit Tim. Sogar der Charakter der Handschrift und die Textur der Kreide sind darauf zu erkennen. Man sieht, dass sich Frank beim Schreiben große Mühe gegeben hat.

Lehrer Busch muss noch einiges vormachen, damit nachvollziehbar wird, was er meint. Der Blattraum ist von Anfang an zu teilen, damit ihr Euch an einer Achse orientieren könnt. Schaut her, von ihr geht alles aus. Hält nun den Bleistift jeweils horizontal oder vertikal vor die Augen, um die Abstände und das Verhältnis der einzelnen Grundlinien mit Fingerspitzengefühl richtig abzuschätzen. So – und jetzt werden die Kontraste entschieden gesetzt, damit der architektonische Körper an Konsistenz gewinnt. Nicht nachzeichnen, zeichnen, hört Ihr, nicht zögerlich daherstricheln. Überlasst es der Hand und dem Auge, traut Euch die Kraft der Linien zu.

Gesagt, getan. Die Bar, wie man sieht. Eine Bar, die sich von hier nach dort verpflanzen lässt, ein paar kühne Striche genügen. Niemand braucht sie lange zu suchen. Siehe da: Tipptopp. Sie erfüllt alle Vorstellungen.

Besser kann man das wirklich nicht machen!“...

Wie öd und leer wären Welt und Bild ohne sie, fänden sie sich nicht ein, fänden sie einander nicht vor an der Bar, um da zu sein. Einfach da. Was braucht es mehr? Wie schwer würde uns ums Herz vor lauter Fehlen und Missen, wenn wir fassungslos vor einem Glas ins Offene starren. Die Bedenken sind umsonst. Sie erfüllen Zeit und Raum mit ihrer Gegenwart, sie sind alle da.

Ihr Atem ist dem anfänglichen Wort um eine Nasenlänge voraus, jener berauschende Atem, der über Irrsal und Wirrsal zu vernehmen war, bevor er schnaubend zum Wort übersetzte, strandete, um seiner Ratlosigkeit Luft zu verschaffen und seinem Gegenüber einen Namen zu geben. Denn aller Anfang sind sie und ihre Bar. Und nicht das Wort! Daran glauben sie ohnehin nicht. Und wenn einer meint, hier klug und schön zu reden, was allen schon längst klar ist, nein, so redet man hier nicht, außer Roman, das passt zu ihm, man gewöhnt sich daran.

Auch Engel, die sich auf einem Barsessel auf die unwirtliche Welt einlassen, müssen bekanntlich in der Sprache unterkommen, um sich verständlich zu machen. Ja, sogar Clownfische eignen sich vor der Küste Madagaskars ein drittes Zeichen an, um ihre Artgenossen zu begrüßen. Gott aber wäre ihnen in jedem Fall ein ungebetener Gast, fehlte noch, dass einer wie er an der Bar auftaucht und meint, ein Wort mitreden zu müssen.

Wenn sie nicht hierher kämen, hier vorkämen, jeden Abend, um ein Bier, einen Whisky oder etwas Exotisches zu bestellen, das Frank ihnen hinzaubert, hätte alles auf der Stelle ein Ende. Niemand würde die unerträgliche Stille brechen, dem gleichgültigen Lauf der Zeit etwas entgegenhalten, das makellose Weiß mit Lebenszeichen ausfüllen. Zum Wohl!

Aber deswegen sind sie ja da, Gott sei Dank. Heute nehme ich einen Martini mit Eis, Frank, hast Du das Herbstlicht gesehen? Sie stehen und sitzen an der Bar, weil es darüber hinaus keinen Grund gibt, unter den Füssen oder vor Augen. Schön, dass du da bist, Anna!

Die Bar ist eine Eröffnung. Mehrere Sphären tun sich gleichzeitig auf. Der regelmäßige Aufenthalt behaftet sie auf ihre Gegenseitigkeit. Die Begrüßungen rufen sie auf der Stelle zurück. Ihre Körper berühren sich, wenn Hocker näher gerückt werden, sie können sich riechen. Da fängt die Welt an, da geht sie in etwas anderes über als sie selbst. Was jedoch? Etwas Ähnliches oder etwas Fremdes? Beides! Sie schwärmen in verschiedene Windrichtungen aus. Es kommt darauf an, wie gut sie gelaunt sind und wie viel sie bereits getrunken haben. Alles geht im Großen und Ganzen auf. In dieser heiteren Atmosphäre beleben sie sich gegenseitig. Sie sind füreinander da. Darüber gibt es selten Zweifel. Das ist jedoch nur die eine Seite.

Die andere besteht aus Einbildungen und Vorstellungen, Anwohnerschaften ihrer selbst, lauter Blasen, die sie umgeben. Da nisten ihre Träume, Keime ihres Werdens, von dem sie sich noch so viel versprechen. Dahin scheren sie aus, da suchen sie Zuflucht, auch wenn sie da sind, das Glas in der Hand. Ein einziges Wort kann der Auslöser sein. Es fällt und entführt sie in ihre Eigenwelt. Das Passwort verschafft ihnen den Zutritt zu verführerischen Binnenräumen. Darin können sie sich frei entfalten. Sie sitzen zwar da, an der Bar, aber die parallelen Sphären ihrer eigenen Bilder beurlauben sie von ihrer Anwesenheit. Jetzt sind sie nämlich gleichzeitig unterwegs, vielleicht auf dem eigensinnigen Weg zu sich selbst.

Das Ungefähr nimmt Formen an, Nächte sind es, an die sie denken, Zimmer sind es, die sie sehen, das Fenster wird ihnen am Morgen den schönsten Ausblick bieten, Feuer, Wasser, Himmel, ein gelobtes Land. Oder sie schauen gar über sich selbst hinaus und nehmen in diesem freizügigen Zeitraum Anlehnungen auf. Dann sind sie ihren Vorbildern und Ahnen auf der Spur.

Sie haben alle einen Vorläufer, einen Wiedergänger, sie haben einen Zwillingsbruder oder eine Halbschwester. Die haben es geschafft oder sind noch nicht geboren. In diesen Verdoppelungen wartet die Zukunft auf sie. Sie brauchen sich nur anzuschmiegen, ihre Begrüßung auf die andere Seite gerichtet zu wiederholen, um in der Fülle der Hoffnungen aufzugehen. An ihrem Eigennamen halten sie weiterhin fest, wenn sie abrupt zurückversetzt werden, an die Bar, wo der festgefahrene Teil ihrer selbst sitzt. Diese Selbstverständlichkeit empfängt sie nun wieder. Sie sind fremdgegangen; der Abstecher ist jedoch unbemerkt geblieben.

Woher sie kommen? Wohin sie gehen? Wenn sie wüssten. Sie finden auf diese endlichen Fragen nur flüchtige Antworten. Sie kennen zwar die geläufigen Erklärungen, die man ihnen aufgedrängt hat, weil es offensichtlich keine besseren gibt, aber sie passen ihnen nur im Notfall oder wenn sie vollkommen übermüdet sind.

Sie sind gebrannte Kinder. Wie klein man sich machen muss, das ist ja unerhört, wenn man unter den Wehen, die sich alle drei Minuten wiederholen, ausgestoßen wird, ein für allemal, das hält ja kein Kopf aus, wenn der da durchmuss. Seither kennen sie Engpässe in allen Lebenslagen.

Sie müssen den Nachweis ihres Daseins immer wieder antreten, jeden Tag und jeden Abend aufs Neue, sonst würde kein Mensch glauben, dass es sie wirklich gibt. Erst mit der Zeit und durch die Wiederholung ihrer gegenseitigen Beschwörungen nehmen sie Hand und Fuß an. Sie hören auf einen Namen, der nicht auf ihrer Identitätskarte steht.

Du da, das gibt’s ja nicht!“...

Ganz die Mama! Hast du die Mütze angezogen? Hast du die Handschuhe eingesteckt? Vergiss den Schal nicht! Es ist noch kühl, heute Morgen. Hast du auch wirklich gefrühstückt und dann die Zähne geputzt? Sunhild, ihre Tochter, sagt am anderen Ende des Drahtes nur ja. Sie kennt die morgendlich gewohnten Nachfragen, die wie ein Refrain den neuen Tag begrüßen. Ja zu sagen, macht alles einfacher.

Maria nimmt ihren Dienst am frühen Morgen auf. In der Tiefgarage steht der Dienstwagen bereit. Der Chef gesteht ihr den Mercedes zu, er schätzt ihre Zuverlässigkeit.

Christian Fleck ist ihr erster Kunde, Tag für Tag. Wenn sie in die Querstraße des vornehmen Wohnquartiers einbiegt, steht er bereits vor der Haustüre. Guten Morgen, Maria, gut geschlafen? Sobald sie bei der Ausfahrt der Hochstraße zum Hafenviertel ankommen, ruft sie ihre Kinder zu Hause an. Christian Fleck wird Zeuge ihrer mütterlichen Sorge. Schläft dein Bruder noch? Pass auf dich auf! Ich umarme dich, bis später. Wenn Lukas nur endlich begreifen würde, dass man im Leben rechtzeitig aufstehen muss. Sie seufzt. Fleck zeigt Verständnis. Nach diesem morgendlichen Wortwechsel wird sie ihn in den Tag entlassen. Außer den üblichen Höflichkeiten, die am Rande ausgetauscht werden, bestimmt ihr Anruf die Fahrt.

Christian Fleck erkennt die Stimme ihrer Tochter Sunhild sofort, diese schlaftrunkene Folge von ja, ja, jaja die an der erwarteten Stelle aus dem Lautsprecher in den Wagenraum fallen. Alles in Ordnung? Christian Fleck kann nicht umhin, die Frage zu stellen, wenn sie das Gespräch beendet. Als Mitwisser auf dem Nebensitz scheint ihm die angespannte Atmosphäre väterliche Gefühle abzuverlangen.

Er steigt immer am Eingang des Hafenviertels aus, um ein kleines Wegstück zu Fuß zu gehen. Seine Kanzlei befindet sich im neunten Stock eines Docks, das von einer renommierten Architektin umgebaut wurde. Er zieht die Treppe dem Aufzug vor. Die durchgehende Verglasung des Anbaus gibt den Blick auf den Betrieb im Hafen frei. Oben angelangt betritt er die lichtdurchfluteten Räumlichkeiten und bittet seine Sekretärin um einen Kaffee, bevor nun auch er den ersten Anruf entgegennimmt.

Und wer ist dran?“

Der Mont Ventoux, das ist das Stichwort. Alle ihre Freunde kennen es und damit die Geschichte, die sich dahinter verbirgt. Es war Vorsehung glücklich gestimmter Götter, sagt Elena. Reiner Zufall, sagt Clemens. Darüber wird niemals Einigkeit bestehen.

Das Stichwort fällt, wenn sie Bekanntschaft schließen, näher rücken an einem Tisch, und zu späterer Stunde innigere Beziehungen geknüpft werden. Über den Mont Ventoux. Meistens ist es Elena, die ihm das Wort zuspielt. Und Clemens beginnt zu erzählen, wie sie sich heillos verfahren.

Sie übernachten nach einem Ausflug auf den heiligen Berg, den er nur am Rande erwähnt, in Sault, in der Auberge du Micocoulier, mitten in einem Olivenhain. Am folgenden Morgen stehen sie früh auf, sie wollen am späteren Nachmittag die Küste erreichen, die Nacht in Saint-Maxime oder Saint-Raphaël verbringen. Die Wirtin empfiehlt ihnen eine Strecke, die abseits vom Strom der Touristen durch das Hinterland führt, zwischen Manosque und Brignoles mitten durch die Hügelzüge. „Manosque“ und „Brigonles“, das müssen sie sich merken, der Umweg verspricht Sehenswürdigkeiten und unglaubliche Aussichten. Sie werden sehen, es lohnt sich.

In der Tat sie sind überwältigt, die Landschaft hat es in sich. Sie verlieren ihr Tagesziel mehr und mehr aus den Augen. Es ist sonnenklar, es ist eine Vorsehung. Elena wirft das Wort ein, in diesem Zusammenhang überzeugt es. Das vibrierende Licht wiegt sie in eine übermütige Stimmung, in der sie plötzlich zu allem bereit sind. Sie lassen sich sorglos zu Abstechern auf kurvenreichen Kleinstrassen hinreißen und verpassen nach Saint-Luc genau jene Abzweigung, auf die sie die Wirtin ausdrücklich aufmerksam gemacht hat.

Das fällt ihnen in diesem Augenblick nicht auf; die Vermutung stellt sich später ein. Am Radio, das sie ausnahmsweise eingeschaltet haben, erklingt eines jener süffigen Chansons, das nach ein paar Takten schon auf ein offenes Echo stößt, wenn auch nur einen Sommer lang. Jetzt aber zählt einzig die Gegenwart. Das Glück fragt selten nach dem Weg.

Nach einer passähnlichen Überfahrt stellt sich ihnen im Massif des Maures buchstäblich ein Weiler in die Quere. Sie halten an. Ein offenes Tor verführt sie, einen verwilderten Garten zu durchqueren. Die Wirklichkeit nimmt sie bei der Hand, sie will ihnen dieses Wunder nicht vorenthalten. Der überwucherte Weg lässt sie auf einer natürlichen Terrasse ankommen, die den Blick auf die umseitigen Hügelzüge und in den Golf zwischen Saint-Tropez und Saint-Raphaël freigibt. Und leicht nach hinten versetzt, von Pinien und Büschen beschützt liegt dieses Haus. Clemens zeigt ein Bild. Unser Haus, sagt Elena.

Es braucht immer zwei!“

Da bin ich! Braucht es noch gesagt zu werden? Er nimmt den ganzen Raum ein, bildsprengend seine Leibesfülle, unverkennbar sein Akzent: Seine Heiligkeit, seine Eminenz, Herr General, Sir Igor Birdwhistle. Herrgott, unglaublich, wie viele Leben der sich hier andichtet. Die Läufe verlieren sich im Ungewissen, die Herkunft hat wechselnde Ursprünge.

Mit eigenen Augen habe er die Ausmerzung des Daseins gesehen im Überbleibsel einzelner Initialen, eine letzte Spur zum Abschied hinterlassen auf einer Mauer wie ein Schrei. Orgien des Hasses kennen keine Grenzen.

Igor ist überzeugt, dass seine geschwätzigen Freunde an der Bar vom eigentlichen Leben, geschweige denn vom Tod, keinen blassen Schimmer haben. Fürchterliche Naivlinge sind sie, die ständig an der Nase herumgeführt werden. Jedenfalls glauben sie nicht wie sein arabischer Freund Naim an die Unverrückbarkeit ihrer Todesstunde, sie wollen leben.

Alt und weise sagen die einen, wahrscheinlich einst im Geheimdienst die anderen, undurchschaubar bleibt Igor für alle. Er wohnt im Hotel; das ist das Einzige, was sie mit Sicherheit wissen. Hemd und Krawatte fehlen nie, das steht schon in den Memoiren von Churchill, ein rechter Mann tritt nie unrasiert zur Schlacht an. Igor gehört zur Bar, seit es sie gibt. Bar bleibt Bar, sagt Igor, stehe die nun in Antwerpen, Beirut, Biel, Darmstadt, Lille, Travemünde oder Zurabad. Er hat sie alle kommen und gehen sehen, Besitzerinnen, Pächter und Aushilfen. Frank hat er jüngst das Du angeboten.

Igor ist auch am Morgen hier anzutreffen, wenn der hintere Teil der Bar mit der Karaokebühne noch geschlossen ist, die Terrasse jedoch während der freundlichen Jahreszeiten durch die Strahlen der Morgensonne zu einem ersten Kaffee einlädt. Im Inneren ist nur das Rauschen der Maschine zu vernehmen und ab und an das muntere Hallo von Barbara, das jeder Bestellung vorangeht.

Igor liest Zeitungen. Manchmal blickt er auf, lacht und murrt rauhkehlig: Habt Ihr das gehört? Nicht selten lässt er sich zu einem ausführlicheren Kommentar zum Geschehen des Tages hinreißen. Die Gäste am Morgen – vornehmlich Ladenbesitzer, Angestellte und Beamte – nehmen es gelassen zur Kenntnis, ohne darauf einzugehen. Vielmehr nicken sie zustimmend, damit Igor schneller zu einem Ende seiner Ausführungen kommt.

Ja, Igor. Das Schrittmaß betont männlich, obwohl er leicht hinkt, so muss man ihn ankommen sehen, in seinem langen, schwarzen Mantel, den breitrandigen Hut auf dem Kopf, wenn er mit einem großen Korb frischer Pilze von einer Tageswanderung zurückkehrt. Er hat eine feine Nase und eine glückliche Hand. Stolz zeigt er auf seine reiche Ausbeute und verschenkt sie. Zur Hölle, meint Anna, von dort hat er seine Pilze her, der verdammte Lügner.

Von wegen Lügen, Igor winkt entschieden ab. Wenn jemand ein notorischer Lügner ist, dann der Erfinder der Wahrheit. Schon Gorgias hat den blauen Schwindel aufgedeckt. Schau doch selber nach, klärt er Ruth auf, jedes Mal wenn du eine Geschichte erzählst, kommt es anders heraus. Es hängt nicht nur von der Tageszeit, vom Lichteinfall oder von deiner persönlichen Gestimmtheit ab, immer richtest du dich an ein Gegenüber. Du redest den anderen nach den Augen, auch wenn du zu dir selber sprichst. Beim einen lässt du etwas weg, beim Nächsten nimmt eine Einzelheit eine ganz besondere Bedeutung an. Und wenn es erst um die Liebe und eine Erklärung geht, sind ja bekanntlich tausend und eine Nacht nicht lang genug. Meinst du etwa gesagt zu haben, wie es tatsächlich ist?

Es habe ihm nie eingeleuchtet, fasst nun Igor seine Seltsamkeiten zusammen, dass jemand überhaupt auf den Gedanken kommen könne, die Geschichte als solche für sich in Anspruch zu nehmen, denn was an unscheinbaren Besonderheiten und unbeschreiblichen Einzelfällen weggelassen werde, um aufs Ganze zu gehen, sei ja unerhört, besonders wenn einer – Feuer und Flamme – Heil und Erlösung verspreche. Er wendet sich wieder Ruth zu. Stell dir nur vor, wir würden alle auf unsere eigene Weise die Bar hier beschreiben – von wegen Wahrheit!

Es liegt an dir“...

Ja nicht zu großes Interesse bekunden, in diesem entscheidenden Augenblick. Keine Anzeichen von Neugier verraten, keine Stellung beziehen. Keine Anteilnahme vorspielen und dich auf keinen Fall um den Finger wickeln lassen. Schlicht und einfach zurücklehnen, auf Zusehen hin, die hehren Anflüge und die viel versprechenden Ansätze über dich ergehen und die andern machen lassen.

Keine Miene verziehen, die Gesichtszüge aus einem Guss, die Stirne aufgeklärt, die Augenbrauen ebenmäßig verhalten, die Nasenflügel unaufgebläht, die Mundwinkel bedeutungslos entspannt, keine Blöße, um Gottes Willen, keine Blässe, aber auch keine Röte, die den Fehlschluss eingestandener Begeisterung zuließe. Seelenruhig unauffällig in die versammelte Runde schauen und das Ganze fürs erste zur Kenntnis nehmen, ohne jeden Kommentar.

Kein voreiliges Wort jetzt. Auf jede Andeutung, Anregung oder gar Ermunterung verzichten, sonst fällt alles auf dich zurück. Das kennst du doch, in Nu wird der Beschluss gefasst, deine Freiwilligkeit an ihrem spontanen Ausdruck dankbar ertappt, und der ganze Stapel wird dir zugeschoben, mit einer eleganten Bewegung der Hand, hurtig über den Tisch, ausgerechnet dir zu. Das ist unter allen Umständen zu vermeiden. Ein etwas tieferer Atemzug, ein verdächtiges Räuspern können schon das auslösende Moment sein, von einem Lächeln ganz zu schweigen. Und du bist dran. Das Licht fällt auf dich, ein einladender Wink folgt auf der Stelle, und du hast das Nachsehen. Verdammt, selber Schuld!

Macht euren Mist doch alleine – schon zu spät! Die verwirrenden Unterlagen liegen auf deinem Tisch und rufen nach Bearbeitung. Die ganze Aufmerksamkeit ist voller Erwartungen bereits auf dich gerichtet, und Eile ist angesagt. Herzlichen Dank, ein Opfer ist gefunden. Alle Augen leuchten in der plötzlichen Vergewisserung auf, dass du die Sache an die Hand nimmst. Und jetzt schlägt der Präsident wahrscheinlich erleichtert vor, eine Runde auszugeben, Tipptopp, die Bar liegt gleich um die Ecke.

Schwamm drüber, morgen ist auch ein Tag“...

Der falsche Ton

Подняться наверх