Читать книгу 13 tolle Tage - Andra Bergan - Страница 6
Tag 1
ОглавлениеSonntag, 21. Dezember, 4. Advent
Julia ist schon früh am Morgen wach, da sie die Nacht über vor Aufregung kaum geschlafen hat. Sie freut sich auf ihre Schwester, die heute ankommen wird, so blöd sich das selbst für sie anhört.
Julias Blick wandert zum Wecker, der auf ihrem Nachttisch steht. Kurz vor 7 Uhr und definitiv zu früh, für einen Sonntag zum Ausschlafen. Sich träge im Bett räkelnd, schweift Julias Blick unweigerlich durch ihr Zimmer, das inzwischen wieder halbwegs begehbar ist. Nun ja, zumindest für sie, die ihre ganz eigene Ordnung in der Unordnung sieht. Eine mathematische Formel, wie sie es gern ausdrückt:
X am Boden plus Y auf dem Mobiliar, geteilt durch Sportlichkeit, multipliziert mit Geschicklichkeit hoch 2 ist gleich: Ein Gang durch Julias Zimmer.
Kichernd zieht Julia sich übermütig die Bettdecke über den Kopf. Mollig und warm, ganz im Gegensatz zum tief verschneiten und garantiert kalten Tag draußen. Seit Tagen... Gar nicht wahr! Seit Wochen schneit es an so einigen Tagen, weshalb der Straßendienst alle Hände voll zu tun hat. Des einen Freud, des anderen Leid. Julia verdreht unter der Decke ihre Augen. Alle träumen von weißer Weihnacht, beklagen sich dagegen ständig über den Schnee davor und danach, was in Julias Augen unlogisch ist. Sie selbst konnte der weißen Pracht schon immer viel abgewinnen, stört sich auch nie an den kalten Temperaturen und bewegt sich das ganze Jahr hindurch viel und oft an der frischen Luft.
„Es gibt kein schlechtes Wetter…“, pflegt ihr Vater des Öfteren zu sagen, da er Julias Meinung in der Hinsicht teil. Dabei hebt er stets seinen Zeigefinger in die Höhe, eine kunstvolle Sprechpause einlegend. Diese Pause hat im Laufe der Jahre ihre Berechtigung erhalten, denn jeder aus der Familie weiß, wie der Spruch weitergehen wird und beendet daher den von ihm begonnenen Satz mit den Worten: „…nur schlecht gewählte Kleidung. Wir wissen’s ja alle, Paps“. Seine Kleinweisheit wird stets lachend ergänzt und entlockt Herrn Heinrich ein breites, zufriedenes Grinsen.
Julia schlägt den oberen Teil ihrer Bettdecke schwungvoll zurück. Ein erneuter Blick auf den Wecker, der verkündet, dass seit ihrem letzten Blick auf die Uhr erst eine Viertelstunde verstrichen ist. An Schlaf ist nicht mehr zu denken, daher strampelt Julia beherzt die gesamte Bettdecke zu Boden und schwingt die Beine über den Rand ihres Futonbetts. Mit beiden Händen wuschelt sie durch ihre eh schon über Nacht zerzausten Haare. Sie wird den frühen Morgen nutzen und ihre Schwester abholen, beschließt sie spontan. Doch zuvor…
Ihren bequemen, überweiten Schlabberpulli über den Kopf ziehend, schleicht sie barfuß und leise ins Schlafzimmer ihrer Eltern im Erdgeschoss. Der kleine Punkt auf dem Wecker am Nachttisch ihres Vaters verrät, dass der Alarm eingestellt ist. Wie ein kleiner Kobold schleicht Julia auf Zehenspitzen durch das Zimmer, hin zum Nachttisch, deaktiviert den eingestellten Alarm und grinst. So weit, so gut. Ihre Eltern können heute beide ausschlafen; unverhofft, denn Julia wird in die Stadt und zum Bahnhof fahren, schließlich hat auch sie inzwischen ihren Führerschein.
Die Schlafzimmertür ihrer Eltern leise hinter sich zuziehend, begibt sie sich zurück ins Badezimmer des ersten Stocks. Eine erfrischende Dusche später, die Zähne ordentlich geschrubbt, kehrt sie zurück in ihr Zimmer, um sich anzuziehen. Ein wenig ratlos steht sie vor ihrem geöffneten Kleiderschrank, einen prüfenden Blick aus dem nahen Fenster nach draußen werfend. Schulterzuckend entscheidet sie sich für ihren weißen Lieblings-Cashmere-Pullover, dazu eine schlichte, schwarze Jeans und ein paar längere Baumwollsocken. Die Kleiderschranktüren wieder zuklappend, wirft sie nach dem Anziehen einen prüfenden Blick in den an der Schranktür angebrachten Spiegel, dreht sich selbstkritisch auf die Seiten. Ach naja, nicht gerade Modelmaße, doch mehr als passabel. Ihr zufriedener Blick verrät, dass sie mit ihrer Figur nicht unglücklich ist. Julia ist kein typisches Mädchen ihres Alters, das sich über Diäten unterhält, die neuste Mode betratscht oder sich über ihren angeblich zu ausladenden Hintern beklagt. Für sie gibt es gravierendere Dinge, über die man sich Gedanken machen kann oder sollte und das äußert sie stets offen, wenn innerhalb ihres Freundeskreises die von ihr ungeliebten Themen aufkommen, die so gar nicht ihr Interesse wecken, sie eher langweilen.
Noch einmal betritt sie das Badezimmer, legt vor dem großzügigen Spiegel über dem Waschbecken Wimperntusche und einen zarten Lippenstift auf. Auch in der Hinsicht sind die Geschwister unterschiedlich. Marlene sieht man nie ohne perfektes Make-up. Nicht im Haus und schon gar nicht außerhalb, während Julia sich auf ein Minimum an Make-up beschränkt.
Unten im Flur ihre schwarzen, kniehohen Winterstiefel anziehend, schnappt Julia sich ihre weiße Daunenjacke von der Garderobe, den Autoschlüssel ihrer Mutter vom Schlüsselhaken im Flur und zieht leise die Haustür hinter sich ins Schloss. Sie steuert den Carport neben dem Haus an, nimmt den Kleinwagen ihrer Mutter und macht sich auf den Weg, um ihre Schwester vom Bahnhof abzuholen.
Die Straßen sind bereits freigeräumt, das Wohngebiet hingegen mit einer flauschig aussehenden Schneedecke überzogen. Sonntägliche Ruhe herrscht vor, während Julia den Wagen in Richtung Stadt und zum Bahnhof lenkt.
‚Nur kein Ticket kassieren‘, ermahnt sie sich, als sie in der Kurzparkzone einen Parkplatz findet. Im Grunde genommen ist sie zu früh dran, doch das stört Julia nicht weiter. Der Bäcker am Bahnhof hat bereits geöffnet und schon beim Aussteigen und dem Abschließen des Wagens, kann Julia den köstlichen Geruch frischen Gebäcks tief in die Nase ziehen. ‚Trifft sich gut‘, denkt sie bei sich, da sie Hunger verspürt und zieht ihr Portemonnaie aus der Jackentasche. Nachdem sie das Parkticket für eine halbe Stunde gelöst und ins Auto gelegt hat, steuert sie direkt auf die Bäckerei zu.
Ein wenig stickig umschließt Julia die vorherrschende Wärme innerhalb der Bäckerei und weitaus intensiver ist hier der Geruch frischer Backwaren, lässt ihren Magen hörbar aufknurren. Sie muss nicht lange überlegen, welche der angebotenen Köstlichkeiten sie wählt. Ein Buttercroissant oder eine Brezel ist ihre immer gleiche Wahl bei frischem Gebäck. Heute wandert ein Croissant tütenlos über die Theke, wird von Julia direkt entgegengenommen, da sie es sofort vertilgen will. Die frischen Brötchen, die sie für das spätere Frühstück mit ihrer Familie mitnimmt, lässt sie einpacken. Der freundlich lächelnden Verkäuferin einen schönen Tag wünschend, verlässt Julia mampfend die Bäckerei und sucht gleich darauf das kleine Blumengeschäft im Bahnhof auf.
Wenn schon, denn schon. Es ist zwar nicht die große Liebe zwischen den Schwestern, doch ist es für Julia selbstverständlich, zur Ankunft ein paar Blumen zu kaufen. Marlene liebt Rosen, daher entscheidet Julia sich für zwei wunderschöne, rote Baccara-Rosen, die sie mit Schleierkraut und Farnblättern aufbinden lässt. In Cellophan lässt sie die Blumen nicht einschlagen, nimmt sie ohne Verpackung entgegen. Ihr Croissant mit den Zähnen haltend, bezahlt Julia die Blumen für Marlene und verlässt den kleinen Laden. Derart vorbereitet, macht Julia sich in Richtung Bahnsteig auf. Ein Blick auf die hoch angebrachte Ankunftstafel samt Uhr gibt Aufschluss darüber, wo und wann der Zug aus Salzburg einlaufen wird und dass er sogar ohne Verspätung ankommt. Noch eine Viertelstunde, die sie sich gedulden muss. Die letzten Bissen ihres Croissants vertilgend, erreicht Julia kurz darauf den richtigen Bahnsteig und läuft gemächlich auf und ab, sich auf diese Weise die Zeit bis zur Ankunft des Zuges vertreibend.
Ein lautes Pfeifen kündigt die ankommende Bahn an, die mit quietschenden Bremsen schließlich zum Stillstand kommt. ‚Mein Einsatz‘, denkt sich Julia und geht, bei der Schnauze des Zuges beginnend, langsam den Bahnsteig herab, vorbei an den einzelnen Waggons, in die sie einen kurzen Blick wirft. Am hinteren Ende des Zuges wird sie schließlich fündig, entdeckt ihre gerade aussteigende Schwester und grinst breit. Marlene! Mit wahrem Indianergeheul läuft Julia auf ihre Schwester zu und noch ehe die richtig begreifen kann was vorgeht, hängt ihr die kleine Schwester frohlockend am Hals und umarmt sie stürmisch.
„Huh… was?“, stößt Marlene verblüfft aus.
Erst nach einer Weile lässt Julia von Marlene ab, tritt einen Schritt zurück und nimmt ihre große Schwester in Augenschein.
Gut sieht Marlene auch heute aus. Das blond gelockte, schulterlange Haar trägt sie offen, hat dazu ein perfektes Make-up aufgelegt, das helle Blau ihrer Augen damit perfekt in Szene setzend. Perfekter Lippenstift, farblich passend zu ihrem perfekten Outfit abgestimmt, das von einer weitschwingenden Jacke mit perfektem, jedoch unechtem Persianerkragen perfekt vervollständigt wird. Perfekt… wie immer halt, denn nur so kennt Julia ihre Schwester.
„Schau an, mein ganz persönliches kleines Ekel von Schwester“, gibt Marlene grinsend von sich. „Und sogar mit Blumen für mich. Das ist aber lieb von dir. Sag, wie geht’s dir, wieso holst du mich ab?“
Marlene hat sich ziemlich schnell von der überfallartigen Begrüßung erholt, lächelt ihre kleine Schwester freudig an und nimmt auch die Blumen entgegen, die Julia ihr strahlend entgegenhält. Sie liebt Rosen, schätzt die kleine Aufmerksamkeit von Julia, die in ihrer Freude über das Wiedersehen mit ihrer Schwester den kleinen Rosenbund fast geknickt hätte.
„Ich habe den Wecker von Mam und Paps ausgestellt“, berichtet Julia kichernd. „Und wie es mir geht? Na jetzt, wo du da bist, geht's mir gleich viel besser, großes Ekel. Erzähl‘s ja nicht weiter“, beugt Julia sich kurzfristig ans Ohr von Marlene, „…, aber ich habe dich wirklich vermisst“, gesteht Julia flüsternd und grinst Marlene an. „Keiner, der mich angemotzt hat, niemand, der seine Musik durchs Haus dröhnen ließ und das Badezimmer war auch immer frei. War schon irgendwie langweilig, ohne dich. Aber sag, warum bist du eigentlich nach Hause gekommen? Hat es dir bei unserer geliebten Tante Etepetete etwa nicht gefallen?“
Julia quatscht Marlene ohne Punkt und Komma zu, bleibt erwartungsvoll ihr gegenüberstehen und wippt vielsagend mit ihren Augenbrauen, bei der Erwähnung der Tante. Wissend vor sich hin grinsend stehen die beiden Mädchen voreinander und tauschen sich wie alte Freundinnen aus.
„Tantchen? Oh, na sicher hätte ich es bei ihr ausgehalten, wie könnte ich auch nicht!“
Gekünstelt richtet sich Marlene zu voller Größe auf, spreizt den kleinen Finger ab und verzieht ihre Lippen zu einem angedeuteten Kussmund. Dabei piepst sie in den höchsten Tönen.
„Wollen wir vielleicht noch einen Tee miteinander nehmen? Oh Prinz, komm doch mal zu mir, mein Schätzchen“, imitiert sie übertrieben hochgestochen ihre Tante, die in Salzburg mit ihrem Königspudel „Prinz“ lebt.
Tante Mila ist wahrhaftig ein Paradebeispiel an gelebter Eleganz, übertreibt es bisweilen jedoch mächtig, was beide Mädchen nur zu gut aus eigener Erfahrung wissen. Julia prustet ihr Lachen heraus und Marlene muss zwangsläufig mit einfallen.
„Nee, also irgendwie bin ich wohl noch nicht verstaubt genug, um dieses Gehabe über die gesamte Weihnachtszeit ertragen zu können“, gibt Marlene zu und es ist an ihr, ihre Schwester herzlich in die Arme zu ziehen. „Komm her, kleines Ekel. Ist ja doch irgendwie schön, dich wieder zu haben, du Temperamentsbolzen.“
Noch einmal liegen sich die beiden Mädchen, teils lachend, teils mit glänzenden Augen in den Armen, als jemand Marlene von hinten auf die Schulter tippt.
„‘tschuldigung. Ich störe äußerst ungern, aber hat hier jemand ein Taxi gesehen und einen Gepäckträger am besten gleich mit dazu?“
Marlene löst sich aus der Umarmung mit ihrer Schwester, blickt sich um und ein bezauberndes Lächeln breitet sich auf ihrem perfekt bemalten Mund aus, ehe sie dem Störenfried in die Arme fällt, der mit einer ansehnlichen Ladung Gepäck wie aus dem Nichts hinter Marlene aufgetaucht ist. Überschwänglich küsst sie ihn mitten auf den Mund, vor Julias Augen.
„Äääh…“
Verdattert verfolgt Julia die Szene und muss aufpassen, dass ihr vor Erstaunen nicht der Mund offensteht.
„Ach Mark, dich hätte ich beinahe vergessen!“, flötet Marlene mit einem kecken Lächeln.
Sie ist ganz in ihrem Element, steht im Mittelpunkt und umfasst besitzergreifend die Hand des jungen Mannes an ihrer Seite, ehe sie sich wieder ihrer verblüfft dreinschauenden Schwester zuwendet.
„Julia, ...das ist Mark“, stellt sie den Geküssten vor und knickst übertrieben vor Begeisterung. „Wir haben uns in Salzburg kennengelernt und ich habe beschlossen, dass er über die Feiertage bei uns wohnt.“
Irritiert blickt Julia zwischen Marlene und dem jungen Mann hin und her und stößt einen ungläubigen Laut des Erstaunens aus. Da sie keine Ahnung hat, dass Marlene den Besuch bei ihrer Mutter angekündigt hat, hält sie es für eine spontane Idee ihrer manchmal ein wenig überdrehten Schwester.
Kritisch beäugt Julia die neueste Errungenschaft von Marlene, die diesmal erstaunlich guten Geschmack bewiesen hat, bei der Wahl ihres Verehrers. Er muss altersmäßig irgendwo in den 20ern angesiedelt sein und überragt Marlene um fast eine Kopflänge. Sein dunkelbraunes Haar, das fast modelmäßig gut geschnitten ist, trägt er lässig und fluffig nach hinten gestrichen. Erfrischend anders wirkt sein längerer Haarschnitt, entgegen den kurzgeschorenen Jungs, die Julia - für ihren Geschmack - mittlerweile viel zu häufig sieht und wodurch schlussendlich einer dem anderen ähnelt, als hätten sie alle gemeinsam unter der gleichen Schermaschine campiert.
Dünn ist der Typ nicht gerade, gleicht aber auch keinem Murmeltier, kurz vor dem Winterschlaf. Sie kann ihn nur als gut gekleidet bezeichnen mit seiner gepflegten, schwarzen Jeans, dem beigen Pullover mit V-Ausschnitt und dem dunklen, gerade geschnittenen Mantel, der ihm bis zur Hälfte seiner Oberschenkel reicht und ihm wirklich gut zu Gesicht steht. Sogar der Herrenduft, der von seinem Schal aus zu Julia herüberweht, ist angenehm und wirkt nicht aufdringlich. Trotz des mehr als nur passablen Gesamteindrucks, den Mark abgibt, rümpft Julia unmissverständlich die Nase und ihr Mundwerk entwickelt sofort ein Eigenleben.
„Moment… Was? Bei uns wohnt?“, reißt Julia ehrlich erstaunt die Augen auf, während Marlene begeistert nickt. „Ist ja nett, dass du einen neuen… was-auch-immer hast, aber musstest du ihn denn gleich mitbringen, wie einen verlorenen, kleinen Hund? …über Weihnachten?“
Es ist Marlene, der vor Erstaunen der Mund offenbleibt, über die offenherzige Anmerkung ihrer Schwester. Sie geht davon aus, dass ihre Mutter die Familie darüber informiert hat, dass sie über Weihnachten und Neujahr Besuch haben werden, weshalb sie ungehalten auf Julias Verhalten reagiert.
„Sag mal, geht’s dir noch gut?“
Der Typ namens Mark streckt Julia derweil höflich seine Rechte zur Begrüßung entgegen und kann sich einen Kommentar zu Julias Bemerkung nicht verkneifen.
„Grüß dich Julia, ich bin Mark. Merkwürdig! Dabei schwor mir der Friseur, dass ich nach dem Besuch bei ihm weit weniger etwas von einem Bobtail hätte. Dieser Lügner“, täuscht er Entrüstung vor, fährt sich zugleich grinsend mit der linken Hand durch sein Haar, während Julia seine dargebotene Rechte ergreift, als hätte er oder sie selbst eine ansteckende Krankheit. Mark hat wirklich gar nichts mit einem Bobtail oder Straßenstreuner gemein, sieht eher aus wie ein Model, das aus einem exklusiven Magazin entstiegen ist. Julia fragt sich dennoch ernsthaft besorgt, wie ihre Eltern Marlenes spontane Entscheidung wohl aufnehmen werden.
Marlene ist wütend und macht ihrem Ärger offen Luft. Sie fühlt sich durch Julias Worte vor Mark blamiert und schaut dementsprechend maßregelnd und arrogant auf ihre kleinere Schwester herab.
„Kannst du dich denn nicht ein einziges Mal benehmen, Julia? Es geht dich gar nichts an, wen ich wann und für wie lange mitbringe und Mama weiß davon! Es ist echt ne Schande, wie du dich aufführst…“, steigert sich Marlene in ihren Ärger hinein, „…, es gleich bei unserer Ankunft versaust und dich wie eine komplette Idiotin aufführst. Aber eigentlich sollt’s mich nicht wundern, du bist eben wie immer!“
Mark blickt irritiert von einem Mädchen zu anderen. Der plötzlich entstandene Streit zwischen den Schwestern lässt ihn peinlich berührt zu Boden schauen.
„Wow… hey, Moment mal. Mam weiß davon?“, hakt Julia entsetzt nach und lässt sich nicht anmerken, dass die öffentlich vorgebrachte Kritik von Marlene sie tief getroffen hat.
Julia ist aberwitzig, doch weder ist sie ohne Benehmen, noch dumm. Ihr ist überaus peinlich, dass sie die Situation aus Unwissenheit heraus falsch eingeschätzt hat.
„Natürlich weiß Mama davon und du hast einfach nur nicht zugehört!“
„Na das verspricht ja eine fröhliche Weihnachtszeit zu werden“, stößt Julia verzweifelt aus, als ihre Schwester sie missbilligend ansieht.
Julia greift sich den großen Reisekoffer von Marlene, der – dem Himmel sei Dank – Rollen hat, so dass Julia das schwere Ding hinter sich herziehen kann. Die mittelgroße Reisetasche hängt sie sich ächzend über die Schulter und Marlene lässt sie machen, straft Julia auf diese Weise für ihren Auftritt.
Mark, der sein Gepäck dagegen selbst trägt, bietet Julia fürsorglich Hilfe an, erntet von ihr ein verneinendes Kopfschütteln.
„Wie auch immer… Wenn die Herrschaften mir nun folgen wollen? Das Taxi steht bereit und der Träger hat alles geschultert.“
Mit ausholenden Schritten läuft Julia voran, blickt sich nicht nach den beiden um. Sollen die ihr zum Wagen folgen oder auch nicht. Sie will einfach nur nach Hause, da der Boden zu gefroren ist, um sich vor Scham in ein selbst geschaufeltes Loch zu verkriechen.
Marlene entschuldigt sich unterdessen bei Mark für das Benehmen ihrer Schwester und spricht dabei so laut, dass Julia jedes Wort mitbekommt.
„Tut mir leid, Mark. Sie ist nun mal so. Noch ein Kind, was ihr Verhalten angeht und über ihr Benehmen will ich gar nicht sprechen“, flötet sie zu Mark, ihren Arm besitzergreifend unter den seinen schiebend.
„Ach komm, Marlene, so schlimm war das doch nicht und außerdem fand ich den Spruch mit dem Hund witzig. Du hast doch gehört, dass sie nichts von mir wusste“, versucht Mark den Streit zu schlichten, spricht leise auf Marlene ein, die ihm jedoch nicht zuhört und sich längst ihre starre Meinung über Julias Benehmen gebildet hat.
Ein Ticket hat Julia nicht kassiert, auch wenn die bezahlte Parkzeit knapp überschritten ist. ‚Na wenigstens etwas‘, atmet Julia erleichtert auf und verfrachtet Marlenes gefühlt tonnenschweres Gepäck ächzend in den Kofferraum, ehe sie sich auf den Fahrersitz schwingt. Marlene und Mark setzen sich gemeinsam auf die Rückbank des Wagens. ‚Nun gut, dann wird der Chauffeur mal‘, verdreht Julia die Augen. Innerlich hatte sie gehofft, dass Marlene neben ihr sitzen und die Versöhnung suchen würde. Doch klar, die Eroberung geht – wie immer – vor. Julia schaltet zur Ablenkung das Radio ein, verspürt überhaupt keine Lust dem säuselnden Geschwätz auf den hinteren Plätzen zu folgen. Auf der Fahrt nach Hause schweigt sie beharrlich, wohingegen auf der Rückbank fröhlich geplappert wird.
Mark versucht die angespannte Stimmung im Auto zu heben, indem er von der Zeit in Salzburg erzählt. Er weiß nicht, ob Julia ihm zuhört, plaudert dennoch drauflos. Währenddessen liegt Marlene glücklich in seinem um ihre Schultern liegenden Arm und verfällt in ihr typisch mädchenhaftes Kichern, wenn er kleine Anekdoten von seinem Jurastudium und über seine Dozenten erzählt. Die Rückfahrt vergeht wie im Flug, da Julia auf den gut geräumten Straßen zügig durchkommt, was ihr mehr als recht ist.
Zuhause angekommen springt Marlene aus dem Auto und stürmt sogleich ins Haus, mit Mark im Schlepptau. Ungerührt überlässt sie es Julia, ihr Gepäck aus dem Kofferraum zu hieven und hinterher zu schleppen.
„Mama, Papa, ich bin wieder Zuhause!“, ruft Marlene lautstark durchs Haus, dass es selbst Tote erwecken könnte.
Mark hält sich derweil dezent im Hintergrund, mustert die gemütlich-moderne Einrichtung des schmucken Einfamilienhauses, das die Heinrichs bewohnen. Ein anheimelnd, zugleich modern eingerichteter Flur führt geradeaus in das groß wirkende Wohnzimmer. Mark nimmt an, dass der um die Ecke weiterführende Flur in den hinteren Bereich des Hauses führt, wo vermutlich Schlafzimmer und Bad zu finden sind. Rechts neben der Haustür führt eine sanft gewundene Treppe ins obere Stockwerk, links vom Flur geht die Küche ab, aus der die Mutter von Marlene strahlend heraustritt und ihre heimgekehrte Tochter jauchzend in die Arme schließt.
„Marlene, Kind, schön dass du wieder da bist. Wir alle haben dich ganz schrecklich vermisst. Doch sag, wie geht es dir, wie Tante Mila und wie war die Reise?“
Frau Heinrich vermittelt einen herzlichen Eindruck. Das blonde Haar trägt sie, wie Marlene, schulterlang. Ihr rundes Gesicht wird von einem gutmütigen Lächeln dominiert. Kleine Lachfältchen umspielen die wachen, graublauen Augen und lassen Frau Heinrich sympathisch wirken. Sie mag um die Eins Fünfundsechzig sein, ist ebenso groß wie Julia. Etwas rundlich um die Hüften, kann man sie dennoch nicht als füllig bezeichnen. Sie trägt Wohlfühlkleidung, ohne primitiv oder hausbacken zu wirken. Eine legere schwarze Hose, darüber ein edles Weihnachts-Shirt mit „Merry Christmas“-Aufdruck und dazu ein paar schlichte Ballerinas.
„Mama! Tante Mila will nicht so genannt werden, das weißt du doch!“, mokiert sich Marlene gespielt und wirft ihrer Mutter ein keckes Grinsen entgegen, die sich daraufhin sofort korrigiert.
„Ach Gottchen, ja stimmt“, geht sie sogleich auf die gespielte Kritik ihrer Tochter ein und schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. „Wie geht es Tante Emilia und Prinz, ihrem hochwohlgeborenen Königspudel mit Adelspapieren?“
Herr Heinrich kommt aus dem Esszimmer dazu, das von der Küche abgeht, und schließt sich der allgemeinen Wiedersehensfreude an. Mit seinen Armen vermag er sowohl seine Frau, als auch seine Tochter zugleich umarmen zu können, drückt sie so herzlich an sich, dass die beiden hörbar aufschnaufen.
„Ach ja, meine Mädchen sind alle wieder zusammen.“
Er ist größer als seine Frau, mag um die Eins Fünfundsiebzig sein und hat seine Größe ganz offensichtlich an seine Erstgeborene, Marlene, vererbt. Ein paar graue Strähnen finden sich in seinen mittelbraunen Haaren, seine grünbraunen Augen strahlen hingegen die gleiche Herzlichkeit aus, wie bei Frau Heinrich. Erst jetzt bemerkt er Mark, der noch immer neben der Haustür wartet und ihm grüßend zunickt. Frau und Tochter aus seiner bärigen Umarmung entlassend, betrachtet er den junge Mann neugierig. Frau Heinrich folgt dem Blick ihres Mannes, gibt die leicht gequetschte Marlene aus ihrer Umarmung frei und schaut gleichfalls zu Mark.
„Ach je, Sie müssen glauben in einem Irrenhaus zu sein“, folgert sie aus dem Verhalten ihrer nicht ganz so normalen Familie und wirft ihm ein entschuldigendes Lächeln zu.
„Nein, nein, schon gut“, lacht Mark auf. „Ich kann die Wiedersehensfreude nachvollziehen. Gestatten... Mark Gutborn. Aber bitte nennen Sie mich Mark. Ein wirklich schönes Heim haben Sie, Frau und Herr Heinrich“, stellt Mark sich namentlich vor und setzt ein überaus charmantes Lächeln auf, woraufhin Julia ihren Blick genervt gen Raumdecke hebt.
‚Angeber‘, denkt sie, ‚Schleimer‘, fügt sie noch hinzu, während sie sich noch immer mit dem schweren Gepäck ihrer Schwester abmüht.
Frau Heinrich zögert nicht, geht direkt auf den jungen Mann zu. Seine zur Begrüßung dargebotene Rechte negierend, zieht sie ihn stattdessen in eine mütterliche Umarmung und klopft ihm wohlwollend auf den Rücken. Rücksichtnehmend entlässt sie ihn weitaus schneller aus der Umarmung als ihre Tochter zuvor.
„Herzlichen Dank, Mark. Wir freuen uns, dass du hier bist und hoffen, dass du ein paar schöne Feiertage bei uns verlebst. Sag, möchtest du deine Eltern anrufen, eine kleine Erfrischung oder erst ablegen und auspacken?“
Herr Heinrich schaut noch immer sichtlich verwirrt drein, wusste ebenfalls nichts von dem Besuch, den Marlene aus Salzburg „importieren“ würde und wirft seiner Großen einen fragenden Blick zu, die mit einem selbstgefälligen, äußerst zufriedenen Lächeln reagiert.
„Nein danke, Frau Heinrich. Meine Eltern sind über Weihnachten mit meinem kleinen Bruder nach Florida geflogen, da ich eigentlich vorhatte, meine Semesterferien in Salzburg zu verbringen. Als mich Ihre Tochter jedoch für die Feiertage einlud, da konnte ich unmöglich ablehnen“, gibt Mark offen und ehrlich Auskunft und bringt somit die gesamte Familie Heinrich auf denselben Wissenstand, ohne es überhaupt zu ahnen.
Herr Heinrich horcht unterdessen interessiert bei dem Wort „Semesterferien“ auf, nähert sich dem jungen Mann und streckt ihm begrüßend seine Rechte entgegen.
„Was studierst du, Mark?“, erkundigt er sich prompt, ohne, dass seine Frage dem typisch väterlichen Verhör ähnelt, das er sonst immer führt.
Mark erwidert den Willkommens-Händedruck des Hausherrn und will gerade antworten, als Frau Heinrich ihm zuvorkommt.
„Günther, nun lass die Kinder erstmal richtig ankommen und auspacken. Danach kannst du Mark in Ruhe ausfragen“, bittet Frau Heinrich ihren Mann, Mark zugleich indirekt vorwarnend, was ihn erwarten wird. „Kinder, wollt ihr nicht erst einmal frühstücken? Und Julia…“, schwenkt sie herum und visiert Julia an, „…, mit dir möchte ich reden, sofort!“
Verflixt! Julia hat sich im allgemeinen Durcheinander mit den Koffern einen Weg ins Haus gebahnt und will diese gerade an der Garderobe im Flur abstellen, als sie bei den Worten ihrer Mutter alarmiert aufschaut.
„Ja, Mam?“, hakt sie vorsichtig nach.
„Wer hat heute Morgen den Radiowecker ausgestellt? Du konntest es wohl nicht erwarten, deine Schwester wiederzusehen, hm?“
„Ich, äh…“, setzt Julia an und verstummt, angesichts des wütenden Seitenblicks, den sie sich von Marlene einfängt und der selbst ihrer Mutter nicht entgeht.
Frau Heinrich folgert ihre eigenen Schlüsse aus dem Blick, erinnert sich daran, dass sie ihrer Familie nichts von dem Besuch erzählt hat. Ihre Hand landet mit einem leisen Klatschen auf der eigenen Stirn.
„Ach Gott, ich Schussel. Ich habe euch ja gar nicht erzählt, dass Marlene einen Bekannten mitbringt…“, setzt sie zu einer Erklärung an und wird von Marlene korrigiert.
„Freund, Mama. Ich habe meinen Freund mitgebracht.“
„…, der über die Feiertage bei uns bleibt. Doch im Grunde ist das ja inzwischen überholt. Mark ist hier, wir alle kennen ihn nun und daher sollten wir es uns gemütlich machen, nicht wahr?“, bringt Frau Heinrich ungerührt ihren Satz zu Ende und blickt danach erneut zu Julia, die sich noch immer mit dem Gepäck ihrer Schwester abmüht, um die sperrigen Sachen irgendwie an der Garderobe unterzubringen, ohne dass sie im Weg stehen.
„Julia“, fordert sie bestimmt, „deine Schwester kann sich selbst um ihr Gepäck kümmern. Wir frühstücken jetzt gemeinsam, ihr habt sicherlich Hunger.“
Keine Antwort abwartend, geht sie in die Küche voran und deckt den Tisch im nebenan liegenden Esszimmer neu ein, legt zusätzliche Gedecke auf. Schließlich ist der 4. Advent und da gehört ein gemeinsames Familienfrühstück dazu, wie das Grün zum Tannenbaum, die Kerze auf den Adventskranz.
Gemeinsam am reich und festlich gedeckten Frühstückstisch sitzend, mit den von Julia besorgten Brötchen, bedankt Mark sich vorab für die Einladung und erzählt, abwechselnd mit Marlene, von ihrer gemeinsamen Zeit in Salzburg und auch, wie sie sich dort kennengelernt haben.
Marlene hatte sich einen Tag lang von ihrer Tante befreit, war zur Eislaufbahn gegangen, um sich dort mit ein paar Freundinnen zu treffen. Mark war mit zwei seiner Studienkollegen ebenfalls dort. Am Stand für heiße Getränke hatte Mark sich als Gentleman erwiesen und Marlene ihre Bestellung zuerst aufgeben lassen, woraufhin sie ins Gespräch kamen und feststellten, dass sie am gleichen Wohnort leben.
Die frischen Brötchen kommen gut an, vernehmen sich rasch und waren eine gute Idee von Julia, die sich zwischenzeitlich in die Küche verdrückt, um sich noch einen Kaffee zuzubereiten. Sie fängt das vielsagende Zwinkern ihrer Mutter auf, das sie ihrem Vater zuwirft.
Frau Heinrich kann den jungen Mann schon jetzt leiden. Er hat Benehmen und wirkt dazu aufgeschlossen. Obendrein weist er ein adrettes Erscheinungsbild auf. Ihr Mann ist ähnlich beeindruckt von der Wahl seiner Erstgeborenen, unterhält sich mit Mark angeregt über dessen Jurastudium und unterlässt vorerst sein sonst übliches Verhör.
Julia hält sich aus den Gesprächen bei Tisch heraus, setzt sich mit ihrem frisch gebrühten Kaffee dazu und beobachtet. Nur mäßig hungrig kaut sie an ihrem Brötchen herum. Nach dem für sie gefühlt endlosen Frühstück hilft sie ihrer Mutter sichtlich freier durchatmend beim Abdecken des Tisches, beim Abwasch und Aufräumen. Frau Heinrich packt die Gelegenheit beim Schopf und hält Julia am Arm zurück, dreht sie sanft zu sich herum und blickt ihr forschend ins Gesicht.
„Kind, was ist denn los, hm? So schweigsam erlebe ich dich nur, wenn du krank wirst. Fühlst du dich nicht gut?“
„Nein Mam, keine Sorge, ich fühle mich nicht krank“, gesteht Julia offen und ehrlich. „Ich habe mich nur gründlich danebenbenommen, wie’s aussieht.“
Sie berichtet ihrer Mutter den Vorfall am Bahnhof, ziemlich kleinlaut, jedoch wahrheitsgemäß. Als ihre Mutter daraufhin in herzhaftes Lachen einfällt, atmet Julia erleichtert auf. Jetzt hat sie Gewissheit, dass ihre Äußerung lange nicht so schlimm war, wie Marlene es aufgefasst hat.
„Das war alles?“, hakt Frau Heinrich sicherheitshalber nach, noch immer schmunzelnd. „Ich finde es halb so schlimm. Mark schien sich doch nicht angegriffen gefühlt zu haben, oder doch? Wobei er bei mir nicht den Eindruck erweckt, dass er sich schnell auf den Schlips getreten fühlt.“
„Nein, er nahm es mit Humor“, erwidert Julia, sich zeitgleich an den Spruch mit dem Bobtail erinnernd.
„Na also, dann nimm den Kopf hoch und schau wieder fröhlich in die Welt, einverstanden? Das ist kein Grund, um sich den Tag verderben zu lassen, Kind.“
„Mam, du bist die Beste!“
Erleichtert umarmt Julia ihre Mutter, die immer noch schmunzelt.
„…wie ein kleiner verlorener Hund…“, wiederholt Frau Heinrich kichernd, „..., das war wirklich gut.“
Mutter und Tochter kichern gemeinsam und Julia fällt ein Stein vom Herzen. Einmal mehr wird ihr klar, weshalb sie ihre Eltern von Herzen liebt. Stets bringen sie Verständnis für ihre Kinder auf, stehen ihnen jederzeit hilfreich zur Seite. Daher trifft Frau Heinrich ein liebevoller Kuss, bevor die beiden sich nach getaner Arbeit in der Küche gleichfalls ins Wohnzimmer begeben, wo sich der Rest der Familie samt Mark aufhält.
„So Kinder, was wollt ihr denn heute unternehmen?“, fragt Frau Heinrich mitten im Wohnzimmer, auf dem flauschigen Chinateppich stehend.
In dem modernen Kamin flackert ein munteres Feuer, auf das Herr Heinrich gerade einen Holzscheit nachlegt. Marlene und Mark haben es sich händchenhaltend auf der weißen Ledercouch gemütlich gemacht, ihre Kaffeebecher vom Frühstück mitgenommen und auf dem gläsernen Wohnzimmertisch mit dem hübschen, länglichen Adventsgesteck abgestellt. Herr Heinrich schaut gleichfalls fragend auf, nachdem er die Tür vom Kaminofen geschlossen hat und sich wieder den Anwesenden zuwendet.
„Naja“, gibt Marlene als Erste Antwort, „ich bin echt müde von der Reise, konnte letzte Nacht nicht schlafen und würde mich gerne ein wenig frisch machen und dann hinlegen. Was ist mit dir, Mark?“
Frau Heinrich wirbelt dazwischen da ihr einfällt, dass sie ihrem Gast noch nicht sein Zimmer gezeigt hat, das er für die Zeit seines Aufenthalts bei den Heinrichs bewohnen wird.
„Wenn du dich ebenfalls hinlegen möchtest, Mark…“, bietet Frau Heinrich an, „…ich habe unser Gästezimmer für dich vorbereitet.“
„Das ist sehr lieb von Ihnen, Frau Heinrich, doch ich bin nicht müde, vielen Dank. Ich denke, ich werde einen kleinen Winterspaziergang machen, die Frische genießen, nach der stickigen Luft im Zug. Möchten Sie mich vielleicht begleiten?“
„Oh nein, im Haus wartet noch jede Menge Arbeit auf meinen Mann und mich. Günther, wärst du so lieb und bringst uns bitte noch ein wenig Kaminholz rein. Ich würde es uns heute Abend gern so richtig gemütlich machen.“
„Aber Frau Heinrich, das kann ich doch erledigen“, bietet Mark sogleich seine Hilfe an und ist schon halb vom Sofa auf, als Frau Heinrich dankend abwinkt.
„Nein Mark, du bist unser Gast und machst einen schönen, ausgiebigen Spaziergang. Ganz so, wie du es geplant hast. Julia, willst du Mark nicht begleiten? Ein bisschen frische Luft würde dir guttun. Du wirkst ein wenig blass um die Nase.“
Innerlich verdreht Julia die Augen. Das ist so typisch ihre Mutter, die Mama Theresa der Heinrichs. Stets ein versöhnliches Lächeln auf dem Gesicht und Frieden stiftend, wann immer sie es für angebracht hält. Im Grunde genommen wäre dies zwar ein guter Anlass, um sich bei Mark zu entschuldigen, jedoch möchte Julia den Zeitpunkt dafür selbst wählen. ‚Ausrede, wo bist du‘, befragt Julia sich verzweifelt, bis ihr das zuvor von ihrer Mutter Erwähnte wieder einfällt und ihr eine angebrachte, durchaus nachvollziehbare Ausrede liefert.
„Nein Mam, ich bleibe natürlich hier und helfe dir bei der Arbeit“, bietet sie mit einem liebevollen Lächeln zu ihrer Mutter hin an.
Als hätte die einen Riecher für erfundene Ausreden, blickt Frau Heinrich ihre Jüngste mit ihrem typischen ‚netter Versuch-Blick‘ an.
„Du gehst mit, Punktum“, beschließt Frau Heinrich und, schon einmal dabei Entscheidungen zu treffen, fährt sie munter damit fort. „Du Marlene, hüpf unter die Dusche und leg dich danach ein Weilchen hin, wenn du Schlaf nachholen willst. Du Günther, beschaffst noch ein wenig Feuerholz für später und ich…“, überlegt sie eine Weile, „…werde noch rasch die Wäsche bügeln und mir danach in Ruhe einen Kaffee nehmen und ein Päuschen gönnen. Nachher treffen wir uns dann alle wieder oder unternehmen gemeinsam etwas.”
Man merkt und sieht, dass Frau Heinrich Talent im Organisieren und mit der Verteilung von Aufgaben hat, seit Jahren damit vertraut ist. Ihre für sich angekündigte kleine Pause wird von allen wohlwollend und lächelnd zur Kenntnis genommen, was auch kein Wunder ist. Seit Jahren hat sie Haushalt, Kinder, Garten und Mann im Griff, sorgt jeden Tag für einen geregelten Ablauf im Haus, wie ihr Mann außerhalb ihres Heims. Nie klagt sie, hat immer ein aufmunterndes Wort oder einen guten Rat zur Hand und dabei liegt stets ein Lächeln auf ihrem gutmütigen Gesicht. Und ihre Familie? Die dankt es ihr mit aufrichtiger Liebe.
„Danke Mama“, gibt Marlene von sich und gähnt zur Bestätigung.
Wunder über Wunder, schafft sie es sogar, die Hand von Mark loszulassen und sich vom Sofa zu erheben, wie Julia bemerkt. Ein kühler Blick geht zu ihrer Schwester hin, die Marlene beobachtet.
„Julia, du kannst dich wirklich nützlich machen, gerade nach deinem Auftritt am Bahnhof. Schließlich ist Mark über Weihnachten und Neujahr unser Gast. Also stell dich nicht so an. Dir wird schon kein Zacken aus der Krone brechen, wenn du mit ihm ein paar Schritte gehst“, nörgelt sie an Julia herum und fängt sich dafür einen maßregelnden Blick ihrer Mutter ein, der Marlene zum Verstummen bringt.
Frau Heinrich wird Marlene nicht vor allen anderen zur Rede stellen. Sie weiß auf ihre Art, Verbalattacken zwischen den Geschwistern mit einem Blick im Keim zu ersticken.
„Wie... ich denke nur über Weihnachten?“, fragt Julia nach und kann nicht verhindern, dass ihr diesmal wirklich vor Verwunderung die Kinnlade runterklappt.
„Nein, der Hund bellt auch zu Neujahr, Julia, sofern deine Eltern nichts dagegen haben“, wirft Mark grinsend ein und erntet ein heiteres Auflachen ihrer Mutter, während Julia die Röte ins Gesicht schießt.
Musste er sie ernsthaft schon wieder mit ihrer Bemerkung vom Bahnhof konfrontieren? Gerade hatte sie von den peinlichen Geschehnissen Abstand gewonnen. Nur mit Mühe kann sie sich die Frage verkneifen, ob er denn wenigstens stubenrein ist, und beißt sich auf die Unterlippe, um den Mund zu halten. Herr Heinrich weiß nicht, worauf sich Marks Bemerkung bezieht, schweigt jedoch. Stattdessen geht er auf seine Frau zu, nimmt sie liebevoll in den Arm und nickt Julia aufmunternd zu.
„Na, mein Mädchen“, merkt er zu Julia gewandt an, „Du bist doch gerne draußen, bei fast jedem Wetter und ich denke, frische Luft tut jedem gut. Es gibt schließlich kein schlechtes Wetter…“
Sein Zeigefinger schießt in die Höhe und die Reaktion lässt nicht lange auf sich warten.
„…nur schlecht gewählte Kleidung“, antwortet das Trio, bestehend aus Frau Heinrich, Marlene und Julia.
Herr Heinrich versteht es, mit seinem zufriedenen Grinsen auch den Rest der Familie zum Lachen zu verleiten. Frau Heinrich gibt ihrem Mann einen liebevollen Kuss, Marlene macht sich auf den Weg ins Obergeschoss, um ihrem Plan zu folgen, Julia schüttelt grinsend den Kopf über ihren Vater und Mark… hat den Vorgang mit hochgezogenen Augenbrauen verfolgt und kann sich ein Lachen kaum verkneifen.
Er mag die Familie, die er heute kennengelernt hat. Die Eltern von Marlene sind wahrlich herzliche Menschen und haben ihren ganz eigenen Charme und die Schwestern… Nun ja, dass es zwischen den Geschwistern Reibereien gibt, hat er bereits am Bahnhof erfahren. Er kennt ähnliche, eigentlich überflüssige Streitereien aus dem Zusammenleben mit seinem Bruder heraus und erinnert sich daran, dass es zwischen ihnen ebenfalls teils heftig zuging, als sie beide noch jünger waren. Mittlerweile hat sich das gegeben, jedoch aus dem Grund, dass Mark inzwischen in Salzburg studiert und nicht mehr zuhause wohnt. Noch heute ist sein kleiner Bruder ihm dankbar, dass er nun das größere Zimmer im Elternhaus bewohnt, dazu sogar die teure Stereoanlage „vererbt“ bekommen hat. Marks Blick geht zu den beiden Heinrichs, die noch immer beieinanderstehen und vertraut miteinander flüstern. Mark freut sich auf die Zeit, die er mit dieser Familie verbringen darf. Er liebt die Weihnachtszeit und war enttäuscht, dass seine Familie die Festtage in Florida verbringt. Die Einladung Marlenes hat ihn dieses Jahr einem anderen Familienschoß zugeführt, wofür Mark dankbar ist. Und die kleine Kratzbürste, geht sein Blick weiter zu Julia, die wird er sich mal genauer ansehen. Er verkneift sich ein Grinsen, denn er hat sehr wohl mitbekommen, dass der kleinen Schwester Marlenes ein bissiger Kommentar für ihn auf den Lippen lag. Auf unerklärliche Weise ist er neugierig, wie der ausgefallen wäre und nimmt er sich vor, es aus ihr heraus zu kitzeln.
Julia begegnet seinem Blick, kraust ihre Nase zu ihm hin und entschwindet wortlos aus dem Wohnzimmer. Herr Heinrich spaziert durch die Terrassentür hinaus in den verschneiten Garten, der im Sommer sicherlich ein Traum ist, was man selbst jetzt, mit der dichten Schneedecke darüber, erahnen kann.
Frau Heinrich geht auf Mark zu, der sich inzwischen gleichfalls vom Ledersofa erhoben hat und breitet einladend ihren Arm aus, um ihn mit sich zu nehmen.
„Nun Mark, Julia wird sich wohl fertigmachen und wir beide nutzen derweil die Zeit, dass ich dir dein Zimmer zeige, hm?“, lädt sie ihn ein und schenkt ihm ein herzliches Lächeln.
Mark erwidert das Lächeln und folgt der Hausherrin nur allzu gern und auch neugierig. Die führt ihn in den ersten Stock, zum Zimmer am Ende des L-förmigen Flurs und öffnet die Tür. Mark staunt. Das Zimmer ist gemütlich eingerichtet, duftet frisch und ein weihnachtlich bezogenes Bett fordert ihn geradezu heraus, sich darauf auszustrecken.
„Frau Heinrich, das ist ein wirklich sehr schönes Zimmer und ich danke Ihnen und Ihrem Mann nochmals recht herzlich für die ausgesprochene Einladung. Seien Sie so gut und sagen mir offen, wenn ich Ihnen in irgendeiner Weise während der Feiertage unter die Arme greifen kann.“
Ein Laut des Entzückens geht über die Lippen von Frau Heinrich und aus mütterlichen Impuls heraus, zieht sie Mark in eine kurze, zugleich herzliche Umarmung.
„Schon gut, mein Junge. Dein Angebot ist sehr lieb gemeint und wenn’s wirklich deftig kommt, werde ich vielleicht, unter Umständen, auf gar keinen Fall darauf zurückkommen“, geht sie schmunzelnd auf seine Worte ein und tätschelt seinen Oberarm.
Frau Heinrich will sich ihrer angekündigten Arbeit widmen und danach eine kleine Auszeit vom Alltag nehmen, weshalb sie kehrt macht, Mark in Ruhe sein Zimmer erkunden lässt und sich auf den Weg zurück ins Erdgeschoss begibt. Grinsend bleibt Mark in der offenen Tür zum Gästezimmer stehen. Diese Frau ist sensationell, in mehrfacher Hinsicht. Mark zieht sich in das ihm überlassene Zimmer zurück, nimmt sich die Zeit, sich genauer anzusehen, wo er für die nächsten Tage zuhause sein wird.
Im Grunde genommen ist das Gästezimmer schlicht eingerichtet, das Mobiliar jedoch großartig ausgesucht. Der rechteckige Raum wurde zweifarbig in Weiß und Anthrazit gehalten. Gleich vor ihm befindet sich ein modernes, breites Bett mit Lederkopf- und Fußteil. Neben dem Bett stehen rechts und links Glastische mit modernen Edelstahllampen darauf. Ein geräumiger, weißer Schwebetüren-Kleiderschrank, der sich zu seiner Rechten befindet, mit großen Spiegeln. Linkerhand befindet sich unter dem breiten Fenster eine schwarze Zweisitzer-Ledercouch mit Bruchglastisch davor. Ein leuchtend roter Weihnachtsstern ziert den Tisch, ebenso eine kleine Schale, gefüllt mit Weihnachtsgebäck von dem Mark ausgeht, dass Frau Heinrich es gebacken hat. Eine weiße Hochglanzkommode an der kürzeren Wand, mit einer kleinen Musikanlage darauf, vervollständigt das Zimmer und ein Hochflorteppich in Anthrazit verleiht dem Raum Gemütlichkeit. Auch mit weihnachtlicher Dekoration wurde nicht gespart. Auf dem Fensterbrett steht eine Weihnachtspyramide aus hellem Holz und mit warmweißen Licht, daneben wurde eine längliche Schale aufgestellt, die, sicherlich von der Familie selbst, mit Moos, Tannenzapfen und -zweigen dekoriert wurde. Eine Duftkerze auf dem kleinen Beistelltisch, neben der Sitzgarnitur und eine weiße Weihnachtsdecke auf dem Couchtisch, die mit goldenen Sternen bestickt ist. Nicht zu viel, nicht zu wenig Dekoration. Weihnachtlich, ohne überladen oder kitschig zu wirken. ‚Ja, so lässt es sich aushalten, würde auch ich mich einrichten‘, resümiert Mark anerkennend und macht sich gleich daran, seinen Koffer auszupacken, der auf wundersame Weise in das Zimmer gelangt ist.
Ihr schmeckt es nicht, gefällt nicht, dass sie Anstandswauwau spielen soll für einen Gast, den sie irgendwie nicht wirklich kennt und bei dem sie gleich zu Beginn ins Fettnäpfchen gehüpft ist. Das dementsprechend missgestimmt geworfene Kissen landet auf ihrem ungemachten Bett, während Julia überlegt, wie sie sich davor drücken kann, mit Mark einen Spaziergang unternehmen zu müssen. Kopfschmerzen? Zu banal. Fuß verstaucht? Zu hinderlich für längere Zeit und zudem besteht immer die Gefahr, dass man zwischendurch auf dem falschen Fuß humpelt, was richtig peinlich wird. Übelkeit! Nee, sie ist schließlich nicht schwanger. Seufzend geht sie die Möglichkeiten durch, doch keine will ihr so recht in den Kram passen.
„Och menno!“, flucht sie auf und bearbeitet ihr Bettzeug heftiger als üblich. Unterbewusst weiß sie, dass ihr Unwillen einzig auf dem für sie peinlichen Missverständnis am Bahnhof beruht, gesteht es sich allerdings nicht ein. Das Kopfkissen bietet sich geradezu an, mit den Fäusten aufgeschüttelt zu werden und daher dauert es länger, bis ihr Bett endlich gemacht ist. Julia geht zu ihrer geschlossenen Zimmertür, hält lauschend ihr Ohr dagegen. Ruhe. ‚Hmm, vielleicht hat er sich ja doch hingelegt‘, überlegt Julia und öffnet lautlos ihre Zimmertür einen Spalt breit. Den Kopf durch den Türspalt schiebend, reckt sie ihn vor und versucht einen Blick auf das weiter hinten liegende Gästezimmer zu erhaschen, als sie auf Widerstand stößt.
„Autsch!“
So schnell kann sie gar nicht reagieren, wie ihr Kopf gegen Marks Magen prallt, der just in diesem Moment über den Flur spaziert und mit Julia zusammenstößt. Er stolpert einen Schritt zurück, wendet sich dann jedoch besorgt an Julia.
„Hey, tut mir leid. Ich hatte nicht mit dir gerechnet“, entschuldigt er sich und mustert Julia mit ernstem Gesichtsausdruck. „Hast du dir wehgetan?“
‚Okay, schlimmer geht’s echt immer‘, schießt es Julia durch den Kopf, während sie sich verhalten die Stirn reibt. ‚Fettnäpfchen, wo bist du, damit ich geradewegs in dir landen kann‘ zieht sie sich selbst auf, bevor sie Marks Frage beantwortet.
„Nein“, gibt sie peinlich berührt von sich und tritt auf normale Weise aus ihrem Zimmer heraus, aufgerichtet und ohne Versteckspiel. „Alles gut und solange du keine Stahlplatte vor dir herträgst, gibt’s noch nicht mal ne Beule.“
Mark fängt an zu grinsen, reißt Julia mit. Ihr Fettnäpfchen hätte schlimmer, mit brodelndem Öl befüllt sein können, denn wenigstens hinterfragt er nicht ihr merkwürdiges Heraustreten aus ihrem Zimmer.
„Versteckst du dich vor jemandem? Vor dem schwarzen Mann?“
Mark versaut’s in diesem Moment, schaut übertrieben auffällig den Flur herauf und herab, als suche er nach jenem Wesen und entlockt Julia dadurch ein Schnauben.
„Nein, ich wollte an dir vorbeischleichen, ist doch offensichtlich!“, bombardiert sie ihn mit der schonungslosen Wahrheit und schürzt die Lippen.
„Na dann bin ich ja beruhigt. Ich hatte schon die Befürchtung, dass in diesem Haus ein Kobold oder Schlimmeres lebt“, kontert er und legt seine Hand theatralisch auf sein Herz, als hätte er panische Angst.
Sie kann nicht anders, muss auflachen. Er versaut’s schon wieder, indem er sie zum Lachen bringt. Kopfschüttelnd legt sie ihren Finger über ihre Lippen und deutet ihm an leise zu sein, wegen Marlene, deren Zimmer gleich neben Julias liegt. Mit dem Kinn deutet sie zur Treppe, dass sie runtergehen sollten. Er jedoch schüttelt vehement den Kopf, zieht fragend die Schultern hoch. Wiederholt nickt sie mit ihrem Kopf in Richtung Treppe, doch er schüttelt erneut den Kopf, deutlich heftiger als zuvor. Wortlos stehen sie sich gegenüber, verständigen sich einzig durch Körpersprache. Mark hält seine Hand über seinen Kopf, lässt seine Finger darüber spielen und erreicht bei Julia… ein verständnisloses Blinzeln. Was zum Henker will er denn? Ihr Kopf geht in seine Richtung, während sie fragend die Schultern hebt. Dieses Spielchen würde weitaus länger dauern, wenn Mark sich nicht erklärend an ihr Ohr vorbeugen würde.
„Kannst du mir vielleicht kurz zeigen, wo das Badezimmer ist?“, bittet er flüsternd.
Julia muss sich auf die Unterlippe beißen, damit ihr das prustende Lachen nicht entkommt, das sich unbedingt Luft verschaffen will. Ihre Hand vor den Mund legend, nickt sie und bedeutet Mark, dass er ihr folgen soll. Er hatte bereits vermutet, dass es die Tür ist, die sich mittig zwischen seinem Zimmer und der Flurbiegung, gegenüber von Julias Zimmer befindet. Um jedoch nirgendwo unangemeldet reinzuschneien, hat er den Versuch unterlassen, auf eigene Faust auf Erkundungstour im Haus der Heinrichs zu gehen. Julia folgend, muss auch er sich zusammenreißen, um nicht herauszulachen, da die Situation wirklich urkomisch war. Dankend neigt er seinen Kopf zu Julia herab, die Klinke der Badezimmertür bereits in der Hand. Nah an ihrem Ohr flüstert er ihr ein „Danke“ zu und entschwindet im Bad.
Fassungslos grinsend verharrt Julia vor der verschlossenen Tür. ‚Gott nein, bloß nicht seine Benutzung des WCs mithören‘, ermahnt sie sich und hastet auf leisen Sohlen die Treppe hinab ins Erdgeschoss. Ein rascher Blick ins Wohnzimmer, wo ihre Mutter sich die angekündigte Pause gönnt und die Beine hochgelegt hat. Da sie ihre Augen geschlossen hat, vermutet Julia, dass sie ein Nickerchen macht. Ein überlegender Blick zur Küche, ob noch Zeit für einen schnellen Kaffee ist, als Schritte von der Treppe zu vernehmen sind. Sich umdrehend, blickt sie direkt zu Mark, der mit seinen Augenbrauen wippt und bedeutungsvoll gen Haustür nickt.
„Echt jetzt?“, hakt Julia flüsternd nach. „Ich dachte, du hättest es dir überlegt!“
Striktes Kopfschütteln, als Mark bereits die letzte Stufe genommen hat und neben ihr im Flur steht. Auch sein Blick geht um die Ecke, nimmt Frau Heinrich ruhend im ausladenden Ledersessel wahr.
„Komm schon, Eisprinzessin“, flüstert Mark, „Oder hast du Angst, dass dir draußen deine bissigen Kommentare einfrieren?“, provoziert er grinsend.
Hagrrr. Das hat gesessen. Julias Nasenflügel erbeben, ehe sie ihr Kinn reckt und unverzüglich in ihre Stiefel schlüpft, die gleich neben der Haustür auf der dafür vorgesehenen Matte stehen, ohne ihren Blick dabei von Mark zu nehmen.
Der grinst immer noch zu ihr, hält dem rebellischen Blick stand, den sie ihm zuwirft und bewegt sich leise zur Garderobe hin. Er nimmt sowohl seinen Mantel, als auch Julias Daunenjacke von den Haken. Sie hat ihre Stiefel inzwischen an, weshalb er ihr die Jacke reicht, in seinen Mantel schlüpft und ganz nebenbei auch in seine Schuhe, die gleichfalls am Eingang abgestellt sind. Unweigerlich wandert Julias Blick zu seinen Füßen. Fast hofft sie, betet, dass er Löcher in den Socken haben möge, doch nein, natürlich hat Mister Perfekt lochfreie Socken an, die dazu auch noch sauber sind. Julia öffnet bereits leise die Haustür, als Mark sich seinen Schal um den Hals legt. ‚Hey, Moment mal! Wo bitte hat er denn auf einmal den Schal her‘, fragt sich Julia und Mark scheint die Überlegung in ihrem Gesicht ablesen zu können. Erneut beugt er sich vor und flüstert zu ihr.
„Jacken- und Mantelärmel sind wunderbare Schalhalter, wusstest du das nicht?“
Sie schaut zu ihm auf, sagt jedoch nichts. Niemals wird sie ihm gegenüber zugeben, dass sie noch nie zuvor davon gehört hat, weshalb sie ihm nur einen lapidaren Blick schenkt und zeitgleich durch die von ihm offen gehaltene Haustür hinausschlüpft.
Die klare, kalte Luft tut ihr gut, weshalb sie ein paarmal tief ein- und ausatmet. Mark ist gleich hinter ihr, das hört sie, als er leise die Haustür ins Schloss zieht. Unweigerlich blickt sie zurück zu ihm, auf seine Hände, ob er vielleicht sogar Handschuhe in seinem Mantel versteckt hatte. Augenrollend geht ihr Blick von ihm weg und voran, auf die vor ihr liegende Einfahrt ihres Elternhauses. ‚War doch klar‘, neckt sie ihr inneres Teufelchen und gibt ein hämisches Lachen von sich. ‚Halt den Mund und lass das arme Mädchen in Ruhe‘, wird Julia vom kleinen Engelchen in sich verteidigt.
Natürlich hat Mark auch Handschuhe an. Gepflegte, recht neu aussehende Wildlederhandschuhe, die perfekt an seinen perfekten Händen sitzen. Schon ist er neben ihr, zupft noch ein wenig am Kragen seines Mantels und an seinen Handschuhen, auf die ihr Blick zwangsläufig zurückwandert.
„Manteltaschen“, erklärt er unaufgefordert und entlockt ihr damit ein gereiztes Stöhnen, das ihn wiederum zum Lachen verführt.
„Und die Kopfbedeckung verwahrst du wo?“, hinterfragt Julia und hält sogleich eine mögliche Verwahrung in petto, „Im Mantelfutter?“
Er grinst sie an, verneint kopfschüttelnd ihre Vermutung.
„Willst du nochmal raten oder gleich die Auflösung?“
„Ich… wähle die zweite Option. Also?“, fordert Julia Mark auf und macht sich zeitgleich mit ihm auf den Weg.
Julia führt Mark die Anwohnerstraße entlang, an deren Ende ein kleiner Wanderweg abgeht. Sie weiß, dass der Weg regelmäßig geräumt wird und zudem mit dicken Kieseln versehen ist, auf denen man nur ausrutschen kann, wenn man zwei linke Füße hat. Keinesfalls will sie riskieren, sich heute noch mehr zu blamieren und vor ihm wegzuschliddern, oder der Länge nach im Schnee zu landen, weshalb sie auf Nummer Sicher geht. Mark spaziert gemütlich neben Julia her, zuckt vorab mit den Schultern.
„Ich löse nur auf, wenn du mir im Gegenzug verrätst, was du mir vorhin im Wohnzimmer eigentlich an den Kopf werfen wolltest.“
Julia stutzt, denkt nach und kommt doch nicht drauf, wovon er redet. Mark hilft aus, nicht uneigennützig.
„Der Hund bellt auch zu Neujahr?“, hilft er ihr auf die Sprünge und bewirkt ein erneutes Erröten bei Julia, die sich nun sehr wohl erinnert.
„Die Frage hat sich geklärt, weil du das Badezimmer benutzt“, gibt sie ausweichend zur Antwort und kratzt sich verlegen am Kopf.
Mark lacht auf, da er sich denken kann, wie ihre Frotzelei in etwa gelautet hätte und hält im Gegenzug sein Versprechen.
„Also gut, dann löse ich auf, dass ich gar keine Kopfbedeckung dabeihabe.“
Julia wirkt enttäuscht, als hätte sie das Lüften eines weiteren Geheimverstecks erhofft. Marks Blick geht derweil prüfend über sie hinweg, legt sich auf die angeknöpfte Kapuze an ihrer Daunenjacke.
„…doch wenn’s dicke kommt, dann kann ich mir ja kurzfristig deine Kapuze ausleihen und dir dafür einen meiner Handschuhe anbieten. Als vorübergehendes Tauschgeschäft quasi“, witzelt er und sorgt dafür, dass Julias Hände zu ihrer Kapuze hingehen, als müsse sie die um jeden Preis verteidigen.
„Keinesfalls!“, begehrt sie auf und zieht sich das Kopfteil ihrer Jacke bestimmt über den Kopf. „Behalte du deinen Handschuh und ich sehe gelassen dabei zu, wie dein perfekt gestyltes Haar klitschnass wird.“
Hah! Die Kapuze wirkt, ganz nebenbei, als hervorragender Sichtschutz gegen die Seiten, gegen Mark. Julia grinst vor sich hin, während sie den Gehweg verlassen und den Wanderweg betreten.
„So, du findest mein Haar also perfekt gestylt, ja?“, neckt Mark sie ungeniert weiter und atmet hörbar tief ein.
Julia erwidert nichts darauf. Eine Bewegung neben sich spürend, kann sie sich nur allzu gut vorstellen, dass er sich mit der Hand durch sein Haar fährt, wie schon am Bahnhof und kann nicht anders… Sich seitlich wegbückend, ergreift sie eine Handvoll Schnee und dreht sich zu ihm herum. Ohne groß zu zielen, schnellt ihre Hand samt darin befindlichen Inhalt vor. Der unsauber geformte Schneeball fegt weit über seinen Kopf hinweg, streift Mark nicht mal ansatzweise. Die Bewegung, die sie neben sich gespürt hat, hat ihn einzig in die Knie gezwungen, um die Enden seiner Hosenbeine in seine Stiefel zu stopfen. ‚Das kann doch nicht wahr sein‘, stöhnt Julia innerlich auf und fängt sich einen erstaunten Blick von Mark ein, der von Julia zum Landepunkt des Schneeballs wechselt.
„Sag mal… Hast du etwa gerade einen Schneeball nach mir geworfen?“, fragt er daraufhin so bitterernst, dass es Julia für einen Moment die Sprache verschlägt.
Er kann nicht ernsthaft sauer oder beleidigt sein, nur weil sie eine kleine… eine Miniportion Schnee nach ihm geworfen hat. Oder etwa doch? Er richtet sich auf und versieht Julia mit einem Blick aus deutlich verengten Augen. Die hebt abwehrend die Hände und ein unsicheres Lächeln huscht über ihre Lippen.
„Hey… Ähm… hör mal, das war… Also es ist nicht, wonach es aussieht“, gibt sie verlegen von sich und räuspert sich. „Wirklich mal, das… war nicht böse gemeint, ehrlich.“
Er baut sich direkt vor ihr auf, schaut von oben auf sie herab und behält dabei seinen strafenden Blick bei. Allmählich wird Julia schwummrig im Magen. ‚Ich hab’s ja gesagt: Fettnäpfchen für Fettnäpfchen‘, meldet sich das kleine Teufelchen vorlaut zu Wort und bricht danach in hämisches Lachen aus. Jetzt verschlägt es sogar dem Engelchen die Sprache, das sich einzig gegen die Stirn patscht.
„War doch nur Spaß“, löst Mark schließlich die angespannte Stimmung auf, wie ein Dschinn, der in einer Rauchwolke verschwindet und stößt mit seinem Ellenbogen leicht gegen Julias Arm.
Das Grinsen eines Siegers tritt zeitgleich auf seine Lippen. Es macht ihm Spaß, sie für einen Moment verunsichert zu haben.
„Na komm, lass uns weitergehen.“
Engelchen und Teufelchen holen sich Popcorn, grinsen gemeinsam und Julia würde ihrem Unmut zu gern Luft machen. Mark macht sie wahnsinnig, weshalb sie am liebsten von hinten auf seinen Rücken springen und ihn ganzheitlich in den Tiefschnee tauchen würde. Julia steht unschlüssig mitten auf dem Weg, als Mark ihr ein „…oder muss ich dich jetzt schon tragen“ zuruft, ohne sich dabei umzuwenden. ‚Wenn du wüsstest, wie nahe du damit an meinen Gedanken bist‘, grinst Julia und stapft ihm hinterher.
„Du bist ne gute Fahrerin, für dein Alter.“
Höh? Julias Kinn ruckt hoch, bei dem unvermutet erhaltenen Lob. Versucht er sich etwa lieb Kind zu machen oder nimmt er sie auf den Arm.
„Hm. Vorteil eines L-Führerscheins?“, gibt sie zögerlich zur Antwort.
„Deine Mutter, nehme ich an?“
Julia blickt zur Seite, direkt in ihre Kapuze. Verdammtes Ding. Hastig zieht sie sich das Kleidungsteil vom Kopf und startet einen erneuten Versuch, blickt zur Seite und diesmal wirklich zu Mark, der ihr Vorgehen natürlich mitbekommen hat und grinst.
„Meine Mutter… was?“, hakt sie nach.
Mark amüsiert sich prächtig. Die Kleine ist irgendwie witzig und verleitet ihn immer wieder zum Lachen. Seine jetzige Frage ist hingegen ernst gemeint, ebenso wie sein ausgesprochenes Lob über ihre bewiesenen Fahrkünste.
„Deine Mutter hat dich die 3000 km lang begleitet, nehme ich an?“, erklärt er den Zusammenhang und bekommt dafür ein Nicken.
„Ach das meinst du! Ja, sie hat mit mir die Kilometer abgerissen und das nicht nur über die Autobahn, wie andere Eltern das teilweise machen. Mit mir ist sie Stadt, Land, Überland und in die Berge gefahren, damit ich wirklich alles lerne und nie vor einer unlösbaren Fahrsituation stehe.“
Verstehend nickt Mark. Etwas in der Art hatte er bereits vermutet. Die kurze Zeit, die er Frau Heinrich kennt, ist er bereits zu der Auffassung gelangt, dass sie eine hingebungsvolle Mutter und eine noch bessere Freundin für ihre Mädchen ist.
„Und du? Du hast doch sicherlich auch schon den Führerschein, oder nicht?“, hakt Julia ihrerseits nach und versucht gleichzeitig das Alter von Mark zu schätzen. Auf jeden Fall über 20 und unter 30, das ganz sicher. Mark nickt derweil, richtet seinen Blick geradeaus.
„Ja, ich habe meinen Führerschein schon ein paar Jahre, hab mir sogar ein Auto während der Semesterferien erarbeitet. Ein kleines, aber fahrtaugliches.“
„Naja, ich sag immer ‚solang es vier Räder und einen Motor hat, kann’s nicht so schlimm sein‘. Hat vor allem nen Wert, wenn man sich selbst was erarbeitet.“
Mark nickt lachend und blickt wieder zu Julia, während sie gemütlich weiterschlendern.
„Ich hatte früher ein Motorrad, bin leidenschaftlich gern damit gefahren“, gesteht Mark und klingt ein wenig wehmütig.
„Was ist passiert?“, hakt Julia nach, die eine Geschichte hinter der Anmerkung vermutet.
Eine Weile schweigt Mark, stapfen sie beide wortlos durch den Schnee, bis er ihr schließlich doch antwortet.
„Ich habe meine Maschine geliebt, doch in einer brenzligen Situation falsch reagiert. Auf einer Landstraße habe ich den Lenker in einer Kurve verrissen und bin mitsamt der Maschine weggerutscht.“
Deutlich hörbar zieht Julia die Luft ein. Sie kennt ähnliche Vorfälle aus ihrem Bekanntenkreis, wobei Trunkenheit bisweilen mit hineinspielte. Sie selbst hat sich hingegen gleich beim ersten Platznehmen hinterm Lenkrad geschworen, dass sie niemals trinken wird, wenn sie im Anschluss fahren will oder muss. Sie ist neugierig und will wissen, wie Mark zum Thema Alkohol am Steuer steht.
„Und… hast du vor deinem Unfall zu tief ins Glas geschaut?“
Mark bleibt stehen. Julia bemerkt es nicht sofort, geht noch einige Schritte, bevor ihr auffällt, dass er nicht mehr neben ihr ist. Verdutzt blickt sie sich um und sieht Mark mitten auf dem Weg stehen. Seine ernste, fast versteinerte Mimik weicht diesmal nicht.
„Trinken und fahren verträgt sich nicht, Julia“, gibt er mit rauer Stimme von sich und räuspert sich. „Niemand weiß das besser als ich. Mich hat es mit meiner Maschine nicht umsonst aus der Kurve getragen. Ein angetrunkener Autofahrer hat meinen Unfall verschuldet, ist zu weit über der Mittellinie gefahren.“
Autsch! Sprachlos und erschrocken schaut Julia zu Mark, der angeschlagen und betroffen wirkt. So richtig weiß sie nicht, welche Worte der Entschuldigung sie ihm gegenüber anbringen soll. Daher blickt sie ihm schweigend entgegen, während er wieder an ihre Seite herantritt und sie den Spaziergang fortsetzen. Irgendwann durchbricht Julia das Schweigen, das sich für sie mittlerweile tonnenschwer anfühlt.
„Niemand sollte das Leben eines anderen gefährden. Es… tut mir leid, was dir widerfahren ist und das meine ich ehrlich. Ich habe mir geschworen, als ich meinen Führerschein anging, dass ich niemals einen Tropfen anrühren werde, wenn ich noch fahren will und daran wird sich nichts ändern. Letztlich bestätigst du mich nur und…“
Julia schweigt erneut, weshalb Mark zu ihr sieht und bemerkt, dass sie versucht die rechten Worte zu finden. Sein Unfall hat sie berührt, das sieht er eindeutig. Zwei Jahre liegt der Vorfall zurück und er selbst hat sich gleiches in Punkto Alkohol und Fahren geschworen, weshalb er ungehalten reagiert, wenn sich jemand alkoholisiert hinters Steuer setzen will. ‚Blödes Thema‘, schimpft er sich und erleichtert Julia den Weg zurück, zur normalen Unterhaltung. Er legt ihr seine Hand auf den Arm und bremst dadurch ihre Schritte ab.
„Mach dir nicht zu viele Gedanken, ja? Es ist alles gut.“
Sie nickt fahrig, schaut auf seine Hand an ihrem Arm und bringt dennoch ihr Geständnis an.
„Ich bin froh, dass dir nichts wirklich Schlimmes geschehen ist.“
Mark grinst sie an. Schau an, da regt sich ja doch etwas in der widerspenstigen, aberwitzigen Schwester von Marlene. Julia sieht sein Grinsen und knufft unsanft mit ihrem Ellenbogen in seine Seite.
„Bilde dir bloß nichts darauf ein. Das bedeutet nur, dass es mir leidtäte, wenn ich heute niemanden hätte, den ich aufziehen kann.“
„Verstehe“, gibt Mark von sich, Anteilnahme und Verständnis vorspielend. „Dir würde das erfrischende Bad in den Fettnäpfchen fehlen, das kann ich nachvollziehen.“
„Bah! Du bist so… so…“, wieder einmal verschlägt es Julia die Sprache, die eben noch Mitleid mit ihm hatte. ‚Er provoziert ja geradezu, dass ich ihm in den A…‘
„Und was hast du beruflich vor?“, setzt Mark das Gespräch unbeirrt fort, während sie beide weiter dem verschneiten Wanderweg folgen.
Tief atmet Mark die klare Winterluft ein. Das hat er vermisst. Das Landleben, die frische Luft und die Berge, die sich anmutig in der Ferne erheben. Der südliche Landesteil ist ein Traum, gerade zur Winterzeit. In der Nähe rieselt Schnee aus den hohen Baumwipfeln, erweckt den Eindruck, als würden die Bäume sich schütteln und entlocken Mark ein tiefes, zufriedenes Aufseufzen.
„…als Fotografin“, bekommt er nur noch die letzten Worte von Julia mit, will seine kurzfristige Unaufmerksamkeit jedoch nicht zugeben.
„Und das ist dein Traumberuf?“, hakt er auf Gutdünken nach und erhält von Julia darauf ein bejahendes Nicken, ehe sie zur Gegenfrage ausholt.
„Und du wolltest schon immer Rechtsverdreher werden oder ist das nur ein Vorwand, um länger die angenehmen Seiten des Lebens wahrzunehmen?“, erkundigt sich Julia, die nichts von seiner vorübergehenden Ablenkung mitbekommen hat.
„Auch eine nette Idee, durchs Studieren die Jugend in die Länge zu ziehen“, gibt Mark lachend zu. „Aber nein, in der Hinsicht bin ich langweilig, wollte schon seit meiner Kindheit in diesen Beruf.“
„Achso?“
‚Die Wortkargheit passt nicht zu ihr‘, entscheidet Mark und blickt Julia von der Seite an.
„Was denn?“, fragt Julia, seinen Blick spürend.
„Da sollte doch bestimmt was anderes von dir kommen, oder?“, ermuntert er sie zum Weiterreden.
Erwischt. Er hat ein wachsames Auge. …oder Ohr. Wie man’s nimmt. Julia hält ihre Neugierde nicht weiter im Zaum.
„Naja, ich frage mich schon, wie man als Kind darauf kommen kann, ins Juristentum gehen zu wollen.“
„Frag doch mich, ich könnte dir darauf sogar eine plausible Antwort geben.“
Julia streckt Mark die Zunge raus. ‚Hätte ich mir ja denken können, dass wieder so eine komische Bemerkung kommt‘, mokiert sie sich und muss ihre Frage dennoch anbringen, ihre Neugier befriedigen.
„Nun gut, großer Häuptling, dann verrate mir, weshalb du dich so früh für deinen zukünftigen Berufsweg entschieden hast.“
Mark muss wieder grinsen. Er neckt sie einfach zu gern, findet es spannend, wie sie auf selbst kleine Provokationen reagiert. Diesmal antwortet er ehrlich.
„Ich sehe Unrecht und möchte etwas dagegen unternehmen. Das war schon immer so, sagt sogar meine Mutter und erzählt mir heute noch, wie ich mich schon im Kindergarten für die Schwächeren eingesetzt habe“, gibt er offen zu.
Julia reagiert auf seine Worte auf ungewöhnliche Weise. Unweigerlich stellts sie sich gedanklich klein Mark im Spiderman-Kostüm vor, der sich schützend und mit in die Hüften gestemmten Fäustchen vor die Schwächeren gestellt hat. Die Bilder der Fantasie lösen ein Kichern bei ihr aus, das sie mit einem künstlichen Husten hastig zu überspielen versucht. Zu spät. Mark schaut sie neugierig an.
„Einen Cent für deine Gedanken“, bietet er grinsend an, doch Julia schüttelt ablehnend den Kopf.
„Nix da, mein Kopfkino hat einen wesentlich höheren Eintrittspreis und davon abgesehen, ist die Vorstellung längst ausverkauft.“
Schlagfertig ist sie, das muss er zugeben.
„Und auf welchen Bereich willst du dich genau spezialisieren?“, fragt Julia ehrlich interessiert nach.
Es ist an Mark, ratlos seine Schultern zu zucken.
„Keine Ahnung. Bisher nehme ich noch alles mit, habe so viele Studienfächer wie möglich belegt. Es fällt mir schwer, mich auf einen Bereich festzulegen, weißt du?“
„Mhm, ich denke ich weiß, was du meinst. Es gibt viele Menschen, die rechtlichen Beistand gebrauchen können und das zieht sich durch fast alle Bereiche des Lebens. Wenn es Herzblut ist, das einen antreibt, dann will man die eigene Hilfe nicht eingeschränkt sehen. …könnte ich mir zumindest vorstellen“, lässt Julia ihren Redefluss versiegen.
Wahrhaft verblüfft über ihre feinsinnigen Worte, legt sich ein Ausdruck des Erstaunens über Marks Gesicht. Seiner Überraschung verleiht er die passenden Worte.
„Klingt ja fast, als würdest du es für selbstverständlich halten, Menschen zu helfen.“
Julia sieht ihn zweifelnd an.
„Natürlich hilft man Menschen, wenn man dazu in der Lage ist“, gibt sie empört von sich. „Man schaut nicht einfach weg, wenn jemand Hilfe braucht und man muss kein Rechtsverdreher sein, um helfen zu können“, ereifert sich Julia. „Fängt doch schon im Alltag an, wenn eine ältere Frau in den Bus einsteigt. Ist doch echt nicht zu viel verlangt, ihr den eigenen Sitzplatz anzubieten oder beim Ein- oder Aussteigen zu helfen. Irgendwann trifft’s auch uns, brauchen auch wir vielleicht irgendwann Hilfe und sind froh, sie zu bekommen.“
Mark schaut Julia noch immer an. ‚Da kommt noch was hinterher‘, denkt er bei sich und vermutet richtig.
„Wenn der im Supermarkt Beschäftigten etwas runterfällt, wo liegt das Problem, sich auch als Kunde zu bücken und es aufzuheben, es ihr zu reichen. Weißt du, Mark, es sind die kleinen Dinge des Alltags, wo jeder eine helfende Hand reichen kann. So sehe ich das.“
Julia stopft energisch ihre Hände in die Taschen ihrer Jacke. Mark schaut sie noch immer an. Ihre Worte rühren etwas in ihm an und legen zugleich einen ihm neuen Charakterzug an ihr frei. Sie hat ihn beeindruckt, mit ihren schlichten, zugleich wahren Worten und teilt seine Auffassung in vielerlei Hinsicht, was eher selten vorkommt.
Fröstelnd hebt Julia ihre Schultern an. Sie trägt weder Schal, noch Handschuhe. ‚Blöde Wahl‘, mault sie sich an. Es ist echt kalt heute und hätte sie das Haus nicht so überstürzt verlassen, dann wären Schal und Handschuhe aus der Schublade des Garderobenschranks mitgenommen worden. Mark bemerkt ihr von der Kälte herrührendes Erschaudern. Seinem Instinkt folgend, bremst er ihre Schritte erneut ab.
„Komm mal her, du Witzbeutel“, fordert er sie auf und löst seinen eigenen Schal.
Überrascht bleibt sie stehen und dreht sich zu ihm. Ihre Hände tief in ihre Jackentaschen vergraben, verfolgt sie mit den Augen sein Tun.
„Was ist? Willst du mich jetzt schon erwürgen?“, gibt sie auflachend von sich.
Ihr Lachen verstummt ziemlich schnell, als Mark ihr sorgsam seinen Schal um den Hals legt. Den Reißverschluss ihrer Jacke ein klein wenig herabziehend, verstaut er die losen Enden des wohlduftenden Schals in ihrer Jacke und zieht den Reißverschluss wieder hoch.
„Brünett steht dir, blau hingegen weniger“, witzelt er und zupft den Schal noch ein wenig zurecht.
„Blau?“
„Na wenn du vor Kälte erfrierst.“
Julia blickt zu ihm hoch, schaut direkt in Marks rehbraune Augen. Sie friert wahrhaftig und der warme Schal lindert die Kälte beträchtlich. Oder ist es sein Blick?
„Das Erwürgen hebe ich mir für einen Zeitpunkt auf, wenn du nicht damit rechnest“, stellt Mark in Aussicht und deutet mit einem Neigen seines Kopfes an, dass es eindeutig Zeit für den Rückweg wird.
Sie waren lange draußen, kommen zitternd vor Kälte wieder zum Haus zurück und verziehen sich sofort an den warmen Kamin, kaum dass sie Jacke und Mantel an die Garderobe gehängt haben. Händereibend, mit roten Nasen und eiskalten Gesichtern wirken sie friedlich, wie sie gemeinsam vor dem gemütlichen Kamin sitzen. Frau Heinrich holt vorsorglich zwei heiße Holundertees, versehen mit je einem Teelöffel Zitronensaft und Honig darin.
„Wir wollen ja nicht, dass ihr über Weihnachten das Bett hüten müsst, hm?“, lächelt sie die beiden an und erntet ehrlichen Dank von ihnen.
„Wer hütet das Bett?“
Marlene tritt ins Wohnzimmer und sieht die beiden verfrorenen Gestalten vor dem Kamin sitzen. Fragend hebt sie eine Augenbraue an.
„Niemand wird das Bett hüten, wenn die beiden ihren Tee austrinken“, prognostiziert Frau Heinrich und geht zurück in die Küche. „Sind ja halb erfroren, die Kinder“, wirft sie hinterher.
„Seid ihr so lange draußen gewesen?“, fragt Marlene daraufhin, mit deutlichem Zweifel in der Stimme, da sie mehr als zwei Stunden geschlafen hat und Spaziergängen nichts abgewinnen kann.
Ihre Vorliebe gilt eher öffentlichen Auftritten, bei Partys, in Einkaufszentren oder bei Shoppingtouren. Einstimmiges Nicken, denn die Gesichtszüge von Julia und Mark beginnen nur zögerlich wieder aufzutauen.
„Das ist doch verrückt!“, gibt Marlene von sich und maßregelt Julia mit ihren Blicken. „Du solltest mit Mark spazieren gehen, aus ihm keinen Eisklotz machen!“
Julia verdreht die Augen, denn das funktioniert immer. Ihre kalten Hände um den heißen Teebecher gelegt, ist sie versucht, sogar ihre Lippen auf diese Weise aufzutauen, doch ihr Mund macht auch so mit.
„Aha? Ich sollte mit ihm spazieren gehen?“, gibt Julia knurrig von sich und schaut Marlene dabei von unten nach oben an. „Man geht mit Hunden spazieren, du Nuss. Ich bin nur deinem Wunsch nachgekommen.“
‚Nervig, nerviger, Marlene‘, folgert Julia und erhebt sich von ihrem gemütlichen Sitzplatz vor dem Kamin. Himmel nochmal! Ihre Schwester hat sich wahrhaftig wieder einmal dem vollen Styling hingegeben. Frisches Make-up, Lippenstift neu aufgelegt und auch die Kleidung ist gewechselt. Julia kommt nicht umhin, vergleichend an sich selbst herabzuschauen. Sie trägt noch das gleiche Outfit, das sie heute Morgen ausgewählt hat, als sie Marlene samt Begleitung vom Zug abholte. Die Hosenbeine ihrer Jeans sind vom Schnee nass geworden, kräuseln sich dunkel und unschön. Ihr Pulli hat auch etwas abbekommen, jedoch vom Frühstück, denn die Krümelreste darauf stammen eindeutig von einem Brötchen. Wie ihr Gesicht gerade aussieht, darüber mag Julia sich gar keine Gedanken machen.
„Du bist manchmal echt so… so… grrr!“
Julia ist stinksauer und am meisten ärgert sie, dass ihr in diesen Momenten immer die Worte ausgehen, die gerade noch so an der Grenze des guten Tons wären, was dem Einfluss ihrer Tante zu verdanken ist. Missmutig fasst sie ihre Teetasse fester und dreht sich abrupt von Marlene weg. Sie wird ihren Tee trinken, ganz bestimmt sogar. Aber oben, in ihrem Zimmer und hinter verschlossener Tür. Julia stapft aus dem Wohnzimmer und nimmt schnurstracks die Treppe nach oben.
„Mädchen, müsst ihr euch schon wieder streiten?“, hört Julia die ermahnenden Worte ihrer Mutter, dann kehrt Ruhe ein, als sie ihre Zimmertür hinter sich schließt.
Mark schaut zu Marlene auf und erhebt sich ebenfalls. Bis eben war alles harmonisch und er der Überzeugung, dass Julia und er einen Weg der friedlichen Koexistenz gefunden haben, für die Zeit, die er hier verbringen wird. Die eben miterlebte Szene zwischen den Schwestern lässt ihn hingegen erneut zweifeln, ob überhaupt Frieden einkehren wird, solange er hier ist.
„Hör mal, Marlene“, ergreift er das Wort und blickt sie ruhig an. „Es war nicht alleinig Julias Idee, länger draußen zu bleiben und davon abgesehen, hätte ich den Rückweg jederzeit und früher einschlagen können. Sei nicht sauer auf deine Schwester, denn du hast keinen Grund dafür, okay? Außerdem ist Weihnachten, die Zeit von Frieden und dem Miteinander.“
Frau Heinrich tritt aus der Küche ins Wohnzimmer und schenkt Mark ein offenes Lächeln, nickt zustimmend zu seinen Worten.
„…und damit hat Mark absolut ins Schwarze getroffen. Es ist Weihnachten und, Marlene, wenn ich mich richtig erinnere, hast du deine Schwester doch vermisst, nein? Seid also friedlich miteinander und zankt euch nicht gleich wieder.“
Marlene schaut von Mark weiter zu ihrer Mutter. Im Grunde genommen haben die beiden recht, sollte sie wahrhaftig friedlicher sein und zudem scheint sie bei Mark gerade gar nicht zu punkten. Ein versöhnliches Lächeln aufsetzend, zuckt Marlene entschuldigend ihre Schultern.
„Na gut“, lenkt sie ein. „Soll ich Julia nachgehen?“
Ihre Mutter schüttelt bestimmt den Kopf und stellt eine kleine Schüssel mit selbstgemachtem Weihnachtskonfekt auf dem Wohnzimmertisch ab.
„Lass ihr Zeit und Ruhe. Wie ich sie kenne, wird sie sich abregen und danach herunterkommen und sich zu uns gesellen.“
Wer sonst, wenn nicht Frau Heinrich, kennt ihre Mädchen. Einladend winkt sie Marlene und Mark an den Tisch heran.
„Nun kommt, sonst habe ich die drei Stunden umsonst in der Küche verbracht, um das Konfekt zuzubereiten. Esst und trinkt und ich…“, blickt sie sich suchend um, „…, werde mal nach deinem Vater Ausschau halten, Marlene.“
Frau Heinrich entschwindet durch die Terrassentür und Mark geht auf Marlene zu, nimmt sie in den Arm.
„Glaube mir, ich weiß, wie nervig das Zusammenleben unter Geschwistern sein kann. Doch lass uns alle gemeinsam das Beste aus der schönsten Zeit im Jahr machen, hm?“, regt er an und gibt Marlene einen sanften Kuss auf die Stirn.
Marlene ist versöhnt, sowohl durch die Worte ihrer Mutter, als auch durch Marks liebevolle Geste. Wohlig aufseufzend legt sie ihre Arme um seinen Nacken und küsst ihn ebenfalls, jedoch auf den Mund. Die Haustür öffnet sich, eine mit Schnee verschöpften Schuhen eintretende Frau Heinrich ruft durchs Haus nach ihrem Mann und treibt zugleich Marlene und Mark auseinander.
„Günther?“
Marlene und Mark grinsen und Marlene fällt ein, was sie Mark noch fragen wollte.
„Sag mal, was würdest du davon halten, wenn wir heute Abend ins Kino gehen? Zusammen mit ein paar meiner Freunde?“
Mark muss nicht lange überlegen, nickt zustimmend.
„Das klingt nach einer guten Idee und wenn ihr Lust habt, können wir im Anschluss daran noch eine Runde Billard spielen gehen. Dazu hätte ich richtig Lust.“
„…oder wir gehen alle zusammen noch etwas trinken?“, unterbreitet Marlene einen Gegenvorschlag und schenkt Mark einen bittenden Blick aus ihren hellblauen Augen, die sie gekonnt mit Lidstrich und Mascara in Szene gesetzt hat.
„Ja, oder das“, erreicht sie bei Mark ihr Ziel. „Willst du Julia fragen, ob sie mitkommen möchte?“
Das ist eindeutig zu viel des Guten, zumindest für Marlene. Gemeinsam Weihnachten verbringen – ja, okay. Frieden bewahren – auch in Ordnung. Aber die kleine Schwester mit ins Kino und zu ihren Freunden schleppen – auf gar keinen Fall! Marlene weiß ihre strikt ablehnende Haltung dazu jedoch weitaus diplomatischer zu vertreten.
„Ach weißt du, Mark, ich würde dich heute Abend gerne meinen Freunden vorstellen und außerdem weiß ich, dass Julia meine Freunde nicht sonderlich mag. Ich will sie nicht vor den Kopf stoßen, indem ich sie frage, ob sie mitmöchte. Nachher fühlt sie sich, um des lieben Frieden willens, gezwungen, mitgehen zu müssen.“
Für Mark klingen die wohl gewählten Worte Marlenes nachvollziehbar, weshalb er schließlich nickt und ihr ein verständnisvolles Lächeln schenkt.
„Du hast natürlich recht. Zwingen wollen wir sie keinesfalls“, stimmt er zu.
Marks Hände fassen seitlich an Marlenes Kopf, heben ihn an und mit den Fingern fährt er durch ihre Haare. Gerade will er ihr einen liebevollen Kuss schenken, als sie sich abrupt vor ihm zurückzieht.
„Mark, meine Haare!“
Marlene seufzt verdrießlich auf und befreit sich aus seinem Griff. Sie hat eine ganze Stunde im Badezimmer verbracht, unter anderem, um ihre Mähne zu bändigen und Mark vergräbt seine Finger darin. Das geht gar nicht. Flink eilt sie vor den großen Spiegel im Flur und betrachtet das Unglück. Die eben noch sorgsam zurückgekämmten und gegelten Haare stehen nun seitlich vom Kopf ab. ‚Kerle‘, schimpft Marlene im Stillen, ‚sie wollen, dass man neben ihnen gut aussieht und dann zerrupfen sie, mir nichts, dir nichts, die Frisur!‘
„Ich bin gleich zurück“, verspricht Marlene. „Dann quatschen wir noch eine Runde mit der Familie und müssen dann auch bald los“, kündigt sie an und hetzt die Treppe ins obere Badezimmer hoch.
Ihr bleibt nicht viel Zeit, um ihr Äußeres wieder in Ordnung zu bringen und zudem, stellt sie mit einem Blick an sich herab fest, wird sie doch ein Oberteil anziehen, das eindeutiger darauf hindeutet, dass Mark und sie ein Paar sind. In dieser Hinsicht ist sie mehr als froh, wieder zuhause zu sein. In Salzburg konnte sie sich nie wirklich stylen, da Tante Mila die Meinung vertritt, dass weniger Styling mehr Frau bedeutet.
Herr Heinrich findet sich wieder ein, tritt durch die Haustür und stöhnt gequält auf. Vom Flur her macht er Mark aus, der ein wenig verloren im Wohnzimmer steht, wo Marlene ihn zurückgelassen hat.
„Nachbarn!“, brummelt Herr Heinrich und geht geradewegs auf Mark zu, der ihm fragend entgegenblickt.
„Ach“, macht Herr Heinrich eine wegwerfende Handbewegung und lässt sich in einen der ausladenden Ledersessel fallen. „Jetzt hat sich der Vorstand der Nachbarschaftsvereinigung ausgedacht, dass wir alle einen beleuchteten Weihnachtsmann in den Vorgarten stellen sollen. Als Wiedererkennungswert und Repräsentant unserer Straße“, knurrt er vor sich hin und lädt Mark mit einer Handbewegung ein, bei ihm Platz zu nehmen.
Fragend den Kopf neigend, folgt Mark der unausgesprochenen Einladung, setzt sich zu Herrn Heinrich und wählt für sich einen anderen Ledersessel. Gelassen und entspannt schlägt er die Beine übereinander.
„Und Sie sind damit nicht glücklich, mit diesem Vorschlag?“
Entrüstet schüttelt Herr Heinrich den Kopf und legt ihn danach an das weiche Leder der Sessellehne, bevor er zu einer Erklärung ausholt.
„Nein, ich bin ganz und gar nicht glücklich damit. Das ist unser Haus, unser Grund und daher sollte die Entscheidung mir überlassen bleiben, ob ich so ein komisches Leuchtdings in meinem Vorgarten aufstellen will oder nicht“, äußert er seine Meinung in dieser Angelegenheit und hat in Marks Augen nicht unrecht.
„…dazu noch so ein hässliches, amerikanisches Teil, das überhaupt nicht zu unserer übrigen Beleuchtung am und im Haus passt.“
Herr Heinrich macht seiner Empörung Platz und Mark gibt ihm im weiteren Verlauf ihres Gespräches ein paar Tipps, wie er sich der Auflage entziehen könnte, ohne dem Vorstand offiziell auf die Füße zu treten. Frau Heinrich gesellt sich zu den beiden Männern, sichtlich froh, dass ihr Mann einzig im Gespräch mit Nachbarn verschollen war.
Julia schleicht unterdessen in die Küche, bringt ihre geleerte Teetasse weg und brüht sich stattdessen einen frischen Kaffee auf. Derart gerüstet gesellt sich zum Rest der Familie, als sie den Grund der Unterhaltung mitbekommt. Sie kann dieser Vereinigung der Nachbarn gar nichts abgewinnen. Der eine sagt dies, der andere das, doch Resultate bleiben aus. Seit dieser Blödsinn ins Leben gerufen wurde, von einem pensionierten Hausbesitzer drei Häuser weiter, führt der sich schlimmer auf, als ein Politiker und empfindet sich wichtiger, als der Bürgermeister des Ortes höchstpersönlich.
Letztlich wird sich der Familienrat darüber einig, dass man sich der Auflage teilweise widersetzen, jedoch einen beleuchteten Weihnachtsmann eigener Wahl im Vorgarten aufstellen wird. Auf eigentümliche Weise erfreut Mark dabei, dass seine offerierte Vorgehensweise von seiner Gastfamilie angenommen wurde und dass selbst Julia ihm ein anerkennendes Nicken zukommen lässt.
Später am Abend, machen sich Marlene und Mark auf den Weg in die Stadt, nehmen ihren geplanten Kinobesuch und das Treffen mit Marlenes Freunden wahr.
Die Heinrichs machen es sich an diesem Abend derweil vor dem Fernseher gemütlich und Julia, die eine Weile bei ihren Eltern sitzt, verzieht sich im Laufe des Abends in ihr Zimmer und hört noch eine Weile Musik. Sie ist froh, dass der restliche Tag zwischen Marlene und ihr ohne Streit verlaufen ist, weshalb sie heute müde und zufrieden ins Bett geht.