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Kapitel 1

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M O N T A G

Es ist ein früher Januarmorgen. Die Nacht ist noch nicht dem Tag gewichen; zwar kündigt sich in der Ferne die Dämmerung an, aber davon ist in dieser stillen Straße noch nichts zu sehen. Die Häuser sind zu hoch, und über uns, könnten wir sie sehen, ist die Nacht noch dunkel und unbezwungen. Es ist der zweite Januar, der Tag nach dem Tag des Katers.

Dunst, oder vielmehr Frühnebel, schwebt über der Straße, die Lampen der Straßenlaternen schneiden helle Kegel in das Grau. Die Autos am Straßenrand glänzen von gefrorenen Kristallen. Ein Anlieger schabt an den Scheiben seines Wagens, während der Motor läuft und der Auspuff grauen Qualm dem Nebel hinzufügt. Hier in der Stadt ist der Schnee fast vollständig verschwunden, sind nur grauschwarze Reste an den Straßenkanten zu sehen. Ich bedauere dies, denn irgendwie beruhigt mich das Geräusch von unter den Reifen knirschendem Schnee, gibt eine weiße Landschaft jedem Hintergrund eine gewisse Majestät.

Als wir vor knapp zwei Stunden von meinem Landhaus außerhalb Wiens aufbrachen, erstreckte sich eine solche weiße Landschaft weit um uns herum; ich lasse die Auffahrt zum Chateau nicht räumen, und heute Morgen war ich dankbar dafür, gab mir die langsame Fahrt bis zur Hauptstraße doch Gelegenheit, meine Gedanken zu sammeln.

Ich beuge mich vor, nehme die Thermoskanne aus dem Halter, schenke mir Kaffee ein. Für einen Moment sehe ich Caros fein gezeichnetes Profil, als wir unter einer der Straßenlaternen hindurchfahren. Wir fahren nicht schnell, zu rasen wäre nicht standesgemäß für den alten Rolls.

»Dort vorne ist es«, sage ich.

Caro nickt nur.

Auch sie weiß, wohin wir fahren, und hat es genauso wenig eilig wie ich.

In der Ferne, vor uns, am Ende der Straße, wird das regelmäßige Wechselspiel zwischen Licht und Schatten von einem Scheinwerfermast gebrochen, sein Licht, anders als das diffuse der Laternen, ist grell und klar, schneidet einen scharfkantigen Quader in den Dunst, doch das, was beleuchtet wird, ist hinter einer hohen Ziegelsteinmauer verborgen.

Das gleißende Licht von dem Lichtbaum, die Stille, der Nebel, all das wirkt surreal auf mich. Die zwei Polizeiwagen, die Ambulanz mit erleuchtetem Innenraum, aber mit abgeschaltetem Blaulicht, der junge Polizist, der mit gesenktem Kopf gerade den Zugang zu dem Hof weiträumig mit Absperrband verklebt ... Meine Vergangenheit hat mich eingeholt.

Ein stämmiger Mann, breite Schultern, dunkler, knöchellanger Mantel, die Hände in die Taschen gesteckt, steht dort, seine Atemfahne der einzige Hinweis, dass er lebt, so still ist er.

Malowsky. Es ist acht Jahre her.

Ich sehe den Fahrer der Ambulanz, er lehnt an der offenen Tür des Rettungswagens und raucht eine Zigarette. Das Innenlicht des Fahrzeugs wirkt übertrieben grell in der Düsternis dieser Straße, an der Grenze zwischen Nacht und Tag. Alles ist bereit für den schnellen Eingriff, für den Notfall. Aber der Mann schaut nur gedankenverloren ins Leere und raucht, ist fast so still wie Malowsky.

Der junge Polizist, der mit dem Absperrband, wahrscheinlich ist er kaum älter als vierundzwanzig oder fünfundzwanzig, sieht zu Boden, als er das Band befestigt; seine Bewegungen sind mechanisch, er stockt hin und wieder, prüft, ob er diese einfache Arbeit richtig ausführt, als könne er sich nicht auf seine Hände und Sinne verlassen.

Ich weiß jetzt schon, dass es schlimm werden wird, denn es ist nicht eine ruhige Stille, die von den Menschen ausgeht, sondern eine, die schneidet.

Jeder hier hat zu viel gesehen, auch Malowsky; der das aber nie zugeben wird.

Ich will nicht hier sein.

Es gibt eine breite Tür in dieser Mauer aus Backstein, aus Metall ist sie. An vielen Stellen ist die Farbe bereits abgeplatzt, am unteren Rand mischt sich das Rot der Grundierung mit dem Rost. Die Tür ist zu drei Vierteln geschlossen, in der Öffnung steht eine stämmige Frau; das grelle Licht beleuchtet sie so von hinten, dass es aussieht, als strahle sie selbst. Kurze blonde Haare, sie raucht, trägt einen hellen Mantel und grellgelbe Gummistiefel. Irgendwie wirken die Farben in dem Schwarz-Weiß aus Dämmerung und Schatten mehr als absonderlich, fremd.

Auch sie blickt, wie Malowsky, in unsere Richtung, als Caroline den Rolls so gleichmäßig zum Stehen bringt, dass nicht einmal der Kaffee in meiner Tasse schwappt.

Caro steigt aus, groß, trimm, schlank und sexy in ihrer Chauffeursuniform, öffnet mir mit einer knappen, aber perfekten Verbeugung den Wagenschlag. Der junge Polizist erwacht aus seinen düsteren Gedanken, als er Caros wohlgerundetes Hinterteil wahrnimmt, das sich ihm unter dem dünnen schwarzen Stoff so verführerisch präsentiert.

Frauen sollten nie erfahren, was sie allein mit ihrem Anblick bei Männern auslösen können; bei Caro ist es zu spät, sie weiß es schon. Genauso wie sie weiß, dass die Blicke des Polizisten auf ihrem Hintern ruhen.

Malowsky ist älter geworden in den letzten acht Jahren, aber nicht minder missbilligend. Das Doppelkinn, von korrektem Kragen und Krawatte eingeschnitten, quillt mehr denn je hervor und zittert, ein Zeichen, das bei ihm für alles stehen kann, von gerechter Empörung bis hin zu mörderischer Wut.

Ich trinke den letzten Schluck Kaffee und stelle die Tasse auf dem Tablett vor mir ab, mustere ihn durch die offene Tür.

Er ist einen Monat jünger als ich, beide sind wir sechsundvierzig, aber auf ihm lasten die Jahre schwerer, die Furchen in seinem Gesicht sind tiefer, die Nase grobporig und ständig gerötet. Seine buschigen Augenbrauen sind grau wie sein Haupthaar, sie gleichen den Borsten einer Drahtbürste. Die Augen liegen tief in den Höhlen, sie sind von fahlem, wässrigem Blau. Ich kann sie jetzt nicht sehen, es ist zu dunkel, aber ich habe sie nicht vergessen.

»Marcus«, sagt er, als ich mich anschicke, den Wagen zu verlassen, aber das ist alles; weder geht er einen Schritt vor, noch hält er die Hand hin, noch nickt er mir zu.

So soll es also sein. Ich verharre kurz, ein Bein ausgestreckt, die eine Hand am Griff der Tür, die andere an der Säule der Türöffnung, dann entfalte ich mich aus dem Wagen und stehe vor ihm. Er weicht etwas zurück und blickt zu mir auf, und nun weiß ich, wie sehr er mich noch immer verachtet, dass er dieses Ressentiment auch nach all den Jahren nicht aufgeben will.

»Dieter«, antworte ich ihm im gleichen Tonfall, so neutral, dass man es mit einer Feinwaage hätte messen können.

Ich bereue es bereits, überhaupt auf seinen Anruf reagiert zu haben. Seine Feindseligkeit ist so deutlich, dass ich versucht bin, wieder in den Wagen zu steigen und davonzufahren.

Als ich in der Nacht den Anruf erhielt, war ich mehr als unwillig zu kommen, wollte nicht einmal das Telefonat entgegennehmen. Wollte nichts von dem hier.

Caro wand sich gerade am Kreuz im blauen Salon. In letzter Zeit treibt es uns beide öfter in diesen Raum, er ist am besten ausgestattet, am besten geeignet für unsere Spiele. Zwei feine rote Linien zogen sich ihren anmutigen Rücken entlang, parallel, mit einer leichten Kurve am oberen Ende und gekrönt von einem kleinen Tropfen rubinroten Blutes. Schweiß stand auf ihrer fast durchscheinend weißen Haut, ihre Füße bewegten sich unruhig, die Hände ballten und entspannten sich in den Fesseln. Ihr Atem hatte bereits diesen gewissen Rhythmus, der mir sagt, wo auf ihrem Weg sie sich befindet. Unter der Haut an ihren Flanken spielten Muskelstränge, als sie an der Grenze schwebte.

Nur zwei Schläge ...

Die kleine Bullenpeitsche, oder auch Snake, ist ein neues Ding für uns, ein Spiel, das mir schon immer äußersten Respekt abnötigte. Es waren unsere ersten gemeinsamen Schritte in diese Richtung, die anmutig geschwungene Peitsche in meiner Hand eher noch ein Spielzeug im Vergleich zu einer echten Bullenpeitsche.

Unsere ist knapp über zwei Meter lang, aber nicht ohne einen gewissen beißenden Charme. Eine echte Bullenpeitsche kann bis zu neun Meter lang sein, das Ende mit dem Schnalzer erreicht Schallgeschwindigkeit. Dieses Leder kann filettieren oder Knochen brechen. Oder auch dem ungeübten Anfänger ein Ohr oder andere wichtige Körperteile abschlagen. Die Snake hingegen ist kurz und leicht genug, dass man damit streicheln kann oder auch beißen, aber nicht einmal ansatzweise so gefährlich.

Caro und ich haben uns lange darauf vorbereitet, mit der Snake zu spielen, sie wie ich ... Ich sehe noch, wie sie still dasaß und zusah, während ich übte, zuckte, als ein Schlag die Wärmflasche traf, die ich als erstes Übungsziel aufgehängt hatte.

Sie war es, die ungeduldig auf die Peitsche wartete, sie fühlen und erleben wollte. Doch ohne dieses Instrument zu beherrschen, traute ich mich nicht, ihrem Willen nachzugeben, ich wollte auf keinen Fall Schaden anrichten.

Nichts, dachte ich vergangene Nacht, hätte mich in dem Moment dazu bringen können, unser Spiel zu unterbrechen, aber wer auch immer es war, er läutete nun schon zum zweiten Male durch, wieder so lange, bis die Verbindung automatisch getrennt wurde.

Meine Konzentration schwand, und auch Caro erwachte zusehends aus ihrer Trance.

Also hob ich beim nächsten Läuten ab, bereit, den Anrufer, wer auch immer es sein mochte, in die tiefsten Höllen zu verdammen.

»Malowsky hier«, hörte ich eine Stimme, die ich vergessen glaubte, aber dennoch sofort erkannte, noch bevor ich meinen Namen sagen oder meinen Unmut kundtun konnte. »Das hier ist nicht meine Idee«, fuhr er fort. »Krüger sagte mir, ich soll dich anrufen. Ich habe hier eine Tote, eine junge Frau. Sie wurde von einem Perversen zu Tode gefoltert und an ein Kreuz genagelt. Es ist das dritte Opfer in der Serie. Krüger meint, du könntest helfen. Wahrscheinlich, weil du selbst einer von diesen Perversen bist.«

Malowsky. Immer noch so höflich wie eh und je. Ich hatte von dem letzten Mord gehört. Wer nicht?! Man hatte das Mädchen am Morgen des Sechsundzwanzigsten gefunden, zwei Tage nach Heiligabend, an ein Kreuz genagelt in einer dunklen Ecke des Praters. Sechzehn Jahre alt war sie gewesen. Ein gefundenes Fressen für die Presse, irgendjemand hatte sich schmieren lassen und Einzelheiten verraten, Einzelheiten, die für die Journalisten wie Blut auf Haie wirkten. Ein besonders bekanntes und unqualifiziertes Blatt ließ sich zu »Masomord am Prater« herab, eine billige, effekthascherische Schlagzeile, aber der Name blieb hängen und erhitzte die Gemüter.

Ich sah auf meine Hand herab; noch immer hielt ich die handgearbeitete Peitsche in der Hand. Caro war mittlerweile wieder in dieser Welt, blickte über ihre Schulter zu mir, die Augen teilweise von dem rabenschwarzen Vorhang ihres Haares bedeckt. Dennoch war die Frage in ihnen unmissverständlich ... Was konnte es sein, dass ich ihm gestattete, diesen speziellen Moment zwischen uns zu zerstören?

Als sie den Kopf wandte, wurden die beiden kleinen Blutstropfen von ihrem Haar verwischt. Ein roter Schatten auf der weißen Haut.

Sie wartete auf mich, und ich stand da, mit dem Hörer in der Hand, und ließ mich von Malowsky angiften. Aber ich konnte nicht einfach auflegen.

»Wie starb sie?«, fragte ich und war überrascht über den Klang meiner Stimme; sie war nüchtern, distanziert, fast desinteressiert.

»Wie die anderen beiden auch. Letztlich wurde sie zu Tode gepeitscht.«

»Ich komme.« Konnte ich denn etwas anderes sagen? »Wo ist der Tatort?«

»Seilerstraße 14. Ich wusste, dass du dir das nicht entgehen lassen kannst. Ist genau dein Ding, nicht wahr? Vielleicht sollte ich dich fragen, ob du ein Alibi hast?«

Langsam legte ich den Hörer auf die Gabel, dann, genauso langsam, die Snake auf das Kissen, auf dem Caro sie mir gereicht hatte.

Ich ging hinüber zu ihr, strich ihr über das Haar und löste ihre Ketten, hielt sie, als sie mir entgegenfloss, und legte sie sachte auf das Bett. Während ich die Striemen reinigte und einrieb, erklärte ich ihr den Grund des Anrufs.

Sie zitterte, ich spürte die Muskeln ihres Rückens unter meinen Fingerspitzen beben, dann lag sie still und sah zu mir hoch. Sie suchte etwas in meinen Augen, fand es und sah dann zu unserer Snake hinüber. In ihren Augen stand eine Frage, ich schüttelte als Antwort leicht den Kopf.

Sie seufzte fast unhörbar; eher bemerkte ich es daran, wie sich ihre Brust hob und senkte, dann schmiegte sie sich an mich.

»Finde das Schwein. Danach sehen wir weiter, ja?« Sie küsste mich.

Als Dank für ihr Verständnis war sie es, die den Rolls aus der Garage holen und in ihrer dünnen Chauffeursuniform den Schnee davor wegschippen durfte. Ich stand daneben, rauchte eine Zigarette, genoss den Anblick ihrer Brustwarzen, die in der Kälte steif wurden und sich durch den dünnen Stoff deutlich abzeichneten, und versuchte mir vorzustellen, was dieser Anruf für mich bedeutete.

Jetzt steht sie neben mir, aufrecht, korrekt, die linke Hand noch immer am Griff der Tür. Ich bin ihr im Weg, so kann sie die Tür nicht schließen, also steht sie nur da und wartet. Hier in der Stadt ist es nicht so kalt wie auf dem Hof des Chateaus, aber sie kommt aus dem warmen Wagen, fröstelt ein wenig. Der elastische Stoff der Uniform ist ihr zentimetergenau auf den Leib geschneidert; so, wie sie dasteht, mit durchgedrücktem Kreuz, stolz und kerzengerade, verbirgt die Uniform nichts vor den Blicken meines ehemaligen Kollegen, der sie mit einem zugleich verachtenden, aber auch lasziven Blick betrachtet und – wie ich auch – sieht, wie sich ihre Brustwarzen erneut unter dem dünnen Stoff hervorheben. Sein Blick hält dort einige Sekunden inne, wandert entlang der Linie ihrer Hüfte und der kraftvollen Anmut ihrer Beine hinunter zu den Schnürstiefeln mit den Acht-Zentimeter-Absätzen. Dann ruht sein Blick auf dem Rolls, einem Oldtimer, nun über siebzig Jahre alt, und verharrt anschließend auf mir. Ich habe mich passend in der Epoche des Wagens gekleidet, der Schwalbenschwanz mit Mantel, Schal, Zylinder und Gehstock gehört zu Caros Uniform, ergänzt und verbindet uns.

»Was hat eine von deinen Huren hier zu suchen?«, knurrt Malowsky und schiebt das Kinn aggressiv vor. »Willst du ihr zeigen, wo es endet? Schick sie in den Hof, dann sieht sie, was ihr passieren kann!«

Ich bin stolz auf Caro, sie zuckt nicht einmal mit den Wimpern. Ihr Gesicht zeigt höfliche Geduld, als sie wartet, dass ich zur Seite trete und sie den Wagenschlag schließen kann. Nur die Nüstern ihrer schmalen Nase beben.

Ich lege den Zylinder in den Wagen, auch den Gehstock, bevor hier etwas absichtlich falsch verstanden wird, und gehe auf Malowsky zu. Ich bin fast zwei Kopf größer als er, und er macht einen kleinen Schritt zurück. Dann fängt er sich, reckt verärgert den Hals und rollt die Schultern, wie ein Boxer vor einem Kampf. Er war einmal Boxer, fällt mir ein, aber jetzt ist er einen halben Schritt zurückgewichen und verliert so den Kampf, bevor er beginnt.

»Malowsky«, sage ich gefährlich leise, sodass er sich anstrengen muss, mich zu hören, obwohl meine Nase fast die seine berührt. »Du weißt nicht, was du sagst. Tust du es aber noch einmal, sorge ich dafür, dass du morgen schon stempeln gehst.«

»Und wie willst du das anfangen? Verrat’s mir!«, grinst er, sicher in der Autorität seines Berufs.

»Die kleine Tänzerin. Erinnerst du dich?«, sage ich so nahe an ihm, dass er meinen Atem spüren muss.

Er erinnert sich, ich sehe es in seinen Augen. Es ist gute zehn Jahre her. Vielleicht hatte er wirklich etwas falsch verstanden, sie behauptete, er sei angetrunken gewesen, aber es war und blieb eine Vergewaltigung. Sie traute sich nicht, etwas zu sagen, er war bei der Sitte, sie arbeitete als Tänzerin in einer Bar.

Ich erfuhr es durch Zufall, aber das war Jahre später. Bis eben habe ich keinen Beweis gehabt, dass die Geschichte stimmt, außer dass ich der Frau geglaubt habe, aber jetzt sehe ich in seinen Augen die Wahrheit.

Er schluckt. Er weiß sehr wohl, dass wir keine Freunde sind, und meine Augen sagen ihm, dass ich nicht eine Sekunde zögern würde, meine Drohung wahr zu machen.

Caro steht noch immer dort, der Unterschied in ihrer Haltung nur erkennbar, wenn man jeden Muskel, jeden Millimeter an ihr kennt ... Sie mit ihrem feinen Gehör hat durchaus verstanden, was ich zu ihm gesagt habe, und sie wartet auf den Gnadenstoß.

Manchmal ist auch meine Caro ein blutrünstiges kleines Biest.

Plötzlich weiß ich, was hier los ist. Dieser Mord hat ihn berührt. Getroffen. Er ist voll gerechtem Zorn auf den Täter, und in seinen Augen gibt es nur geringe Unterschiede zwischen dem Täter und mir.

Mit zu dem Problem gehört, dass Malowsky auch noch ein guter Polizist ist. Er ist unbestreitbar ein Arschloch und ein Tyrann. Es gibt nur wenige Polizisten bei der Sitte, die sich nicht ab und an eine Muschi genehmigen; die Versuchung ist sehr groß, schließlich ist das in manchen Bereichen Zahlungsmittel. Vor gut fünfundzwanzig Jahren, als wir beide bei der Polizei anfingen, hätte kein Hahn danach gekräht, es war nicht nur üblich, sondern wurde fast schon erwartet. Heute ist das anders.

Aber Malowsky ist verdammt gut. Er hat schon seit langer Zeit kein Privatleben mehr, sein Leben findet auf dem Revier und auf der Straße statt, er ist eine verdammte geifernde Bulldogge, die sich in einen Fall festbeißt und nicht eher locker lässt, bis er gelöst ist. Seit drei Jahren ist er bei der Mordkommission, sein Ziel seit jeher, und mit seiner Erfahrung ist er beinahe der perfekte Mann für den Job. Es ist keine Seltenheit, wenn er drei Schichten arbeitet, und sein Gedächtnis ist nachgerade perfekt.

Wenn er einen Verdächtigen verhört, reicht oft schon seine Ausstrahlung von gerade eben noch kontrollierter Gewalt, die Androhung des Unaussprechlichen in seinem Blick, um manchen auf der Stelle umkippen zu lassen.

Die Spannung in seinen Schultern, der geduckte Kopf, die geballten Hände ... genau diese Androhung von Gewalt zeigt er auch jetzt, nur bin ich keiner von seinen Verdächtigen.

»Malowsky«, sage ich so ruhig ich kann. »Es gibt einen Grund, weshalb wir beide hier sind. Das ist wichtig. Unsere Differenzen nicht.«

Einen Moment lang funkelt er mich noch an, dann atmet er durch und nickt.

»Es ist schlimm, nicht wahr?«, frage ich ihn leise.

Er wirft mir einen harten Blick zu, dann verlässt ihn die ganze Anspannung, er nickt nur, ich meine sogar einen leisen Seufzer von ihm zu hören. Er macht einen Schritt zur Seite. Lässt mich passieren.

Caro schließt hinter mir den Wagenschlag. Ich sehe sie an.

»Warte im Wagen auf mich. Lass den Motor laufen.« Sie nickt und geht um den Wagen herum, ein Schauspiel, das sowohl Malowsky als auch der junge Polizist aufmerksam verfolgen; dem jungen Mann gönne ich den Anblick, Malowsky nicht. Er weiß es.

Dann halte ich auf das Tor zu, in dem noch immer die Frau mit den grellgelben Gummistiefeln steht. Sie stößt sich mit der Schulter von dem Pfosten des Tores ab und nickt mir zu. In der linken Hand hält sie einen schwarzen Zigarillo, in der rechten einen kleinen silbernen Aschenbecher. Sie mustert mich.

»Hi, Stella«, sage ich.

»Es geschehen noch Zeichen und Wunder«, antwortet sie in ihrer rauchigen Stimme, die ein Saxofon und eine dunkle Jazzkneipe brauchte und nicht einen kalten Wintermorgen, an dem der Tod riechbar in der Luft liegt. Stella – Dr. Feinschild – ist nur noch selten an den Tatorten anzutreffen, sie ist die Chefpathologin für Wien und Umgebung. Wie jede andere Millionenstadt liefert ihr die große alte Dame Österreichs täglich neue Kunden und täglich mehr von dieser Arbeit, als ein Mensch haben sollte.

Als ich bei der Polizei anfing und zum ersten Mal durch die Pathologie gezerrt wurde, stand sie schon so da, in derselben Haltung, mit demselben silbernen Handaschenbecher. Mit demselben abschätzenden Blick. Demzufolge ist sie nun wahrscheinlich über das Pensionsalter hinaus, doch wenn sie immer noch arbeitet, dann ist es nur gut für Wien. Sie zu ersetzen dürfte fast unmöglich sein.

»Der verlorene Sohn kehrt zurück«, fügt sie hinzu und lächelt, ein überraschendes Lächeln in ihrem Gesicht, das warme Augen und eine verhängnisvolle Ähnlichkeit mit dem eines Pferdes aufweist. Dieses Lächeln jedoch, warm, offen, mit großen nikotingelben Zähnen, bringt eine Wärme herüber, die ich, wie ich nun merke, vermisst habe.

Ich will ihr ein Antwortlächeln schenken, es ist schon halb auf meinen Lippen, als ich über ihren Kopf hinweg den Innenhof sehe, das Kreuz, das darin steht. Hier, in diesem verlassenen Hof, liegt noch Schnee, fast weiß oder zumindest hellgrau, und scheinbar eingeätzt darin, zu Füßen des Kreuzes, eine Fläche, die im unbarmherzigen Licht des Scheinwerfers glitzert. Der Raureif reflektiert ein kräftiges frisches Rot in meine Augen, auch der Körper auf dem Kreuz, erstarrt in einer letzten Agonie, ist in diesen Hauch von Kristallen gehüllt und glitzert im harten Licht des Scheinwerfermasts.

Das Kreuz steht etwas versetzt im hinteren Drittel des Innenhofes. Unter der dünnen Schneedecke erkenne ich die Konturen alter Autoreifen, die verrostete Tür eines Personenwagens, sie gehört zu einem alten BMW, wie ich abwesend feststelle, dann eine Teppichstange, knapp über den Zementfundamenten, so verrostet, dass sie schief steht und auf einen Windstoß wartet, und ein verdorrter Strauch, dem das an ihm haftende Eis scheinbar neue eisige Blüten gibt.

Ich sehe all dies, weil ich woanders nicht hinschauen will, weil sich meine Augen scheuen vor dem, was ich zuvor über Doktor Feinschilds Schulter im Bruchteil einer Sekunde gewahrt habe.

Seitlich in einer Ecke, einige Meter entfernt von dem Kreuz, erkenne ich drei weitere Gesichter, nur eines davon aus anderen Tagen vertraut. Tomas Marks nickt mir zu, er war zuletzt Leiter der Spurensicherung; seine Anwesenheit wie auch die von Stella Feinschild sagen mir, dass man diese Sache sehr, sehr ernst nimmt.

Die beiden anderen Gesichter gehören zu einer jungen Frau und einem jungen Mann. Die beiden Beamten sehen mich misstrauisch und vielleicht auch vorwurfsvoll an, ein Frack passt nicht zu dieser Szene, und sie stehen hier, mit all den Instrumenten und Gerätschaften ihres Handwerks, und müssen warten. Auf jemanden, der nicht einmal den Anstand besitzt, sich passend zu kleiden.

Ich wische den Gedanken weg, passend gekleidet ist ein Moment in der Modegeschichte, Tod währt ewig.

Ein sorgsam abgesteckter Bereich sagt mir, wohin ich meine Füße setzen darf. Ich nähere mich dem Kreuz, ich kann nicht anders, selbst als ich langsamer werde, weiß ich, dass ich bald zu nahe bin.

Hinten aus dem Kellereingang des verlassenen Hauses tritt jetzt eine weitere Gestalt, Malowskys neuer Partner, glaube ich ... Ein schlanker junger Mann, der sich fröstelnd in eine dicke blaue Skijacke hüllt. Er mustert mich mit Feindseligkeit in den Augen, will mich nicht hier haben. Da sind wir schon zwei, ich würde mich am liebsten auch umdrehen und gehen, mit all dem hier nichts zu tun haben.

»Sie müssen Wolf sein«, sagt er, nimmt sich ein Beispiel an Malowsky und behält die Hände in den Taschen seiner Jacke. »Er meint, Sie stehen auf so etwas. Macht Sie geil.« Seine Stimme ist leise, zischelnd. Er ist ein würdiger Partner für Malowsky, er versprüht Gift, achtet aber darauf, dass niemand es hört. Eine Schlange, bösartig und feige. Er wiederholt die Worte eines anderen. Aber Malowsky war nicht immer so, wie er heute ist, er hat Grund, die Welt zu hassen. Er glaubt auch, einen Grund für seinen Hass auf mich zu haben. Ich kann Malowsky nicht mehr mögen, aber wir waren einmal Freunde, und vieles an ihm verdient auch heute noch meinen Respekt. Dieser junge Mann hier, er ist kaum dreißig, hat davon nichts. Er ist klein, eher schmächtig, aber wahrscheinlich trainiert er regelmäßig, irgendetwas Männliches wie Kickboxen. Seine Augen ... mir gefallen seine Augen nicht. Sie sind geweitet, und er blickt in das Licht des Lampenmastes. Ist Malowsky mittlerweile blind geworden? Oder kümmert es ihn einfach nicht mehr, dass sein Kollege Drogen nimmt? Letzteres, nehme ich an, es ist die einzige Erklärung.

»Sie sind Gref, nicht wahr?«, frage ich ihn, aber ich vergesse ihn im nächsten Moment, denn mein Blick traut sich nun doch heran an das Kreuz, fokussiert auf ein einziges Detail, eine schlanke, schmale Hand, zierlich, mit blutigen Fingerspitzen, geballt, obwohl ein silberner Nagel durch die Handfläche sie am hellen Holz des Kreuzes fixiert.

Falls Gref etwas erwidert, dann höre ich es nicht mehr, ich bin weg, sehe nur noch dieses eine Detail: ihre Hand. Das Holz ist hell, fast so hell wie ihre Haut. Eine dünne rote Spur führt von ihrer Hand hinunter zur unteren Kante des Balkens, trotzt dort der Schwerkraft, läuft an der Unterseite entlang, um in einem gefrorenen Tropfen zu enden. Ich folge dem alten, nur geahnten Tropfenfall, sehe im Schnee vor meinen Füßen das gesprenkelte Rot. Ich schließe die Augen einen Moment, ein Fehler, denn ich rieche etwas. Die Kälte dämpft die anderen Gerüche des Todes, das, was folgt, wenn Blase und After sich entspannen, den Geruch des Blutes; die Kälte bindet dieses Miasma, was bleibt, ist ein anderer Geruch, ein Duft, geschaffen, auch in der Kälte zu wirken, ein Parfüm, eher ein Hauch davon, eine Erinnerung, eine leichte Note, nicht schwer, ein Parfüm, wie es eine junge Frau oder ein Mädchen tragen würde. Bevor ich es verhindern kann, will ich mehr sehen, mehr als nur ein Detail, und ich richte den Blick auf das Kreuzstück, den Kopf.

Sie war, sie ist blond. Ihr Haar ist fein, das Einzige an ihr, was nicht erstarren will. Der Kopf ist zur Seite und nach hinten gelegt. Stacheldraht bohrt Wunden in ihre Kopfhaut, ihr Mund ist aufgerissen, gestorben, als dieser letzte Schmerz sie mitnahm, gefroren durch die Kälte. Ihre grauen Augen sehen mich an.

Sie scheinen fokussiert auf mich, als ob es meine Augen wären, in die sie zuletzt geblickt hätte. Eine glitzernde Spur, kristallklar, nicht rot, läuft von ihrem Auge am Mund vorbei zu der Spitze ihres Kinns; auf dem Weg ändert sie die Farbe, bis auch dieser gefrorene Tropfen Tränen rötlich glänzt.

Mir wird schlecht.

Sie ist ein Kind gewesen, kaum älter als vierzehn oder fünfzehn. Nein, denke ich, als mein Blick unwillkürlich ihrem ausweicht und über ihren Körper wandert. Eine Frau ... vielleicht, es ist mir unmöglich, ihr Alter einzuschätzen. Meine Augen wandern wieder zu ihrem jungen Gesicht zurück, zurück zu diesem letzten Blick.

Ihre Augen halten mich, als wolle sie mich nicht gehen lassen, als fordere sie, dass ich sie ansehe. Sie hat junge Augen, ihre Augäpfel besitzen noch dieses strahlende Weiß, das im späteren Leben so selten wird.

Während sie mich mit ihrem toten Blick bannt, zwingt sie mich dazu, sie wahrzunehmen. Ich sehe die Spuren einer scharfen Klinge, sehe die unterschiedlichen Striemen, sehe, spüre und fühle, was ihr angetan wurde, kann mich dem nicht entziehen und will es auch nicht, als sei ich es ihr schuldig. Als ich langsam zurückweiche, verbleibt ihr Blick an der Stelle, an der ich eben gestanden habe. Ich schaue nach unten, auf meine Füße, ich befinde mich innerhalb des Bandes, innerhalb des Bereichs, den die Spurensicherung bereits klärte, den sie als den sichersten Weg zum Opfer auswies.

Ich gebe Tomas Marks ein Zeichen. Ich habe vollständig vergessen, dass ich nicht mehr sein Vorgesetzter bin, aber er kommt zu mir und folgt meinem Blick. Der Schnee zu meinen Füßen ist durch unzählige Spuren vermatscht. Ich trete diesen einen kleinen Schritt vor, befinde mich wieder im Bann ihres Blicks.

»Er stand genau hier«, sage ich leise zu Tomas. »Und er hat meine Größe.« Erneut kostet es mich Mühe, mich von diesen toten Augen zu lösen, und ich bin erleichtert, in das Gesicht eines Mannes zu blicken, der sich damals nicht der allgemeinen Hysterie und Empörung anschloss. »Ihr habt diesen Bereich schon erkennungsdienstlich erfasst?«

Er blickt von mir zu den Augen des toten Mädchens, dann auf den Boden, nickt. »Ja, Marcus. Aber«, er räuspert sich, »es waren schon zu viele hier. Deine Größe? Wieso?«

Ich schaue zu ihr zurück, dann wieder zu ihm.

»Wenn ich hier stehe, sieht sie mir genau in die Augen, Tomas. Ganz exakt.« Ich schlucke, die Stimme will im Moment nicht. Der Blick ist nicht für mich bestimmt, doch ertappe ich mich dabei, ihm ausweichen zu wollen. Es ist keine Ekstase in ihrem Blick zu finden, nur Schmerz, aber auch keine Angst. Er hat sie nicht gebrochen. Es ist ein Blick der Verachtung, ein Blick, lebendig gehalten durch die Kälte. »Sie sah ihren Mörder an, als sie starb.«

Ich mustere sie nun, Zentimeter für Zentimeter, sie verlangt es von mir, zwingt mich dazu. Auch wenn ich wegsehen will, findet mein Blick jedes Detail, sehe ich, was ihr wie angetan wurde. Krüger hatte recht, verdammt soll er sein. Ich hatte gehofft, es wäre nicht so.

Mein Magen zieht sich weiter zusammen, ich kämpfe verzweifelt gegen die aufkommende Übelkeit.

Ein letztes Mal sehe ich in ihre Augen, begegne diesem Blick und weiß, dass ich den Mörder für sie finden werde.

Schatten

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