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Kapitel 3
ОглавлениеAls das leise Säuseln des Rolls verebbt, schrecke ich auf, ich muss wohl eingenickt sein. Caro öffnet mir den Wagenschlag, ihre Augen bitten mich, ihr endlich zu verraten, was los ist, aber ich sage nichts, als ich an ihr vorbeigehe. Der Rolls steht im Hinterhof des Dominions. Hier ist Platz für drei Fahrzeuge und eine große Mülltonne; entlang der niedrigen Mauer um das Grundstück haben sich Abfall und Gerümpel angesammelt, es sieht verwahrlost aus, die Rückseite des Dominions auch.
Die Hintertür ist aus grauem Metall, ein Holzschild mit dem Namen des Clubs prangt darüber, zwei Halogenlampen, gekoppelt an einen Bewegungsmelder, beleuchten Schild und Tür, andere Lampen den Rest des Hinterhofes. Oben an beiden Hausecken befinden sich Kameras, so klein, dass man sie suchen muss.
Allein aus Sicherheitsinteresse ist der gesamte Club verdrahtet. Wüssten meine Gäste, wie viel diese Kameras sehen, sie würden vermuten, dass ich Material für Erpressungen sammle.
Die Technik wurde gemeinsam von Melanie und Amber entworfen und müsste auf einem recht neuen Stand sein; es ist erst zwei Jahre her, dass alles überarbeitet wurde. Melanie ist meine Sicherheitsexpertin und sowohl mit Amber als auch Jacqueline gut befreundet.
Caro schließt mir auf, und wir betreten den Wirtschaftsteil des Clubs.
Es scheint ein Naturgesetz zu sein, dass selbst die besten Clubs tagsüber schäbig aussehen. Dies gilt besonders für die Bereiche, die dem Publikum sonst nicht zugänglich sind. Mir kommt es vor, als sähe ich den Club heute zum ersten Mal, bemerke den verschlissenen Linoleumfußboden des Ganges, auf dem die Räder der Getränkekarren ihre Spuren hinterlassen haben, die zwei prall gefüllten Müllsäcke, die ruhig jemand in die Tonne hätte werfen können, die toten Fliegen im Glas der Lampe an der Decke.
Die Wände sind in dunklem Rot gestrichen, Risse laufen durch den Verputz, teilweise ist die Farbe abgeblättert, und dreckig weißer Putz zeigt sich dahinter.
Die erste Tür auf der rechten Seite, die wir passieren, aus Feuerschutzgründen wie üblich aus Stahl, ist die Tür zur Küche. Der Geruch, der mir hier entgegenschlägt, ist einer von Verwesung. Durch die offene Tür sehe ich zwei Frauen, die ich nie zuvor sah, Ausländerinnen, Marokko, Tunesien, die Gegend, tiefbraun, sie schnattern fröhlich vor sich hin, während sie eher halbherzig die Küche putzen.
Links kommt als Nächstes der Kühlraum, viel zu groß für unsere Bedürfnisse, dann das Getränkelager, dieses zu klein, danach stößt der Gang auf einen anderen, quer verlaufenden. Links führt eine Treppe hoch zu den Büros, neben der Treppe geht eine Tür zur Bar des Bistrobereichs ab. Rechts hat der Gang zwei Türen, eine, die hinter die Theke führt, die andere ist die Bedienungstür für den Clubraum; eine runde Scheibe ist in sie eingelassen, damit man sehen kann, ob einem gerade jemand entgegenkommt.
Ich wende mich nach links, gehe die Treppe hinauf, Caro ein lautloser Schatten hinter mir.
Im ersten Stock führt die Treppe noch weiter hinauf, aber der Aufgang ist zuzementiert. Über uns haben wir eine Wohnung, die mit dem Club nichts zu tun hat, aber ab und zu von Gästen genutzt wird. Ich glaube, zurzeit wohnt Tanja dort.
Hier im ersten Stock gibt es insgesamt zehn Zimmer, einen Aufenthaltsraum, Büros, Besprechungszimmer, Security. Die meisten Räume werden nur sporadisch benutzt. Ich bin recht häufig unten im Dominion, einmal im Monat gehe ich mit Caro die Bücher durch, immer, wenn niemand hier ist, aber ansonsten habe ich mich viel zu wenig um den Laden gekümmert.
Die unmarkierte Tür zum Sicherheitsraum ist aus Stahl, mit Holz furniert, man braucht einen speziellen Schlüssel, um hineinzukommen, fünf Schlüssel existieren, Caro hat einen, ich, Amber, dann noch Melanie und Klaus.
Die Tür ist schwer, stabil und feuergeschützt, die Türangeln neu, der Club leise.
Der Sicherheitsraum ist im Prinzip eingerichtet wie ein normales Büro, mit Archivschränken an der linken Seite, indirekte Beleuchtung, ein bequemer Sessel hinter einem großen halbrunden Schreibtisch, der Platz für sechs Flachbildschirme bietet, die auf dem Tisch ein Kreissegment beschreiben.
Wir haben über hundertdreißig Kameras im ganzen Gebäude untergebracht, natürlich ein Verstoß gegen die Privat- und Intimsphäre. Auf jedem Monitor sind zwölf Kameraperspektiven einsehbar. Um die Privatsphäre unserer Kunden wenigstens ein bisschen zu schützen, sind viele Kameras zwar aktiv, liefern aber nur ein Bild, wenn man einen bestimmten Code eingibt. Speziell, wenn Amber im Dominion ein Gastspiel gibt, sind Caro oder manchmal auch ich stille Zuschauer. Nur Caro und ich, natürlich auch Amber, die das System installiert hat, und Melanie kennen diesen Code, der wöchentlich gewechselt wird.
Gibt es keine besonderen Vorkommnisse, werden die Kameradaten aus den privaten Bereichen automatisch nach 24 Stunden gelöscht. Die Aufnahmen aus dem öffentlichen oder dem Wirtschaftsbereich werden, wie Amber mich erinnerte, auf DVD gebrannt und abgelegt. Dafür gibt es einen großen Stahlschrank, ebenfalls feuergeschützt, der nur mit einer Magnetkarte zu öffnen ist.
Als wir uns vor drei Jahren nach einem unangenehmen Vorfall in den privaten Räumen eine neue Sicherheitsstrategie einfallen lassen mussten, war uns bewusst, dass die Überwachung der Privatbereiche ein gewisses Risiko darstellt. Zum einen wären einige Kunden nicht erfreut zu wissen, dass sie aufgenommen werden, zum anderen mussten wir sicherstellen, dass dieses illegal aufgenommene Bildmaterial nicht zu Erpressungszwecken verwendet werden kann, denn zum Teil sind unsere Kunden wohlhabend und/oder prominent.
Deswegen wird vor allem der Sicherheitsraum selbst überwacht. Die Daten der vier Kameras hier werden auf einem Rechner gespeichert, der sich in diesem DVD-Schrank befindet, in einem eigenen Safe. Nur Amber, Caro und ich haben Zugang zu diesem Safe.
Demzufolge ist es eine kleine Überraschung, Herrn Beckmann vor genau diesem Safe knien zu sehen. Er hat einen Zettel in der Hand und versucht nun, das Kombinationsschloss einzustellen. So vertieft ist er darin, dass er uns nicht einmal wahrnimmt, als die schwere Tür hinter uns mit einem leisen Klicken ins Schloss fällt.
Frustriert murmelt er etwas, dreht ungeduldig an dem Zahlenschloss, versucht sich sichtlich wieder zu beruhigen und fängt von vorne an.
Ich kann seine Frustration verstehen. Dieses kleine Stahlkabinett wurde speziell angefertigt, aber das war zu einer Zeit, als die aktuellen Rechnergenerationen nicht so viel Hitze entwickelten. Vor einem halben Jahr tauschte Amber den Rechner aus, für diesen ist die Wärmezufuhr unzureichend. Ich weiß, dass Amber am Anfang Probleme hatte, der Rechner fiel ständig aus. Jetzt läuft er stabil, aber er wird immer noch sehr warm.
Beckmanns Problem ist, dass das Schloss etwas zu präzise gearbeitet ist, durch die Wärme hat es sich kaum merklich verzogen, es braucht eine entschlossene Hand am Öffnungshebel, um die Tür aufzukriegen.
Beckmanns weißes Hemd ist am Rücken verschwitzt; die Klimaanlage hält diesen Raum auf konstanter Temperatur, also liegt der Grund dafür eher in seiner steigenden Nervosität und Panik.
Caro und ich tauschen einen Blick aus, sie hebt fragend eine Augenbraue. Caro kann, wie ich schon sagte, manchmal richtig bösartig werden. Sie weiß auch durchaus, sich zu verteidigen. Für eine Frau, die sich in diesem Bereich bewegt, ist es mehr als angeraten, sich gegen Männer durchsetzen zu können.
Ich nicke. Sie lächelt leicht, in ihren Augen ist ein gewisses Funkeln, als sie sich langsam und leise in Bewegung setzt. Irgendetwas muss Beckmann mitbekommen haben, im letzten Moment nimmt er sie wahr und schaut hoch, aber da ist es auch schon zu spät.
Er kniet vor der Tür, und als Caro ihn am Hals nach hinten drückt, verliert er das Gleichgewicht. Einen Sekundenbruchteil später liegt er mit wild rudernden Armen auf dem Rücken, der Pfennigabsatz von Caros Schuh drückt ihm auf den Kehlkopf ... Ein bewundernswerter Balanceakt meiner Süßen. Verliert sie das Gleichgewicht oder verlagert zu viel Gewicht auf das Bein, kann dieser Absatz eine Menge Schaden anrichten.
»Ich«, gurgelt er, und Caro gibt etwas Druck nach.
»Ich würde an Ihrer Stelle ruhig liegen bleiben, Herr Beckmann«, sage ich leise und gehe um den Schreibtisch herum, um mich den beiden von der anderen Seite her zu nähern. Ich lasse mich in den schweren Ledersessel hinter dem Schreibtisch fallen und sehe zu ihm hinunter, bewundere die Linie von Caros Bein.
»Wenn Sie zu sehr strampeln, verliert sie vielleicht das Gleichgewicht. Das will, glaube ich, niemand hier.« Ich lächle mein bösestes Lächeln. »Hände an die Seite und still liegen!«, fahre ich ihn dann barsch an. Er zappelt etwas, aber er tut, wie ihm geheißen.
»Langsam auf den Bauch drehen. Hände auf den Rücken. Füße hoch.«
Ich sehe, wie er überlegt, vielleicht rechnet er sich aus, er könnte stiften gehen. Zeit für Zuckerbrot und Peitsche.
»Wenn ich Sie jetzt einfach an die Polizei übergebe, sitzen Sie ganz tief in der Scheiße«, fahre ich im Plauderton fort. »Aber noch ist nicht gesagt, dass Sie dort landen. Also, machen Sie keinen Ärger und tun Sie, was wir Ihnen sagen!«
Er zögert noch eine Sekunde, dann dreht er sich brav und vorsichtig auf den Bauch und legt die Hände auf den Rücken. Zum zweiten Mal an diesem Tage reiche ich Caro acht Kabelbinder, sie braucht nicht wesentlich länger als bei Amber, sie hat eine gewisse Übung darin, andere auf diese Art zu fesseln. Außerdem kennt sie diese Position selbst sehr gut. Ich trage die Kabelbinder hauptsächlich für sie mit mir herum.
Jetzt habe ich keine mehr dabei, muss mir merken, sie wieder aufzufüllen.
Caro tritt zurück, sieht auf Klaus herunter und dreht ihn mit ihrer Schuhspitze auf die Seite.
»Unterschlagung, Diebstahl, Aktenmanipulation, Betrug«, sage ich und stehe auf, gehe langsam zur Kaffeemaschine, die in diesem Raum ein Muss darstellt. Manchmal hat das Dominion bis weit in den Morgen hinein auf, und wer auch immer hier Schicht hat und die zwei bis vier Sicherheitsleute koordiniert, sollte wach bleiben.
»Das reicht, um Sie hinter Gitter zu bringen.« Der Aschenbecher neben der Kaffeemaschine quillt über, ein paar der Zigaretten tragen Lippenstift. Abgesehen davon ist rauchen hier nicht erlaubt. Ich drücke eine Taste, und ein Pappbecher fällt in den Halter, das Gerät beginnt zu gurgeln und drückt dann die braune Brühe in den Becher.
»Ich ...«, beginnt er wieder, aber ich hebe die Hand. »Später.« Ich nehme den Becher, trinke einen Schluck, besser, als ich in Erinnerung hatte, vielleicht andere Bohnen seit dem letzten Mal, und begebe mich zurück zum Schreibtisch, wo ich mich an eine Tischkante lehne.
Caro öffnet gelassen die Tür des Stahlkabinetts, dahinter wird der Computer sichtbar. An seiner Vorderseite sind etliche Schnittstellen eingebaut, ein aufgerolltes Kabel steckt mit einem Ende in einer dieser Schnittstellen. Caro nimmt es auf, rollt es aus und steckt es in einen Schnittstellenport auf der Rückseite des leistungsstarken PCs, der die Überwachungskameras verwaltet.
Dann begibt sie sich hinter den Schreibtisch, zieht die Tastatur heraus, legt die Maus auf den Tisch, gibt den Mastercode ein und hat Sekunden später die Aufnahmen des Sicherheitsraumes auf dem Bildschirm. Man kann diese Bilder auf unterschiedliche Art und Weise betrachten, entweder man lässt die Aufnahmen durchlaufen, oder aber man reduziert sie auf ein Bild alle fünf Minuten ... Das Bild kommt, bleibt eine Sekunde, dann wird fünf Minuten vorgesprungen und wieder ein Bild gezeigt. Da der Raum meist leer ist, kann man so Aktivitäten schnell finden. Wir lassen die Aufzeichnungen rückwärts durchlaufen.
Wir sehen uns, unseren Herrn Beckmann, dann ihn allein, er versucht tatsächlich, das Schloss gute zehn Minuten lang zu öffnen, als Nächstes ist der Raum leer. Dann sehen wir einen jungen Mann, kräftig, in einem schwarzen Anzug; ich glaube, er heißt Giorgio und arbeitet für Melanie, die unser Sicherheitspersonal führt. Das Dominion war bis heute Morgen um drei geöffnet. Wir sehen rückwärts, wie er die Nachtschicht verbringt. Offensichtlich hat er kein besonderes Interesse an den Szenen, die sich auf den Monitoren abspielen, er wirft ab und zu einen Blick darauf, liest aber die meiste Zeit in einem Buch. Hin und wieder ist der Raum leer, er ist austreten oder geht durch den Club. Dann wieder der leere Raum und Beckmann, der seine Schicht beendet. Jetzt sehen wir schon die vorletzte Nacht.
Dann er, hinter dem Schreibtisch, seine Augen auf die Monitore fixiert, ein blonder Kopf zwischen seinen Beinen. Ich brauche nichts zu sagen, Caro weiß, dass wir gefunden haben, was wir suchen. Eine Minute später sehen wir die Szene vom Anfang, der Raum ist leer, dann Beckmann und eine junge blonde Frau, ich merke, wie mir im Magen mulmig wird, schon bevor ich ihr Gesicht sehe, ja, sie ist es, Alice oder Christina Schäfer, wie sie wirklich heißt.
Es passiert eigentlich nicht viel. Beckmann zeigt ihr stolz das System, der Voyeurismus packt sie, sie spielt mit der Konsole herum, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, während Beckmann sie von hinten vögelt. Ihr Interesse gilt
mehr den Monitoren als ihm. Dann, als Abschluss, bläst sie ihm einen, ein Blowjob, dann reicht er ihr ein Papiertaschentuch und bringt sie zur Tür, sie lächelt ihn an, winkt ihm zu und geht.
Nichts Besonderes. Bis auf die Tatsache, dass dies am ersten Januar geschah, eine Nacht bevor sie ermordet wurde.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße!«, flüstere ich. Wäre ich noch bei der Sitte, wäre ich jetzt überzeugt, dass das Dominion mit der ganzen Sache etwas zu tun hat.
»Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht, Beckmann!?«, schnauze ich ihn an, aber ich weiß die Antwort, noch während er mich mit großen unsicheren Augen ansieht. Nichts, nichts hat er sich dabei gedacht. Als Manager eines Clubs wie dem Dominion sieht er wahrscheinlich das Ganze als Bestandteil seines Jobs.
»Ich weiß es nicht«, beantwortet er meine Frage mit einem jämmerlichen Unterton in der Stimme. Es ist kein Widerstand mehr in ihm, er liegt da auf der Seite, schlaff wie ein toter Fisch. »Sie stand aufs Zusehen, und ich hab ihr den Raum gezeigt, sie fand es ultrageil. Es ist nicht das erste Mal ... und bislang hat niemand was gesagt. Die anderen haben es auch schon getan, manchmal wird hier nur rumgevögelt!«
»Natürlich müssen Sie als Manager mit schlechtem Beispiel vorangehen! Wenn publik wird, dass wir die Räume überwachen, ist der Club erledigt.« Er schließt die Augen, sagt nichts, seine Unterlippe zittert, und eine Träne läuft ihm aus den Augen.
Mann, Klaus!
Aber er hat recht. Es ist nicht ganz so, wie er sagt, aber es passiert schon ab und zu. Ich selbst hab es hier schon mit meinen Süßen getrieben. Auch wenn man sich daran gewöhnt, ist dieser Raum ein feuchter Traum für einen Voyeur. Und wer von uns hat keine voyeuristische Ader?
Wer weiß ... Wäre ihr nichts passiert und wäre sie weiter in den Club gekommen, hätte es auch passieren können, dass ich die Kleine mal bespielt hätte. Ich tue das eher selten, aber es kommt vor.
So einen richtigen Vorwurf kann ich ihm nicht machen, aber es bringt mich in eine verteufelte Lage.
Klaus weint.
Caro und ich ignorieren ihn. Sie weiß jetzt auch, wie Alice aussah; gemeinsam suchen wir die Aufnahmen der letzten sieben Tage durch. Es ist nicht leicht, trotz der teuren und guten Kameras ist nicht immer alles gut zu erkennen, ein BDSM-Club ist naturgemäß sehr dunkel. Aber im Lauf der nächsten Stunde finden wir Alice praktisch jeden Tag im Dominion.
Auf der Silvesterparty ist sie auch dabei und mitten im Geschehen, sie wird mindestens dreimal bespielt. Caro markiert die Szenen; wir wissen beide, dass wir das alles noch einmal gründlich durchsehen müssen. Und dass die Polizei es auch tun wird.
»Mist«, sagt Caro leise; sie hat vergessen, dass mein Chauffeur nicht redet, aber diesmal ist es mir egal. Ganz ohne ein Signal ist Caro plötzlich wieder Caroline.
Der kritische Tag ist gestern, der zweite Januar. So wie es aussieht, war sie gestern nicht im Club. Caro und ich sehen uns die Aufnahmen ein zweites und drittes Mal an. Es ist, als ob wir durch ein Fenster in die Vergangenheit blicken. Ich kenne die meisten der Gäste, dies ist mein Club, und ich kann mir die vergangene Nacht sehr gut vorstellen, auch wenn ich nicht hier war.
Ich weiß auch, warum wir sie hier nicht finden ... Die eingeblendete
Uhrzeit auf der Aufzeichnung sagt 3.45. Das war heute Morgen.
»Beckmann«, sage ich leise, als mir klar wird, dass sie schon tot war, als diese Aufnahmen gemacht wurden. Wir brauchen nicht weiter nach ihr zu suchen. Ich weiß nicht, warum ich so lange gebraucht habe, um es zu verstehen, vielleicht bin ich einfach nur zu müde.
»Ja?«, kommt die zögerliche Stimme von unten.
»Beckmann, Sie haben gar keine Ahnung, wie tief Sie in der Scheiße stecken. Wenn ich Sie da raushole ... gehört Ihr Arsch mir, ist das klar?«
»Ja, Herr Wolf.«
Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie ich das anfangen soll, selbst wenn ich auf eine Anzeige verzichte. Wenn sich die Kollegen von der Sitte um ihn kümmern, wird es unangenehme Fragen geben – und ich werde sie beantworten müssen.
Ich bin nicht einfach nur sauer auf ihn, ich muss mich beherrschen, dass ich meine ganze Wut nicht an Klaus auslasse. Diesmal muss es für ihn Konsequenzen geben, ungestraft darf er nicht davonkommen. Wenn er unbedingt seinen Spaß haben will, dann doch, bitte sehr, in den Clubräumen! Wofür steht denn an der Tür zur Treppe Nur für Personal?
Ich schaue auf den Monitoren nach, wo sich Tanja aufhält, und rufe sie an. Ich sehe auf dem Kameraausschnitt, wie sie überrascht das Telefon an der Bar ansieht.
»Behrens?«
»Tanja, kannst du bitte in den Sicherheitsraum kommen?«
»Sofort, Marcus. Wusste gar nicht, dass ihr da seid.«
Wenige Minuten später klopft es an der Tür, und Caro lässt Tanja herein, die überrascht Beckmann mustert, der sie vom Teppich aus mit aufgerissenen Augen ansieht.
»Tanja. Dieses Stück Scheiße hier will seinen Job nicht verlieren. Und ja, wir brauchen ihn noch. In drei Stunden. Lass ihn etwas Schriftliches unterzeichnen. Bis dahin mach ihm klar, was er für ein Stück Scheiße ist. Ich brauche es auf Film, also bleib im Rahmen.«
»Ich soll ihn ...?« Tanja ist fassungslos.
»Er hat das dringende Bedürfnis, für die nächsten drei Stunden dein Sklave zu sein, nicht wahr, Beckmann?«
»Ich ...« Man kann sehen, wie er aufgibt. Er nickt, zögerlich zwar, aber es ist eine Zustimmung.
»Ich kann Sie nicht hören, Beckmann. Wenn Sie ›Nein‹ sagen, lassen wir Sie frei, und Sie können einfach aus der Tür hinaus. Und aus dem Club.«
»Ja«, sagt er, seine Stimme zittert ein wenig. »Ich will Tanja dienen.«
Tanja sieht von mir zu Caro und wieder zu Beckmann.
»Ihr meint das ernst?«, fragt sie mit ihrer Reibeisenstimme.
»Sicher«, sage ich. »Er hat uns betrogen und bestohlen. Er will Buße tun, damit er seinen Job behält. Denk dran, nachher ist er wieder dein Vorgesetzter.« Tanja nickt. Sie mustert ihn kühl.
»Moment, ich bin gleich wieder da«, sagt sie und eilt aus dem Raum. Beckmann weint.
Ich ignoriere ihn und wende mich Caro zu, die mich mit neuem Respekt ansieht.
»Das mit Amber wird heute Nacht nichts«, sage ich. Ich sehe, wie sie den Mund aufmacht, dann aber langsam nickt. Es gefällt ihr nicht. Nicht wegen ihrer »Rache« an Amber, es sind die Einladungen, die schon hinausgegangen sind. Wenn
wir die Party für heute Nacht absagen, verlieren wir gigantisch an Ruf.
In einem der Fenster auf den Monitoren sehe ich Alice, sie steht an der Bar und lacht, ihr Lachen vom Computer scheinbar für alle Zeiten eingefroren.
»Wir brauchen Amber. Sie kennt sich von uns allen am besten mit diesem System aus. Wir müssen exakt wissen, wer hier war, vorgestern.«
Sie nickt langsam.
»Du glaubst, der Dreckskerl hat sie hier bei uns abgegriffen?«
Ich hoffe nicht. Ich glaube es nicht. Aber ich habe so ein verdammt schlechtes Gefühl im Bauch. Also nicke ich langsam.
»Scheiße«, sagt sie leise. Ich deute auf eine Ecke des Raumes, in der sich eine der Kameras befindet, die diesen Raum überwachen. »Alles, was wir hier tun, wird als Beweismittel ausgewertet werden, einschließlich der DVDs. Die müssen wir so schnell wie möglich an die Kripo überbringen. Aber ich will vorher Kopien.«
Sie nickt erneut.
»Jacqueline soll den Mercedes nehmen und sich beeilen herzukommen. Mit Amber«, teile ich ihr mit. »Für die Abendunterhaltung muss jemand anderes sorgen.« Ich sehe sie direkt an, ihre Augen weiten sich. Vielleicht wird sie etwas bleich um die Nase, aber sie nickt. »Ja, Herr.«
Ich schüttele langsam den Kopf. »Nicht du. Du kennst den Club zu gut. Ich brauche dich hier. Nein. Jacqueline.«
»Aber Jacqueline hat doch gar nichts getan!«, entfährt es ihr.
Ich sehe sie hart an. »Ja. Du und Amber habt das zusammen ausgeheckt, nicht wahr?«
Sie blinzelt, ich sehe, wie ihre Pupillen sich weiten und zusammenziehen. Es war ein Schuss ins Blaue, aber wohl ein Treffer.
»Ich weiß nicht, ob Jacqueline das kann«, sagt sie dann leise.
Ich zucke die Schultern. »Entweder sie oder jemand anderes.« Ich bin überrascht, wie hart ich mich anhöre. Als wäre es egal. Aber das ist es nicht. Am liebsten würde ich es ganz abblasen, aber das geht einfach nicht. Und wenn ich ehrlich bin, kickt mich der Gedanke, dass es Jacqueline sein wird. Unsere ruhige, stille Jacqueline. Ich rede weiter. »Ich brauche dich und Amber hier. So schnell wie möglich. Du kennst unsere Gäste am besten. Und Amber kann mit dem Computer zaubern. Ich will wissen, wer vorgestern alles hier war. Und ich will alle hierhaben, die Alice auch nur einmal angesehen haben!«
Es klopft an der Tür.
Caro geht langsam hin und öffnet sie, Tanja steht dort, mit einem Sackkarren aus dem Getränkeraum. Trotz allem muss ich lächeln, als ich Beckmanns Gesicht sehe, dem auf einmal klar wird, wie Tanja ihn abtransportieren wird.
Das Lächeln vergeht mir schnell. Es brennt an allen Ecken und Enden, und ich habe jetzt keine Zeit für seine Spielchen. So ist er wenigstens aus dem Weg; um den Mist, den er sich geleistet hat, kümmere ich mich später.
Damit ist für mich das Problem Beckmann erst einmal vom Tisch, und ich kann mich auf Alice, nein Christina, konzentrieren. Ich gehe hinüber in mein Büro, um mir anzusehen, was Krüger mir geschickt hat.
Mein Büro hier im Dominion ist genauso eingerichtet wie das im Chateau, nur hat es keine Fenster. Es hatte mal eines, aber es ist zugemauert, aus Sicherheitsgründen. Dass dieses Büro dem anderen gleicht, ist kein Wunder, derselbe Innenarchitekt hat es gestaltet. Amber und Caro haben hier gewirkt, wie auch im Chateau, doch ich nicht.
Caro ist unten im Club, bereitet ein paar Dinge vor, ich sitze hier und brüte. Dann öffne ich meine E-Mails; ich habe auch von hier aus auf sie Zugriff und damit auf die digitalen Akten, die mir Krüger geschickt hat.
Zuerst lasse ich den Ordner mit den Bilddaten geschlossen, nehme mir nur die Ermittlungsakten vor. Wie lange ich das tue, weiß ich nicht, ich sehe mir einfach alles an. Ich denke noch nicht nach, das wird später kommen, ich lese alles, versuche, mich nicht zu sehr vom Autopsiebericht und der Pathologie mitreißen zu lassen.
Christina Schäfer, 17 Jahre alt, 1.1.2006.
Alice. Ich kann nicht umschalten, für mich bleibt sie Alice.
Angelina di Monti, 15 Jahre alt, 26.12.2005
Helga Berg, 16 Jahre alt, 19.12.2005
Zu jeder Ermittlungsakte gehört ein Bild des Opfers, oben links, ein Bild aus Lebzeiten, nicht das, was man später sieht, damit man an den lebenden, lachenden Menschen denkt und nicht an das, von dem man sich unwillkürlich distanzieren will. Zwei lachende junge Frauen. Alices Bild fehlt, ihre Akte ist fast leer, die Spurensicherung ist bestimmt noch immer am Tatort und wendet jeden Grashalm dreimal.
Unser Mörder tötet seit drei Wochen in der Nacht zum Montag.
Die Ermittlungsakten decken ein weites Feld ab. Die Kreuze zum Beispiel sind vorgefertigt und mit wenigen Griffen aufzubauen. Aber die Verankerung im Boden ist schwierig, der Boden war an allen drei Tatorten gefroren, dennoch gab es dort jeweils ein sauber ausgeschachtetes Loch von ziemlich genau 30 Zentimeter Tiefe. Er bereitet seine Tatorte vor. Das Holz der Kreuze gehört zur selben Lieferung, die Balken sind aus einem Baum geschnitten, die Maserung des Holzes passt zusammen. Eiche. Schwere, stabile Eiche. Der senkrechte Balken ist knapp unter drei Meter lang: 2,97 Meter. Bei allen drei Kreuzen. Ein krummes Maß, war das Holz verschnitten? Die verwendeten Beschläge gibt es in jedem Do-it-your-self-Laden, theoretisch möglich, das nachzuverfolgen, praktisch aber nicht. Kein Ergebnis hier.
Die Wunden ... Von Mal zu Mal wurde er brutaler, aber zum Schluss war es immer eine schwere Bullenpeitsche, die den Tod brachte. Stellas pathologischer Bericht, letztlich zwischen den Zeilen: Tod durch Systemschock und Kreislaufversagen.
Technisch wäre es möglich, diese Tortur zu überleben. Praktisch gibt das Opfer auf und stirbt.
Ich glaube, ich werde länger brauchen, um die Snake wieder anzufassen.
Details, Beschreibungen, Schuhgröße der Opfer, Gemeinsamkeiten, Differenzen. Über Alice gab es noch nicht viel, im Prinzip nicht mehr als ihren Namen.
Alle Opfer waren blond, sportlich, hatten graue Augen. Alle Opfer trugen Spuren früherer SM-Spiele. Ich betrachte das Bild von Angelina di Monti. Fünfzehn Jahre alt und Spuren einer Session?
Gott, hat es denn heute jeder eilig, gleich alles und sofort bis zur Neige zu kosten? Sie hätte doch ein ganzes Leben dafür Zeit gehabt! Wenn man es ihr nicht genommen hätte!
Ist es Beckmann denn wirklich so egal? Versteht er nicht, dass es nicht nur uns Schwierigkeiten bereitet, wenn eine Minderjährige hier hereinkommt?
Wie konnte es denn überhaupt geschehen, dass man sie in den Club ließ?
Das Bild zur Akte stammt aus dem Familienalbum, sie sieht aus wie das, was sie war, ein junges Mädchen an der Schwelle zur Frau. Wie sah sie aus, wenn sie sich aufreizend kleidete? Konnte sie dann als älter durchgehen? Ich drucke ihr Bild und das des anderen Mädchens aus. Waren sie auch in meinem Club?
Es klopft an der Tür, ich rufe »Herein«, und Amber erscheint im Türrahmen. Ich werfe einen Blick auf die Uhr, ja, es ist schon so spät, kurz vor halb fünf. Amber sieht mich unsicher an, ich winke ihr, hereinzukommen. Dass sie unsicher ist, sieht man nur, wenn man sie so gut kennt wie ich. Sie trägt ein dunkles Business-Kostüm, hochgeschlossen und tailliert, mit einem wadenlangen Rock mit einem Schlitz hinten und dazu Schnürstiefel mit hohen Absätzen, eine sehr vielseitige Kleiderauswahl. Die Haare sind frisch gewaschen, das Make-up perfekt, so dezent, dass man meinen könnte, sie trüge keines. Ich habe mir abgewöhnt, mir über die Wandlungsfähigkeit von Frauen Gedanken zu machen, es ist einfach so, aber manchmal fällt es mir noch auf, so wie jetzt. Diese Amber trägt die Rüstung einer erfolgreichen Geschäftsfrau und hat nur sehr wenig gemein mit der Frau, die vorhin, zusammengebunden wie ein Kalb, auf dem kalten Boden der Garage von meinen Fingern zum Orgasmus gebracht wurde.
»Ich habe gehört, es gibt eine Planänderung?«, fragt sie und streicht sich über den Rock. Dieser sitzt perfekt, aber die Geste modelliert ihr Bein und wirkt entzückend nervös, als habe sie ein schlechtes Gewissen. Beinahe lächle ich, ich möchte wetten, dass sie ein schlechtes Gewissen hat. Sollte sie ja auch haben!
»Ja«, sage ich. »Ich brauche deine Fähigkeiten. Komm rein und setz dich. Was ist mit Jacqueline und Caro?«
»Sind beide da, zurzeit sind sie oben bei Tanja. Jacqueline ist völlig fertig.« Amber sinkt elegant in einen der Besuchersessel vor meinem Schreibtisch, schlägt die Beine übereinander und legt die Hände in den Schoß, schaut mich aufmerksam und konzentriert an, als gäbe es außer mir nichts anderes in ihrem Universum, das wichtig wäre.
Ich überlege gerade, ob ich hier jemals Besucher hatte und ob es sein kann, dass sie die Erste ist, die in diesem Sessel sitzt, seit er gekauft wurde. Denkbar ist es, so wenig wurde dies alles bisher genutzt. Es sind Ausweichgedanken; wenn ich so von einer Frau angesehen werde, bringt mich das aus dem Konzept.
Sie wartet, ihr Blick immer noch so offen, so verletzlich, so vertrauensvoll und ... deutlich schuldbewusst. Ich sage nichts, sie schluckt, befeuchtet die Lippen. Es ist der gleiche Vorgang bei allen Frauen; warum ist er so unterschiedlich, je nachdem, welche Lippen es sind?
»Herr Marcus ... sie ist darauf nicht vorbereitet«, platzt sie dann heraus. Es ist klar, wen sie meint: Jacqueline. Als ob ich das nicht wüsste, als ob mir das nicht klar wäre. Jacqueline war ja bei der Planung dabei.
Der Gedanke, benutzt zu werden, von einer ungewissen Anzahl Menschen, auf ungewisse Weise über ungewisse Zeit ... Für Amber wäre es ein Kick, für Jacqueline ist es wahrscheinlich ein Albtraum, kein Kick für sie, nur Hingabe. Sie ist die scheueste der drei.
Als Amber und Jacqueline nach ihrer Ausbildung zum Chateau zurückkehrten, beschlossen sie, mich zu verführen, mich zu ihrem Herrn zu machen. Mit Caros Hilfe gelang es ihnen auch. In einer denkwürdigen Nacht gaben sie sich mir alle drei – wenn ich auch manchmal das Gefühl hatte, dass es umgekehrt war, dass sie mich nahmen. Jacqueline sieht sich auch als meine Sklavin an, aber bis auf diese eine Nacht habe ich sie nicht mehr berührt. Ihr Dienst ist es, das Chateau zu führen und ein Heim für uns alle daraus zu machen. Sowohl Caro als auch Amber benutzen Jacqueline schamlos als Dienstmädchen und Zofe. Wenn nicht ab und zu Amber sie nach unten in die offenen Räume des Chateaus führen würde, um dort mit ihr zu spielen, könnte man glatt meinen, Jacqueline hätte damit gar nichts am Hut.
Anders Amber. Ab und zu sah ich sie, hier oder im Chateau, wie sie am Rand stand und zusah, ständig belagert von den Reihen ihrer Bewunderer. Wenn sie sich gibt, gibt sie sich vollständig, wenn sie es in sich hält, ist sie unberührbarer als die kälteste Domse. Sie treibt die Herren Doms zur Verzweiflung, vor allem diejenigen, die schon das Vergnügen mit ihr hatten. Diesmal hat Amber sich seit fünf Monaten zurückgehalten, aber ab und zu, wenn ich sie beobachtete, wie sie anderen zusah, bemerkte ich diese kleinen Bewegungen an ihr, die mir sagten, wie heiß sie darauf war.
Natürlich ist Jacqueline nicht darauf vorbereitet, über zwei Jahre habe ich nichts von ihr gefordert, und jetzt eine totale Selbstaufgabe. Ich frage mich, ob ich ihr damit etwas beweisen will. Will ich sie zwingen, Position zu beziehen? Will ich, dass sie sagt, nein, das könne sie nicht für mich tun? Ich weiß es noch nicht, aber ich werde es bald erfahren.
Amber hingegen – sie ist seit Monaten auf diesen Punkt zugelaufen, auf diese Explosion ihrer Begierden. Scheinbar ist es Caros Wille gewesen, in Wirklichkeit haben die beiden konspiriert, damit Amber die Lusterfüllung findet, die sie sich wünscht, aber nicht selbst erreichen kann.
Ich sehe sie lange an, sie hält meinen Blick, aber ich spüre, wie die Gedanken hinter ihrer hübschen Stirn wirbeln.
»Du warst es, nicht wahr? Vorbereitet darauf, meine ich«, sage ich dann. Sie zögert, es ist schwer für sie, das zuzugeben, sie will es ja, aber sie will es auch wieder nicht. Sie will dazu gezwungen werden, wie Jacqueline nun letztlich von mir gezwungen wird. Für einen Moment befürchte ich, sie will es abstreiten, aber dann entschließt sie sich dazu, ehrlich zu sein. Sie senkt den Kopf und nickt langsam.
»Das ist schon seit Langem ein Stück Kopfkino bei mir. Wir wussten, dass du so etwas nicht magst, nicht bei uns. Also kamen Caro und ich auf die Idee, eine Situation zu erzeugen, in der du es erlaubst.« Sie sieht auf ihre gefalteten Hände hinunter, die brav in ihrem Schoß liegen. »Caro meint, du hättest es gewusst«, sagt sie dann leise. »Ich dachte nicht, dass es so wäre, du hast dich in letzter Zeit so selten um uns gekümmert.«
Ich sehe sie an, diese bildschöne Frau, in der das Leben nur so zu vibrieren scheint, wie sie nun dasitzt, unglücklich und wie ein gescholtenes Kind.
»Amber, warum bist du ins Chateau zurückgekommen?«, frage ich sie. Ich habe ihr diese Frage schon oft gestellt.
»Weil es mein Zuhause ist«, sagt sie, die gleiche Antwort wie sonst. Aber da ist noch mehr, viel mehr. Vielleicht finde ich es jetzt heraus. Ich atme tief durch.
»Amber, liebst du mich?«
Sie sieht überrascht auf, ihre schönen Augen weiten sich.
»Ja, natürlich«, sagt sie dann. »Sonst wäre ich ja nicht hier!« Sie lässt den Kopf sinken. »Sonst wäre das Chateau nicht mein Zuhause«, sagt sie so leise, dass ich sie kaum höre.
Sie liebt mich. Sie sagt es, als gäbe es keine Alternative, als müsste es so sein. Ich weiß, dass es nicht so ist. Es gibt jede Menge Menschen, die keinerlei Probleme damit haben, mich nicht zu lieben.
»Amber ... warum? Ich habe dir nie etwas gegeben, was du nicht verdient hättest, und als ich euch beide fand, versuchte ich nur etwas wiedergutzumachen, das nie hätte geschehen dürfen. Mein Onkel war ...«
»Ein Arschloch«, sagt Amber und lächelt leicht, als ich sie überrascht ansehe. Sie legt sonst sehr viel Wert darauf, mich nicht zu unterbrechen. »Das weiß ich heute auch. Aber als ich ein Kind war, gab er mir ein sauberes warmes Zimmer, hübsche Kleider und Spielsachen und einen Rahmen. Dass andere Mädchen mit elf Jahren nicht mit einem Dildo spielen, ist mir durchaus klar.« Sie sieht mich an, ihre Augen sagen mir, wie wichtig es ihr ist, dass ich endlich verstehe. »Aber er gab mir Liebe und Zärtlichkeit.«
»Nein. Er hat dich missbraucht.« Ich stehe auf und gehe zu ihr hinüber, knie mich vor sie, um ihre Hand zu ergreifen. »Wir haben schon hundertmal darüber gesprochen. Mein Onkel war ein Päderast, und er hat dir etwas genommen!« Ich denke an Alice und die anderen. »Er hat dir die Möglichkeit genommen, dich zu entscheiden! Eine Kindheit ist dazu da, Kind zu sein, nicht für alte Päderasten als Spielzeug zu dienen! Verdammt, Kinder gehören geschützt und nicht missbraucht! Ich ...«
Sie nimmt meine Hand und drückt sie.
»Marcus. Ich weiß das. Du hast mich und Jacqueline ja damals zu der Therapie geschickt. Wir haben den Psychiatern zugehört und die Zusammenhänge allmählich auch begriffen. Ich weiß, was für ein Arschloch dein Onkel war. Was ich dir sagen will, ist, wie es sich für mich anfühlte, nicht, wie es objektiv war!« Sie lacht leise. »Du kannst mich gern zu einem anderen Psychiater schicken. Er wird dir bestätigen, dass ich eine erwachsene Frau bin, über eine stabile Persönlichkeit verfüge und meine Kindheit ordnungsgemäß verarbeitet habe. Ich bin nicht selbstzerstörerisch!« Sie sieht mich durchdringend an. »Marcus, das ist wirklich so. Ich bin kein Kind mehr. Glaube mir, es ist alles in Ordnung.«
Wieso stürzt sie sich dann immer wieder in solche Situationen?, frage ich mich. Manchmal ist es sogar für mich zu viel.
»Und was war das mit der Herrenrunde das letzte Mal? Weißt du, dass Caro mich davon abgehalten hat, das Spiel abzubrechen? Manchmal habe ich das Gefühl, dass du kopfüber ins Verderben springen willst!«
»Marcus!«, sagt sie mit einem empörten Blick. »Du kannst das nicht wirklich denken, oder? Es ist gerade das Gegenteil der Fall, ich tue das, um mir zu beweisen, dass ich stärker bin, dass ich nicht daran zerbrechen werde, dass es mich nicht mehr fertigmacht!« Es beruhigt mich, das zu hören, aber ganz verstehen kann ich es immer noch nicht. Amber erkennt es wohl in meinem Blick.
Sie lächelt immer noch, nur, dass dieses Lächeln eine andere Qualität hat. Es ist ein Lächeln, das eine ungeheuerliche Ruhe und Sicherheit ausstrahlt, während sie versucht, es mir zu erklären.
»Marcus ... Ich lebe auch außerhalb des Chateaus. Ich habe viele Verehrer, und es gibt eine ganze Reihe Männer, die mir schon Anträge gemacht haben.« Sie lacht leise. »Zwei wollten mich von dir kaufen.«
Ich sehe sie fassungslos an. Kommen Leute ernsthaft auf solche Gedanken!? Gibt es wirklich Menschen, die denken, andere Menschen wären Besitz?
Sie sieht mein Gesicht und lacht. »Ich glaube nicht, dass sie es wirklich ernst gemeint haben.« Ihr Lächeln wird breiter. »Manchmal bist du einfach nur süß, Marcus. Ich versuche es dir jetzt zu erklären, du scheinst es ja nicht verstehen zu können. Aber ich werde es nur dieses eine Mal tun, weil ich denke, es ist wichtig für dich.«
Ich spüre ihr Charisma, kann jetzt, in diesem Moment, fühlen, welch starken Willen sie hat und warum männliche Subs sich ihr in Scharen zu Füßen werfen wollen. Sie ist, wie sie ist, und sie ist genau so, wie sie sein will. Ich wusste es schon früher, aber irgendwie verstehe ich es erst jetzt.
Mein Onkel hat ihr eine Narbe geschlagen, einen Weg verbaut, doch sie ist ein Kämpfer, ging nicht unter. Das ist es, was sie mir sagen will. Dass sie einen anderen, eigenen Weg für sich gefunden hat, damit umzugehen, trotzdem ein erfülltes Leben zu führen. Ein ungewöhnlicher Weg, einer, den viele nicht verstehen werden, der aber eben ihr Weg ist!
Ich warte, während sie sich die Worte zurechtlegt. Es ist eine andere Amber, die jetzt hier sitzt, sie hat eine Ausstrahlung, die mich unglaublich berührt, sie strahlt so viel Sicherheit und Ruhe aus, wie ich es selten zuvor erlebt habe.
»Marcus«, sagt sie dann. »All die anderen Menschen, die mir begegnen, die sagen, sie lieben mich, die meine Liebe wollen, sie haben einen schlechten Stand, sie kennen mich nicht. Sie wissen nicht, wer ich bin, und sie könnten nicht akzeptieren, wie ich geworden bin, wer ich bin. Du hast nie geurteilt. Es gab nie einen Vorwurf von dir oder ein Zeichen der Verachtung.«
Sie sieht meinen überraschten Blick und grinst. »Ich kann sehr wohl Spiel von Leben unterscheiden!« Sie beugt sich vor. »Man kann lieben, wo die Gefühle hinfallen. Man kann auch etwas von Liebe verlangen, ihr ein Ziel geben. Oder man kann bewusst entscheiden, dass man liebt und wen man liebt. Du bist der erste Mensch, der je um mich weinte. Damals, als du herausfandest, was mit uns, Jacqueline und mir, geschehen war. Du weintest um uns, um mich und Jacqueline. Wir haben es beide nicht verstanden. Jetzt verstehen wir es. Beide haben wir uns entschlossen, dich zu lieben. Dass du uns nicht liebst«, ihre Augen funkeln halb amüsiert, halb frustriert, »macht es uns nicht gerade leicht. Aber wenn man devot ist, wie ich es bin und auch Jacqueline auf ihre Art, dann ist es genau diese Entsagung, die unsere Liebe zu dir so bewusst klar und rein hält. Unsere Liebe zu dir macht uns glücklich. Ich dachte, dass du es mittlerweile verstehst, du bist doch hier der große Dom, du solltest wissen, wie das läuft. Diese Liebe ist es auch, die es Jacqueline und mir erlaubte, uns aus dem Dreck herauszuziehen. Sie gab uns ein Ziel, das Ziel, dich nicht zu enttäuschen.«
Sie setzt sich wieder gerade hin, sieht mir direkt in die Augen. »Jetzt habe ich es dir gesagt. Ich werde es nicht wiederholen.«
Ja, jetzt hat sie es mir gesagt. Bevor ich wieder Worte habe, ich immer noch protestieren möchte, spricht sie weiter.
»Wenn ich es könnte, würde ich heute deinen Onkel grad noch mal umbringen. Langsam, so, dass er es genießen kann«, sagt sie mit vor Sarkasmus triefender Stimme. »Aber ich habe bei ihm gelernt, dass Geilheit ohne Gewissensbisse, dieses Aufgeben aller Verantwortung, dieses pure Geben und Genommenwerden, für mich der Weg zur Lust ist. Ob er dies in mir schuf oder nur fand, weiß ich nicht, es ist auch egal. Es ist so, und ich will es. Weil ich weiß, dass es dir eigentlich nicht gefällt, will ich es selbst manchmal nicht – bis ich kaum mehr an etwas anderes denken kann und es haben muss. Als wir in dieser Schule waren, bin ich manchmal abgehauen und habe mich verkauft, weil ich es nicht mehr aushielt. Jacqueline ist anders. Sie freut sich daran, dir Rosen zu schenken, das Chateau in einwandfreiem Zustand zu halten, dich zu bedienen, ihre Erfüllung liegt darin. Aber sie wird sich heute Nacht genauso rückhaltlos geben, wie ich es getan hätte.«
Sie lässt den Kopf sinken und schaut wieder auf ihre Hände, sitzt kerzengerade und still da, alles an ihr teilt mir mit, dass sie gesagt hat, was sie sagen wollte, und sich jetzt zu diesem Thema nicht mehr äußern wird, vielleicht nie wieder.
Ich räuspere mich. Bei allem, was passiert ist, mit den Morden, mit allem, was anders ist, als ich dachte, weiß ich nicht, was ich denken kann oder soll. Ich weiß nur, dass Amber mit ihren Worten irgendetwas tief in mir berührt, dass ich aber im Moment keinen Raum habe, das zu verarbeiten. »Amber, ich weiß nicht ...«
»Caro sagt, du brauchtest meine Fähigkeiten. Ich denke, du meinst damit etwas anderes als Sex. Irgendetwas ist heute los, ich weiß ein bisschen was, aber es wird Zeit, glaube ich, dass wir alle mehr erfahren.« Sie unterbricht mich schon wieder, aber sie hat recht.
»Ja«, sage ich, selbst ein wenig erleichtert, dass sie das Thema so entschlossen wechselt. »Genauso sehe ich das auch.« Ich denke, ich weiß auch schon, wie wir aus diesem Schlamassel wieder herauskommen.
»Amber, ich will das Ganze nicht mehrfach wiederholen, ich will Caro und Jacqueline auch hierhaben. Sag, haben wir irgendwo einen Projektor?«
»Für Computerpräsentationen?«, fragt sie, noch während ich zum Telefon greife, um oben in der Wohnung durchzuklingeln.
Ich nicke.
»In dem Schrank da drüben«, sagt sie. »Soll ich ihn anschließen und aufbauen?«
Ich nicke, gleichzeitig geht oben jemand ans Telefon.
»Ja?« Tanjas Stimme. Amber steht auf, drückt mit einem schlanken, sauber manikürten Finger die Lautsprechertaste am Telefon, wirft mir ein Katzengrinsen zu und begibt sich zum Schrank hinüber.
»Lebt Beckmann noch?«, frage ich, während ich Ambers Hintern bewundere, als sie graziös in die Hocke geht, um den Projektor aus dem unteren Fach des Schrankes herauszuholen. Sie zu sehen und zu wissen, dass sie so vollständig mein ist, gibt mir einen Ständer. Zur Abwechslung aber kein schlechtes Gewissen.
Tanja lacht, es klingt sowohl zufrieden als auch gehässig. Ich versuche, mich wieder auf sie zu konzentrieren.
»Ja«, spricht sie weiter. »Er ist sehr, sehr einsichtig geworden. Wir sind uns einig, dass er weiterhin Manager spielen darf, aber mir Rechenschaft schuldig ist. Ich glaube, es gefällt ihm, Sklave zu sein. Er hat sich nur nicht getraut! Feige Sau, die er ist.«
Ich schüttele lächelnd den Kopf und bin froh, dass ich dieses Amüsement verspüre. Bis vor Kurzem war mir nicht so sehr nach Lächeln zumute. Amber grinst mich an und leckt sich die Lippen. Katze. Da die drei immer unter einer Decke stecken und Caro die Spitze der Hackordnung einnimmt, die auch Tanja einbezieht, denke ich, dass Klaus Beckmann nie wieder derselbe sein wird. Ich glaube auch nicht, dass es ihm schadet.
Aber so, wie Amber grinst, wird er das Vergnügen haben, auch sie kennenzulernen. Armes Schwein. Oder der Glückliche.
Ich reiße mich zusammen, als mir bewusst wird, dass Tanja auf meine Reaktion wartet.
»Gut«, sage ich. »Dann sieh zu, dass er hier antrabt und seine Arbeit wieder aufnimmt. Gib mir bitte Caroline.«
»Ja, hier, für dich, Caro ...«
»Ja?« Caros Stimme.
»Ich brauche dich und Jacqueline hier in meinem Büro. Es wird Zeit, dass ihr wisst, worum es eigentlich geht.«
»Wir kommen«, sagt sie, ich lege auf.
Im Haus ertönt ein Gong – das Zeichen für die Belegschaft, dass das Bistro und Restaurant zu öffnen sind. Irgendwann heute Nacht, wenn der Morgen wieder nahe ist, wird es zwei weitere Gongschläge als Zeichen für unsere Gäste geben: der erste, um Mitternacht einzuläuten, der zweite, um bekannt zu geben, dass das Dominion in Kürze schließen wird. Heute Abend kommen ausschließlich geladene Gäste, aber einige von ihnen werden sich schon bald im Café einfinden, wo sie mit ihren neuesten Fetischmoden Aufsehen erregen können.
Die Tür öffnet sich, es sind Caroline und Jacqueline. Caroline ist die Einzige, die an meinen Türen nicht zu klopfen braucht.
Beide haben sich ebenfalls umgezogen, es ist, als wären sie in Uniform. Sie tragen das gleiche Kostüm und die gleichen Accessoires, bis hin zu den Stiefeln, wie sie auch Amber trägt.
Caro lächelt leicht, als sie hereinkommt. Ihre Augen werfen mir einen Kuss zu, doch es ist Jacqueline, der ich mein besonderes Augenmerk schenke. Amber sprach von sich und von Jacqueline, davon, dass auch sie aus ähnlichen Beweggründen bei mir sein will.
Es ist nicht so, dass Jacqueline sich normalerweise vernachlässigt, sie ist immer adrett und sauber gekleidet, trägt oft die Kostüme, die Teil des Spiels zwischen uns sind, mit Grazie und Eleganz. Aber diesmal sehe ich, dass sie sich besonders viel Mühe gegeben hat, perfekt zu sein. Ihre Wangen sind gerötet, in ihren Augen bemerke ich etwas Unsicherheit und dass sie permanent an nachher denkt, aber sie wirkt gefasst. Das Lächeln, das sie mir zuwirft, scheint echt. Ich weiß plötzlich, dass sie es tun wird, ohne mir auch nur ansatzweise einen Vorwurf zu machen. Ich begreife plötzlich, dass es keine Möglichkeit mehr gäbe, etwas zu ändern. Jacqueline würde es mir nicht verzeihen.
»Setzt euch«, sage ich. »Ihr müsst wissen, worum es hier geht.« Ich warte, bis sie Platz genommen haben und die Projektionswand ansehen, die Amber irgendwo hergezaubert hat; sie kommt, wie ich gerade sehe, aus einem Schlitz in der Decke. Ich wusste nicht, dass so etwas hier eingebaut ist, vielleicht sollte ich mich doch mal mit ein paar Dingen vertraut machen.
»Dies hier sind Helga Berg, sechzehn, und Angelina di Monti, fünfzehn Jahre alt. Das ist Christina Schäfer, siebzehn.«
Alice. Irgendwie berührt sie mich besonders, da ich sie selbst lebend und lebendig in Erinnerung habe.
»Alle drei wurden im Abstand von jeweils sieben Tagen Opfer des sogenannten Masomörders.« Caro wusste das schon, Jacqueline und Amber betrachten die Bilder nachdenklich.
»Caro sagt, die Polizei hätte dich um Mithilfe gebeten. Weil du pervers bist«, meint dann Jacqueline. Ich nicke.
»Die kennen dich wirklich nicht, oder?«, fügt sie dann hinzu, eine rhetorische Frage, die mich schon etwas überrascht.
»Was hat das mit uns zu tun?«, fragt Amber.
»Das sage ich euch gern. Christina, das letzte Opfer, war seit Wochen Stammgast bei uns im Dominion. Unser Held Beckmann hat sie bespielt und vor laufender Kamera gevögelt. Tanja hat sogar eine Bühnenshow mit ihr gemacht, und an Silvester war sie eine der Favoritinnen einiger unserer speziellsten Gäste.« Ich mache eine Pause, merke, wie sie die Konsequenzen verstehen. Manche meiner Gäste haben einen sehr speziellen Geschmack und suchen eine ganz besondere Art von Partner.
»Christina verbrachte die vorletzte Nacht im Dominion, sie kam um elf Uhr abends und ging um vier Uhr morgens. Zwanzig bis zweiundzwanzig Stunden später war sie tot. Ich hoffe es nicht, aber ich befürchte, dass sie ihren Mörder hier bei uns kennengelernt hat. Vielleicht ging sie sogar mit ihm zusammen.«
Ich hole tief Luft und drücke eine Taste ... die drei Bilder auf der Projektionswand verschwinden und zeigen die brutale Frontansicht von Alice, Alice am Kreuz, eine technisch perfekte Aufnahme, die in digitaler Klarheit jedes schonungslose Detail zeigt.
Die Reaktion meiner drei Grazien – Caro hat den Tatort selbst ja nicht gesehen – überrascht mich. Während ich, der ich so etwas gewohnt sein sollte, ein mulmiges Gefühl in der Magengegend verspüre, sehen meine drei sich dieses Bild mit geradezu klinischem Interesse an. Sie wirken nicht einmal geschockt.
Nur Amber blinzelt zweimal und wirft mir dann einen Blick zu, den ich nicht deuten kann. Eine feine senkrechte Falte steht auf ihrer Stirn, sie mustert das Bild so konzentriert, wie ich es von ihr kenne, wenn sie über eine schwierige Programmieraufgabe nachdenkt, nur ist das ihre einzige Reaktion, irgendwie hatte ich etwas anderes erwartet, vielleicht Schock, Entsetzen. Aber irgendetwas geht ihr durch den Kopf. Bevor ich sie fragen kann, murmelt Jacqueline etwas, das ich nicht verstehe.
Amber schüttelt den Kopf. »Nein, dazu waren sie zu jung.« Jacqueline scheint nicht überzeugt.
»Was hast du gesagt, Jacqueline? Ich habe es nicht gehört.«
Jacqueline schaut zu mir und dann zu Boden.
»Sie hat gefragt, ob es möglich wäre, dass es kein Mord ist«, antwortet Caro für sie. Ich sehe Jacqueline an, ich verstehe nicht, wie sie das meint. Also frage ich sie.
»Es gibt Leute, die flirten mit dem Gedanken, sich so weit zu geben, dass sie sterben«, erklärt sie mir dann leise.
»Ich halte es hier für ausgeschlossen«, sage ich mit Bestimmtheit. Es zu nahe an dem, was ich Amber vorwarf, ich will mich mit solchen Gedanken gar nicht auseinandersetzen.
Also schüttele ich den Kopf, erzähle ihnen dann von der Verachtung in Christinas gefrorenen Augen.
»Verachtung?«, wiederholt Amber und wirkt beeindruckt. Sie steht auf und geht näher an das Bild heran.
»Okay«, meint sie. »Er hat sich langsam zur Peitsche hingearbeitet. Davor, Gerte, Stock, Nadeln, Klammern. Paddle, Cuttings ... das volle Programm.« Sie beugt sich vor. »Das hier«, sagt sie und tippt auf eine Stelle an der Innenseite von Christinas Oberschenkel, knapp unterhalb der Scham. »Das könnte ein Branding sein.«
Ich versuche mich daran zu erinnern, ob ich etwas von einem Brandmal in den Akten gelesen habe, bin mir nicht sicher und rufe die Akten auf, während nun alle drei vor dem Bild stehen und es mustern. Da das Bild von hinten auf die Leinwand projiziert wird, können sie herangehen und es genau ansehen.
Stella ist sorgfältig, auch ihr fiel das Brandmal auf. Helga und Angelina haben beide an gleicher Stelle eine kleine Brandnarbe. Nicht frisch. Es gibt eine Detailaufnahme, für einen Zigarettenbrand ist die Stelle zu klein und zu definiert.
»Es ist eine Rose«, sagt Caro plötzlich.
Sie hat recht, es könnte eine sehr kleine Rose sein.
»Die beiden anderen Opfer haben diese Brandnarbe auch«, sage ich ihr. »Und du könntest mit der Rose recht haben.«
Amber tritt vom Bild zurück. »Es ist eine große Bullenpeitsche. Keine Snake, sondern mindestens fünf Meter lang, doch nicht länger. Er hat sie von der Seite getroffen ... hier seht ihr die Spur, wo sich das Leder um sie wickelte. Er kann es noch nicht, die Spuren sind unterschiedlich.«
»Vielleicht Absicht?«, fragt Caro.
»Sieh dir deinen eigenen Rücken an«, sagt Amber trocken. »Jeder, den ich kenne, der mit einer Bullenpeitsche spielt, ist bemüht, so präzise wie möglich zu arbeiten, um exakte Spuren zu hinterlassen. Diese Spuren hier sind unterschiedlich. Wahllos.«
Die Erwähnung von Caros Rücken, der immer noch von meinen eigenen Peitschenhieben gezeichnet ist, trifft mich in diesem Moment hart. Ich habe Caro auch mit der Peitsche geschlagen, der Gedanke, wo denn der Unterschied zwischen mir und dem Täter liegt, kommt ungebeten, die Antwort überzeugt selbst mich nicht wirklich, es ist nur ein Gefühl, dass es eben nicht das Gleiche ist ...
Ich habe irgendetwas verpasst, denn Amber sieht mich an. »Ja, es sind viele Schläge, schwer zu sagen, wie viele genau, aber nur bei gut der Hälfte gab es überhaupt Striemen.«
»Nicht so schlimm, wie ich befürchtet habe«, meint Caro und schockt mich damit. Ich sehe meine drei Grazien fassungslos an, weiß gar nicht mehr, was ich sagen soll. Sie kümmern sich nicht um mich, diskutieren untereinander weiter.
»Ja«, sagt Amber und beugt sich vor, um besser zu sehen. »Hier und hier ... das sind Flicks. Da, wo er richtig traf, riss er sie auf. Hier. Und hier.« Sie deutet auf eine Stelle nahe der Scham des toten Mädchens.
»Heilige Scheiße«, haucht Jacqueline, von der ich solche Ausdrücke nicht gewohnt bin, »was muss das wehgetan haben.«
»Ja, das hat gezogen«, sagt Amber trocken.
»Wie könnt ihr das nur so unbeteiligt betrachten?«, frage ich aufgewühlt. »Sie wurde zu Tode gefoltert. Berührt euch das denn gar nicht?«
»Genau darum geht es ja«, sagt Amber ernst. Ich sehe sie verständnislos an. »Ich will vermeiden, dass es mich triggert«, erklärt sie mir, aber ich begreife nicht, was sie damit meint. Ihr Blick macht mir klar, dass sie nicht mehr dazu sagen will. »Woran ist sie letztlich gestorben?«, fragt sie dann.
»An der Peitsche«, antworte ich. »Schock ... Kreislaufversagen.«
Amber schüttelt den Kopf.
»Ich denke, das ist unter Umständen möglich. Aber ich glaube es nicht.«
»Amber, das sind echte Nägel! Sie ist ans Kreuz geschlagen worden!«
»Ja. Kaum Blut und keine gebrochenen Knochen. Er wusste, wo man den Nagel ansetzen muss. Und sie steht auf diesem kleinen Fußpodest, die Arme sind gerade, mit Seilen extra gestützt, sie hängt nicht. Keine Last auf den Nägeln. Tut allerdings verflucht weh.«
»Hast du denn kein Mitgefühl für sie?«, frage ich sie ungläubig, ich kann überhaupt nicht verstehen, wie Amber hier reagiert. Sie ist eine von denen, die eine Spinne in den Garten tragen, damit ja niemand auf das Insekt drauftritt. Dass sie Alice so unbeteiligt betrachtet ...
»Das ist es gar nicht«, erwidert Amber, und ihr Ton ist fast schon vorwurfsvoll. »Ich sage dir nur, dass sie nicht daran gestorben ist.«
Ich blinzele. »Wie meinst du das?«, frage ich vorsichtig.
»Genau so, wie ich es sage. Nichts von dem, was ich hier sehe, hätte sie umgebracht. Sie ist jung, und wenn sie kein schwaches Herz hat, hätte sie es überleben müssen.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich weiß es«, sagt sie einfach.
Jacqueline mustert sie und nickt.
»Stimmt«, sagt sie dann. »Das könntest du sein.«
»Wie meinst du das?«, frage ich vorsichtig. Ich glaube, ich habe mich verhört.
»So etwa drei Wochen, bevor dein Onkel starb, kaufte mich ein Gast für eine, wie er sagte, Inszenierung.« Sie sieht Jacqueline fragend an. »Wie lange ist das her? Fast neun Jahre?«
»So um den Dreh«, antwortet Jacqueline und tippt mit ihrem Fingernagel auf ihre Zähne, während sie nachdenkt. »Ich komme nicht mehr auf den Namen, aber ihn selbst werde ich nicht vergessen. War ein Argentinier, das weiß ich noch. Wenn ich an diese Peitsche denke, wird mir immer noch komisch.«
»Mir auch«, sagt Amber. »Ich glaube kaum, dass ich es jemals vergessen werde.«
Mir fällt das Kinn herunter. Selbst Caro wirkt überrascht.
»Was geschah damals?«, frage ich schließlich.
»Wie Jacqueline schon sagt, es war ein Argentinier. Ich weiß den Namen auch nicht mehr. Stinkreich, ein Partner oder Geschäftsfreund deines Onkels. Er machte das zu Ostern auf seiner Hacienda. Eine Jungfrau, die er ans Kreuz nagelte und dann auspeitschte.« Sie zuckt die Schultern. »Er zahlte den Mädchen angeblich um die 10 000 Dollar dafür. Dein Onkel behauptete, sie stünden Schlange, das wäre mehr Geld für sie, als die meisten von ihnen in ihrem ganzen Leben verdienen würden.« Sie sieht mich an. »Das ist das, was dein Onkel mir erzählte, ob es stimmt, weiß ich nicht. Es gab andere am Tisch, die dem Argentinier nicht glaubten.« Amber zuckt die Schultern. »Es ist wohl etwas dran an der Behauptung, die Argentinier wären stolz, und er wollte es beweisen.«
»Also wurdest du ans Kreuz genagelt.« Ich bin überrascht, wie ruhig meine Stimme klingt. Wie neutral. Wenn mein Onkel noch lebte, ich würde ihm jetzt an die Gurgel gehen. Dem Argentinier auch. Irgendwie ist es schon seltsam. Spiele ich selbst mit ihr, ist es absolut in Ordnung, wenn ich ihr wehtue, letztlich habe ich ja die Kontrolle darüber und kann sehen, wo sie mit ihrer Lust schwebt. Wenn sie selbst sich gibt und andere mit ihr spielen, ist es schwieriger, aber ich weiß, dass sie es abbrechen kann, wenn sie will. Wieder vor Augen geführt zu bekommen, dass sie wirklich einmal so hilflos war, ein Kind, das all das als echte Gewalt erlebte, macht mich wütend, nein, rasend vor Wut, und zugleich tut es weh, dreht mir fast den Magen um.
Ihre Augen suchen die meinen. »Ich weiß, dass du es nicht hören willst. Ich war damals schon sechzehn und hatte seit sechs Jahren Sex.«
Sie hat recht, ich will es nicht hören. Sie ist ein Missbrauchsopfer. War es schon als Kind. Ihr Therapeut sagte ihr, sie solle offen damit umgehen, doch wenn sie es jetzt erwähnt, dann ohne Emotionen, als wäre es einer anderen geschehen, nicht ihr. Noch während mir diese Gedanken durch den Kopf wirbeln, spricht sie weiter.
»Genau deswegen, weil ich nichts dagegen tun konnte, genau deswegen, weil ich mich wehrte, als sie mich ans Kreuz schlugen, war es eine der geilsten Nächte meines Lebens.« Sie sieht mich eindringlich an. »Ich hatte ja keine Wahl, das war der einzige Weg, um zu entkommen, zu überleben.«
Ich krieg den Bogen nicht. Ich weiß das ja alles, weiß ja selbst, wie es sich anfühlt, wenn man Schmerzen zufügen kann und will, weil man es beherrscht, weil sie einem vertraut, weil es etwas ist, dem auch sie entgegenfiebert. Aber ich kriege den Bogen nicht. Die Vorstellung wirkt surreal.
Natürlich passieren hier im Dominion und auch auf dem Chateau Dinge, die einem Szenefremden unfassbar erscheinen, aber wenn es zwischen den Spielenden in Ordnung ist, dann ist es eben in Ordnung. In den privaten Räumen sind schon Dinge geschehen, die ähnlich hart waren, aber ab einer gewissen Stufe ist es nicht mehr mein Ding.
Es gibt Denkansätze, die besagen, ein guter Dom müsse auch mal sub gewesen sein, oder Bottom, um zu wissen, wie es sich am anderen Ende anfühlt, aber ich bin nun mal keiner und kann mir nur ein Spiel auf meiner Seite denken. Wie Beckmann auch, flüstert eine kleine Stimme in meinen Gedanken. Ich wische sie weg.
Caroline ist devot und masochistisch, aber unser Spiel findet mehr auf der Basis von DS, Dominanz und Submission, statt. Amber ist auch devot, aber ihr Kick ist die Lust durch den Schmerz. Wenn sie sagt, dass sie es geil fand, dann war es so. Was man mit ihr getan hatte, war illegal. Und, zumindest solange ich hier das Sagen habe, undenkbar. Aber ich habe ja ab und an das Vergnügen, Amber nackt zu sehen, und sie hat keine solchen Narben ...
Bevor ich etwas erwidern kann, sagt Jacqueline: »Sie sieht dir sogar ähnlich.«
Und sie hat recht. In dem Moment, wo sie es sagt, sehe ich es auch. Es stimmt, speziell Christina sieht der jungen Amber sehr ähnlich, von der Form des Gesichts über den sportlichen Körper bis hin zu den feinen blonden Haaren.
»Ja«, sagt Amber. »Wer auch immer es war, er hat die Szene nachgestellt. Bis hin zur Stacheldrahtkrone.«
Ich schüttele den Kopf, ich kann es immer noch nicht glauben.
»Warum hast du es nicht gleich gesagt?«, frage ich sie. »Als du das Bild sahst.«
»Weil ich dachte, du wüsstest es. Ich dachte, das wäre es, was uns in Schwierigkeiten bringt. Dass der Mörder eine Szene nachstellt, die er im Chateau gesehen hat. Ich hab es natürlich sofort erkannt, so was vergisst man nicht.« Sie sieht mich an. »Ich weiß, dass du schon vor Jahren Bilder von mir gefunden hast. Du hast sie verbrannt, also weiß ich nicht, was darauf zu sehen war. Ich dachte, es wären auch Bilder von der Kreuzigung dabei gewesen.«
»Ich habe mir die Bilder nicht angesehen«, teile ich ihr mit. »Trotzdem, wie kann ... Aber du hast keine Narben!«, platzt es aus mir heraus.
»O doch«, lacht sie. »Genügend, aber sie sind alle gut verheilt. Ich kann sie dir mal einzeln zeigen. Es gibt jedoch einen Unterschied. Es ging damals nicht darum, ob er jemanden ans Kreuz nageln kann. Ich hörte sogar, dass es manche Leute freiwillig an Ostern tun, um die Leiden Christi nachzuempfinden.« Sie sieht meinen skeptischen Blick und zuckt erneut die Schultern. »Wirklich. Ist so. Ich habe mal eine Reportage darüber gesehen.«
Ich schüttele sachte den Kopf, glaube ihr, sie hat noch nie gelogen, aber es hört sich schon ziemlich verrückt an. Aber es gibt ja viele Dinge, die ich niemals verstehen werde!
»Es ging darum, dass er schwor, er könne mir fünfzig Hiebe mit der Bullenpeitsche geben, die umlaufende Striemen erzeugen würden, und das, ohne die Haut zu brechen. Der Argentinier konnte es tatsächlich. Es tat auch säuisch weh, aber ich hab es eigentlich nicht gemerkt, weil ich so weit flog, dass ich kaum mehr etwas mitbekam, mir jeden Schlag wünschte.« Sie lächelt, und ihre Zähne nagen an der Unterlippe. »Es ist dieses Unaufhaltsame, Überwältigende. Man kann nicht dagegen bestehen, erst kommt der Biss, man will es gar nicht wirklich glauben, dann kommt die Woge, der Schmerz, der einen unaufhaltsam mitreißt, nichts, gar nichts, kann man dagegensetzen. Dann wenn die Woge ausrollt, man gerade so auftaucht, kommt auch schon der nächste Schlag. Es ist einfach nicht möglich, etwas anderes zu tun, als zu fühlen. Danach ist man vollständig fertig und irgendwie geläutert. Und fürchterlich stolz, stark genug gewesen zu sein!« Sie sieht mich verlegen an. »Besser kann ich es nicht beschreiben.«
Ich finde, es war gut genug. Allein der Blick in ihren Augen, als sie das erzählt, raubt mir den Atem. Und wenn der Glanz in ihren Augen ein Anhaltspunkt ist, dann ist Verachtung wirklich weit von dem entfernt, was zumindest Amber damals spürte. Das ist der Schlüssel zu Amber, es ist Stärke, nicht Schwäche, was sie zu dem treibt, was sie zu dem macht, was sie ist. Doch sie spricht schon weiter.
»Ich bin lange nicht mehr so geflogen wie damals, und der Argentinier hielt Wort, ich behielt keine Spuren zurück. Dafür war dein Onkel dann um anderthalb Millionen Schilling reicher. Ein Drittel davon, so sagte er, käme auf mein Sparbuch.«
Ja. Vielleicht hat er das gesagt. Ein solches Sparbuch aber wurde nie gefunden, weder für sie noch für die anderen.
Sie lächelt schief. »Das war ein sehr hoher Preis, musst du wissen, andere Mädchen wurden oft viel billiger verkauft. Irgendwie war ich stolz darauf. Dein Onkel sagte, ich sei seine Favoritin.« Sie sieht mich direkt an. »Weißt du, Marcus, ich hatte das Gefühl, ich müsste seine Favoritin bleiben, um zu überleben. Manche der anderen Mädchen verschwanden einfach so, als hätte es sie nie gegeben.«
»Wir haben dann manchmal ihre Spielsachen bekommen«, sagt Jacqueline, sie blickt in meine Richtung, aber ich glaube nicht, dass sie mich sieht.
Amber nickt. »Das hat mich mehr erschreckt als alles andere.«
Wie konnten diese anderen Mädchen einfach so verschwinden? Wurden sie denn nicht vermisst? Was, zur Hölle, geschah damals eigentlich auf dem Chateau? Ich dachte, es hätte mehrere Untersuchungen gegen meinen Onkel gegeben. Ist den ermittelnden Beamten damals niemals etwas aufgefallen? Wurde damals jemand geschmiert?
Ich nehme mir vor, bei Gelegenheit Krüger zu fragen, der war auch mal bei der Sitte, vielleicht weiß er etwas darüber.
Bevor ich etwas sagen kann, vollends verstanden habe, was hinter Ambers Aussage steckt, wendet sie sich wieder dem Bild zu.
»Der wesentliche Unterschied zu dem Argentinier ist, dass dieser Bastard hier es nicht kann. Die anderen Spuren, all die anderen Dinge sind noch im orangenen Bereich. Hier, dieser Schnitt – der hätte bestimmt eine Zeit gebraucht, um zu heilen.« Sie streicht sachte, fast schon zärtlich über das Bild.
Mir wird plötzlich klar, dass Amber von ihren eigenen Erfahrungen spricht. Langsam wird mir bewusst, was das bedeutet, und mir ist schlecht.
Sie spricht sanft weiter, klingt fern. »All die anderen Dinge ... ein böser Absturz für sie. Eine Lehre. Wenn sie freiwillig mitgekommen wäre. Aber ... du sagst, sie verachtete den Dreckskerl. Du weißt, wie ich dich ansehe, wenn du mich fliegen lässt. Ich verachte dich nicht. Also wollte sie nicht.« Sie fährt über Alices Handflächen. »Ich werde mich nicht mehr annageln lassen. Heute nicht mehr. Nie wieder. Ich habe wieder Grenzen und Tabus, ich weiß, dass ihr Angst habt, es wäre anders. Aber wenn ich nicht liebe, dann habe ich diese Grenzen und bin selbst froh drum.« Sie wendet sich von dem Bild ab und sieht mir direkt in die Augen. »Bei dir habe ich keine Grenzen. Und brauche sie auch nicht, du kämst nicht auf die Idee, mich irgendwo anzunageln. Und wenn ... ich wäre mir sicher, dass du genau wüsstest, was du tust.«
Ich will etwas sagen, komme aber nicht dazu.
»Darum geht es«, wirft Caro ein. »Wir dachten alle, dass du die Geschichte kennst. Ich habe mich lange mit Amber unterhalten, als wir uns entschlossen, uns eine Snake als Spielzeug zuzulegen.«
»Ja. Hier ist noch etwas anderes faul«, fährt Amber fort. »Ich kann dir sagen, dass du es nicht immer merkst, wenn die Haut platzt, jedenfalls nicht am Schmerz. Dieser Dreckskerl kann mit der Peitsche nicht umgehen und hat sie ohne Zweifel fürchterlich damit zugerichtet. Aber du hast es selbst gesagt: Sie sah ihn verachtend an, als sie starb.«
Amber hält immer noch meine Augen mit den ihren fest.
»Wenn du an Kreislaufversagen oder Schock leidest, kannst du das nicht, du verlierst den Fokus ... rutschst einfach nur weg. Du hast von dem Blick erzählt, aber ich sehe es an ihrem Gesicht.« Sie streicht mit dem Zeigefinger leicht über die Wange des Mädchens auf dem Bild, eine zärtliche Geste.
»Der Argentinier ist in Argentinien. Er war ein Sadist und ein Gentleman, ich mochte und respektierte ihn. Er hielt sich an die Regeln, verlor nie die Kontrolle. Er kann es nicht gewesen sein. Aber wer auch immer der hier ist, er war damals auf dem Chateau und sah zu, wie ich am Kreuz hing. Doch hier stimmt etwas nicht. Schau dir den Striemenverlauf an. Bislang hat jeder, der mit mir spielte, sehr sorgfältig geschlagen. Aber diese Schläge hier sind unkontrolliert, einfach eine wilde Prügelei!«
»Das stimmt«, sagt Jacqueline leise. »Es wirkt irgendwie ...« Sie sucht das richtige Wort. »Lieblos. Das ist es. Es ist lieblos!«
»Richtig«, sagt Amber. »Er weiß es nicht zu schätzen! Vielleicht hat es ihn über die Jahre wilder und wilder gemacht. Aber er hat keine Kontrolle!« Ihre Stimme wird bitter. »Dieser Mistkerl ist genau die Sorte, vor der wir Subs zu Recht Angst haben. Er überschätzt sich. Aber es ist möglich, dass die anderen am Schock und am Kreislaufversagen starben. Christina hier starb an etwas anderem. Als er fertig war, tat er irgendetwas anderes, das sie umbrachte, ansonsten hätte sie überlebt. Es ist kein Unfall, kein Versehen, es ist vorsätzlicher Mord.«
Sie sieht, wie geschockt ich bin, und lächelt sanft. »Das, was ihr passierte, und das, was mir passierte, ist nicht dasselbe.«
»Auf jeden Fall hattest du recht«, sagt Caroline. »Das Chateau, das Dominion, Amber – wir stecken mittendrin. Und wenn du schon Schwierigkeiten hast, all dies zu verstehen, möchte ich nicht wissen, wie deine alten Kollegen von der Kripo reagieren werden.«
Ich kann es selbst kaum fassen. Der Kreuzmörder stellt eine Szene nach, die Amber als Kind im Chateau erlebt hat? Wir wissen alle, dass wir nichts damit zu tun haben, aber ... Ich versuche, mir Malowsky vorzustellen, wenn ich ihm das erkläre. Unmöglich.
Mechanisch drücke ich eine Taste, und das Bild verschwindet.