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Im Watt beim Tetenbüller Sielzug wird eine Leiche an­ge­­schwemmt. War es ein unvorsichtiger Wattwanderer, o­der hat es Inge Westerhus mit einem Mordfall zu tun? Noch am Fundort wird der Husumer Ermittlerin klar, dass es sich um ein Tötungsdelikt handelt. Die Spuren am Leichnam der jungen Frau lassen bei der Kriminalhauptkommissarin alle Alarmglocken schrillen! Obwohl es der erste Fall dieser Art ist, liegt die Vermutung nahe, dass sie es mit einem bruta­len Serienmörder zu tun hat. Bei der Lösung des Falls bittet sie ihre Kollegin Sarah Hansen aus Flensburg um Hilfe. Nur gemeinsam haben sie vielleicht eine Chance, den Täter zur Stre­cke zu bringen.

Andre Rober, geboren 1970 in Freiburg im Breisgau, stu­dierte Volkswirtschaftslehre und arbeitete nach dem Ab­schluss mehrere Jahre für Banken im In- und Ausland. Mit der Absicht, sich beruflich zu verändern, machte er eine Aus­bildung zum Business-Coach und arbeitete parallel an seinem literarischen Erstlingswerk „Sturmernte“. "Sünden­lohn" ist das lang erwartete Prequel zu dem Politthriller mit der Ermittlerin Sarah Hansen, die ihren letzten Fall im Nor­den Deutschlands zu lösen hat, bevor sie nach Freiburg im Breisgau versetzt wird.

Andre Rober

Sündenlohn

Thriller

Ungekürzte Taschenbuchausgabe

1. Auflage März 2017

© Andre Rober, Merzhausen

Umschlaggestaltung: Andre Rober

Umschlagabbildung: Andre Rober

Satz: Andre Rober

Gesetzt aus der Palatino

Papier: Munken Print Cream

Druck: Online Druck.biz

Printed in Germany

ISBN: 978-3-947252-01-5

Denn der Lohn der Sünde ist der Tod“

(Römer 6, 23)

Vorsichtig, fast bedächtig, schob sich die kleine Strand­krabbe vorwärts, um nicht die Aufmerksamkeit einer der Möwen oder Austernfischer auf sich zu lenken, die sich bereits eingefunden hatten. Stück für Stück näherte sie sich langsam ihrem Ziel, schwenkte ihre kleinen Stielaugen wach­sam, ständig bereit, sich durch einen kurzen Sprint vor einem Angriff aus der Luft in Sicherheit zu bringen. Doch die großen Vögel beachteten sie überhaupt nicht, sondern pickten in aller Ruhe nach den zahllosen Würmern und Schnecken, über die die kleine Krabbe schon hinweg­ge­kro­ch­en war. Sie hatte ein bestimmtes Ziel. Obschon sie zum er­­sten Mal in ihrem bisherigen Leben solch ein riesiges Fest­mahl vorgefunden hatte und die Fress­konkurrenz wahr­­haft groß war, steuerte sie zielstrebig über den wie­chen Unter­grund auf eine bestimmte Stelle zu. Dort ange­kommen begann sie sofort, sich über die Delikatesse herzu­machen, die trotz des verlockenden Duftes bisher von dem Gewürm und den Möwen verschont geblieben war. Dass sich der Untergrund sachte mit den leichten Wellen hin- und herbe­wegte, störte sie nicht. Wenn eine etwas größere Woge ihren Standort überspülte, krallte sie sich kurz fest, dann setzte sie ihr Werk fort. Mit beiden Scheren hieb sie gierig in ihr Mahl und hielt nicht eher inne, bis sie den letzten Rest des Festschmauses verspeist hatte, und an dessen Stelle eine dunkle, leere Höhle verblieb.

Gedankenversunken steckte Petra Klausmann das schmut­­zige Taschentuch in den Beutel mit Baby­utensilien. Seit vier Tagen war Luca nun schon erkältet, und sie musste ihm alle paar Minuten die laufende Nase abwischen. Trotz­dem ließ sie es sich nicht nehmen, an diesem schönen Früh­lingstag einen kleinen Morgen­spaziergang zu unter­neh­men. Schließlich war es ja nicht kalt, und sie hatte ihren Sohn ausreichend einge­packt, um ihn in seinem Kinder­wa­gen mit auf den Deich zu nehmen und gemütlich am Meer entlangzuschlendern. Sie packte die Hallo-Kitty-Tasche, die sie von ihrer Schwester zur Geburt von Luca bekommen hatte, wieder in das Netz am Kinder­wagen und setzte sich erneut in Bewegung. Die ver­bleibenden einhundert Meter bis zur Sielanlage legte sie zu­rück, ohne noch einmal anhal­ten und Luca die Nase putzen zu müssen. Dort stellte sie ihren Sohn mit Blick auf das Meer in den Schatten des Siel­werkes und setzte sich auf die graue Stein­mauer daneben, um gemütlich angelehnt auf das auflaufende Wasser zu blicken. Sie genoss den leichten Wind, der ihre schwarzen Locken durchfuhr und beobachtete freudig das Spiel zweier Austernfischer und eine Schar Möwen, die sich laut kräch­zend um etwas zu Fressen stritten. Sie folgte ihrem Flug und entdeckte etwa 50 Meter entfernt weitere Möwen auf einem länglichen, etwa ein bis zwei Meter großen Gegen­stand, der sich im flachen Wasser leicht bewegte.

Oh Nein!, dachte sie, nicht schon wieder eine Robbe. Wie schon einige Jahre zuvor waren im Frühjahr vermehrt tote Robben angespült worden, die einer zyklisch auftretenden Virus­in­fektion zum Opfer gefallen waren. Die Anwohner wurden auf­gerufen, die Funde unverzüglich zu melden, da­mit die Kadaver möglichst schnell fortgeräumt und unter­sucht werden konnten. Sie selbst hatte dieses Jahr schon zwei tote Tiere gemeldet, und jedes Mal tat es ihr in der See­le weh, wenn sie solch ein nied­liches Wesen tot, halb ange­fressen und zum Teil verfault vor den Füßen liegen hatte. Sie seufzte tief, ließ sich von der Mauer herab und schob Luca, so nah es möglich war, zu der Stelle, wo sich die Möwen mittlerweile heftige Kämpfe lieferten. Dann dreh­te sie den Kinderwagen mit dem Rücken zur Sonne, griff in die Tasche ihrer Windjacke und holte ihr Handy heraus. Die Nummer von der Schutzstation Wattenmeer hatte sie in ihren Kon­takten gespeichert. Leider, dachte sie mit einem Anflug von Traurigkeit. Sie ging die paar Meter zu dem mit Fasern und Seetang umwickelten, unförmigen Kadaver, um sich zu ver­gewissern, dass es sich dabei tatsächlich um eine Robbe han­delte. Die ersten Zweifel kamen ihr, als sie nur noch wenige Schritte entfernt war. Skeptisch trat sie etwas näher, ungeachtet dessen, dass sie knöcheltief im Wasser stand. Dann kam eine kleine Welle und drehte den Kopf des Kadavers in ihre Rich­tung. Unvermittelt starrte sie in ein entsetzlich zugerichtetes menschliches Gesicht, aus dessen leeren Augenhöhlen eine drekckige, ölige Brühe rann. Petras Schrei erstickte im Keim, und reflexartig fing sie ihr Handy auf, das ihr im Augenblick des Schocks aus den Fingern geglitten war.

Der Anruf erreichte Inge Westerhus während der Mon­tag­mor­genbesprechung. Seit zwei Wochen halfen sie und ihr Team, so gut es ging, bei den anderen Dezernaten aus, sofern diese überhaupt Arbeit übrig hatten. Den letzten Fall, einen wegen der Lebensversicherung als Unfall ge­tarnten Suizid, hatten sie abgeschlossen, die Berichte und Dokumentationen lagen beim Staatsanwalt. Seither war nichts in ihrem Zuständ­igkeitsbereich passiert. Eine Knei­penschlägerei hier, ein Über­fall mit einem Taschenmesser dort…, nichts wirklich Heraus­forderndes. Inge Westerhus konnte sich nicht daran erinnern, wann oder ob dies in ihrer siebenundzwanzigjährigen Karriere als Polizistin zuletzt der Fall gewesen war. Auch wenn die Abteilung Gewaltver­brechen in Husum nicht unbedingt chron­isch überbe­schäf­tigt war, so ruhig war es ihrer Meinung nach lange nicht gewesen. Gerade hatten sie in der Besprechung fest­ges­tellt, dass niemand mehr Überstunden hatte, die er hätte abbau­en können, als das Telefon des Besprechungsraumes klein­gel­te. Der Beamte der Dienstbereitschaft setzte sie davon in Kenntnis, dass in der Nähe des Sielwerks am Wasserspei­cher eine im Wasser treibende Leiche gefunden worden war. Ob es sich dabei um ein Unfallopfer, einen Freitod oder ein Gewalt­verbrechen handelte, sei wohl nicht ohne weiteres zu bestim­men.

OK dachte Inge Westerhus, dann also das volle Programm: Kriminaltechnik, Leichenbeschau und natürlich auch Ermittler aus dem Team. Sie überlegte schon, wen sie zum Tetenbüller Sielzug schicken sollte, entschied dann aber, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Nicht, dass sie tatsächlich einen Kriminalfall hinter dem Leichenfund vermutete. Sie ging eher davon aus, dass ein einsamer Wattwanderer wieder unvorsichtig gewesen war, und die Umstände re­lativ schnell geklärt werden würden. Aber da ihre Schwie­ger­mutter diese Woche, und so Gott wollte, auch nur diese Woche, zu Besuch war, brauchte sie wenigstens keine Not­lü­ge aufzutischen, wenn sie wegen eines aktuellen Fal­les länger im Büro bleiben musste. Ein Blick auf die Uhr mach­te ihr die Hoffnung zwar zunichte, schließlich war es erst kurz nach halb zehn. Dennoch, entschloss sie rasch, würde der Leichenfund ihr als Vorwand dienen, nicht zum Abend­essen zu erscheinen. Also winkte sie noch während des Ge­sprächs ihrem Assistenten Arved Munz und deutete ener­gisch auf das Telefon in ihrer Hand. Arved, der wie die an­deren schon aufgestanden war, sah sie mit gehobenen Au­genbrauen fragend an.

»Arbeit«, flüsterte Inge Westerhus, die eine Hand auf dem Mi­kro des Schnurlostelefons, und so wartete er geduldig, wäh­rend seine Chefin das Gespräch weiterführte. Bernd Hagen, die spär­lichen Unterlagen peinlichst genau sortiert unter dem Arm, und Feit Müller mit dem obligatorischen Schokoriegel in der Hand und braunen Spuren um die Lippen, waren ob des wilden Winkens ihrer Vorgesetzten zunächst auch stehen­geblieben. Ihnen bedeutete Inge Wes­ter­hus jedoch mit einem zielge­rich­teten Kopfschütteln, dass sie gehen durften. Sie glaubte nicht, dass sie noch je­manden am Fundort brauchen würde.

Als Arved Munz den silbergrauen Opel Astra Caravan mit et­was zu scharf dosiertem Bremsen auf dem Schotter gerade noch vor der Polizeiabsperrung zum Stehen brachte, war am Siel­werk die Hölle los. Der Fundort war zwar weit­räumig abges­perrt, und alle paar Meter wachte ein uni­formierter Beamter da­rüber, dass die Bannmeile auch respektiert wurde, aber außer­halb des gelben Bandes tum­melten sich jede Menge Menschen. Die Landwirte, Hand­wer­ker und Servicemitarbeiter diverser ansässiger Firmen, die aus beruflichen Gründen die Abkürzung am Damm entlang nahmen, machten jedoch nur einen ver­schwindend geringen Teil der Menschenmenge aus, die sich hier ver­sammelt hatte. Die überwiegende Mehrheit, und Inge Westerhus verspürte sofort Abscheu und Unverständnis, waren Touristen und Bewohner der nahegelegenen Cam­ping­plätze und Ferienunterkünfte. Junge Pärchen mit Kin­derwagen oder Hunden, drahtig wirkende Jogger, Familien mit kleinen Kin­dern, die Schaufeln und Eimerchen noch in der Hand, Rad­fahrer mit ihren bei Scotty`s Bikeverleih gemie­teten Rädern, oder übergewichtige Halb-Senioren mit Nordic Walking Ambitionen - nahezu aus jeder Alters- und sozialen Gruppe fand sich zumindest ein Repräsentant, um der Sensation jenseits der von der Polizei gezogenen und mit­unter heftig verteidigten Linie beizuwohnen oder gar ein Foto zu machen. Noch in Gedanken gelangte Westerhus zu den Beamten, die unermüdlich auf die Menge einredeten und sie zum Weitergehen aufforderten. Sie hob zur Begrü­ßung die Augenbrauen, worauf einer der Uni­formierten einen Schritt zu Seite trat und ihr Zugang gewährte. So wie sie sich in gebückter Haltung unter der Absperrung hin­durch­geschoben hatte, sorgte ihr Kollege dafür, dass den lüster­nen Gaffern der Zutritt wieder verwehrt blieb.

Inge Westerhus bedeutete Arved Munz, schon einmal zu der Stelle im seichten Wasser vorzugehen, wo einige Be­amte weiße Folien gespannt hielten, um den Blick auf den Leichnam abzu­schirmen. Sie selbst hatte es sich in ihrer lang­jährigen Dienstzeit zur Gewohnheit gemacht, erst ein­mal ihren Blick über die komplette Szenerie eines Tat- oder Fundortes schwei­fen zu las­sen, bevor sie sich den Details widmete oder anfing, Fragen zu stellen. Auch wenn in diesem Fall mit Sicherheit davon auszu­gehen war, dass es sich nicht um einen Tatort handelte, sondern die Leiche mit der auflaufenden Flut angespült worden war und mitunter etliche Kilometer von hier ihren Tod gefunden hatte, nahm sie sich die Zeit. Doch es gab in der Tat nichts, was ihre ge­stei­gerte Aufmerksamkeit erregte. Also folgte sie nach eini­gen Minuten ihrem Kollegen und schlüpfte durch die Lücke in der weißen Folie, die ihr ein uniformierter Kollege bereit­willig öffnete. Auch hier besah sich Westerhus erst einmal das komplette Bild: der nasse Sand, einige Tangreste, und inmitten eines kleinen Priels des wieder abfließenden Was­sers ein unför­miger Klumpen von der Größe eines mensch­lichen Körpers. Davor kniete ihre Hausärztin Alice Peters, die, da Husum nicht über eine eigene Gerichtsmedizin ver­fügte, für die erste Lei­chenbeschau zuständig war. Die durch zahlreiche Kurse und Weiterbildungen für die Zu­sam­men­arbeit mit der Polizei qualifizierte Medizinerin war mit Gummistiefeln und einer Anglerhose ausgerüstet und kauerte neben dem Leichnam. In ihrem Rücken standen auf einer hastig über zwei Klapp­schemeln ausgebreiteten Folie zwei geöffnete Aluminiumkoffer mit den Utensilien der Ärztin. Sie war gerade dabei, über die Arm­enden der Lei­che kleine Plastiktüten zu stülpen und mit Gummiringen zu fixieren. An den Füßen hatte sie diesen Transportschutz be­reits angebracht. Inge Westerhus wusste, was das zu bedeu­ten hatte.

»Also kein natürlicher Tod. Jetzt schon sicher?«, fragte sie, ohne Alice Peters lange zu begrüßen. Da sie erst gestern ge­mein­sam zu Mittag gegessen hatten, befand sie diese Flos­kel im Moment für überflüssig. Ohne sich umzudrehen nick­te die An­ges­prochene.

»Ja, jetzt schon sicher! Schau dir das mal an.«

Sie winkte die Polizistin näher zu der Leiche. Inge Wester­hus trat heran. Dass der Körper schon mehrere Tage im Wasser ge­le­gen haben musste, war auch ihr sofort klar. Die Reste der Kleidung waren schon stark verschmutzt und gräu­lich. Um den Körper herum hatten sich dicke Büschel Seegras und Tang in irgendetwas verfangen, das ein Seil sein konnte. Die Haut der nackten Arme und Beine hatte ebenfalls eine gräuliche Farbe an­genommen und war an einigen Stellen schon sehr stark in Mitleidenschaft gezogen. Das typische Aussehen einer Wasser­leiche eben, kein schö­ner Anblick. Der einsetzende Geruch nach Verwesung sprach ebenfalls für eine längere Liegezeit. Teile des Kör­pers mussten schon eine ganze Weile der Luft und der Son­ne ausgesetzt gewesen sein.

»Eine Frau!«, entfuhr es Inge Westerhus.

»Kannst du schon etwas zur Todesursache sagen?«

Peters schüttelte den Kopf.

»Nein. Aber sie ist, wie ich schon sagte, keines natürlichen Todes gestorben, soviel ist sicher.«

»Du meinst das Seil?«, fragte Inge Westerhus.

»Das und Folgendes.«

Sie hob einen Arm der Toten an. Trotz der beginnenden Ver­w­esung und den Spuren, die wohl Seevögel und anderes Getier an dem Leichnam hinterlassen hatten, war um das Handgelenk eine breite, tief violette Verfärbung zu erkennen. Eindeutig Spuren einer groben und länger an­dau­ernden Fesselung.

Inge Westerhus verzog das Gesicht.

»Was hat man dir nur angetan?«, entfuhr es ihr kopf­schüt­telnd.

»Du findest das schon schlimm? Dann pass mal auf.«

Peters drehte den Kopf so, dass Inge Westerhus die Reste des Gesichts sehen konnte. Sofort zog es der Polizistin eis­kalt durch alle Glieder. Auch wenn die Augäpfel nicht mehr vorhanden waren und auch erste Teile der Lippen offen­sichtlich den gier­igen Würmern, Schnecken und Vögeln zum Mahl gedient hat­ten, konnte sie genau erkennen, was die Pathologin meinte: Vor den Augen und dem Mund war etwas, das aussah wie ein klei­nes Gitter, das dort platziert worden war. Doch auf den zweiten Blick erkannte sie, dass die Stäbchen, wie sie zuerst annahm, nicht parallel sondern in leichtem Zickzack verliefen. Es wurde ihr schlagartig klar, dass der Peiniger der Frau mit einem bes­on­ders dicken Garn Augen und Mund zugenäht haben musste!

Sie schlug die Hand vor den Mund.

»Oh, mein Gott!«, sagte sie leise und beobachtete dann wort­los, wie Alice Peters auch an der linken Hand des Opfers die Plastiktüte sicherte.

Nur unbewusst nahm sie die zwei Mitarbeiter des Bestat­tungsinstitutes wahr, die drei Meter neben der Leiche den grau­en Epoxydharz­sarg in den nassen Sand stellten, einen festen Lei­chen­sack entfalteten und schweigend auf das Signal war­teten, aktiv zu werden.

»Willst du nochmal alles begutachten, oder können wir sie wegschaffen?«

»Was?«

Inge Westerhus hatte Alice Peters wohl gehört, aber irgend­wie war ihr die Bedeutung der an sie gerichteten Worte entgangen.

»Ob wir sie einpacken können, oder ob du noch etwas brauchst?«, wiederholte die Ärztin.

Inge Westerhus sah sich noch einmal um.

»Ist alles fotografiert?«, fragte sie.

»Arved hat schon alles dokumentiert, noch bevor ich ange­fangen habe«, nickte Peters.

»OK, dann könnt ihr sie einpacken.«

Sie sah schweigend zu, wie die beiden in dunkle Anzüge ge­­klei­deten Männer den Leichensack neben den toten Kör­per leg­ten, sich feste Gummihandschuhe überstreiften und die Frau vor­sichtig in das dicke Plastik packten, nicht ohne die Liege­stelle noch einmal genau abzusuchen, um gege­ben­enfalls ver­wert­bares Material der Spurensicherung zu übergeben. Erst als der Reißverschluss zugezogen, das schwe­re Bündel in den Sarg gelegt und dieser von den bei­den Männern davongetragen wor­den war, wandte sich Inge Westerhus um und hielt nach Arved Munz Ausschau. Ihr Kollege war mittlerweile damit beschäf­tigt, eine sichtlich erschüttert wirkende junge Frau mit Kind und Buggy zu befragen und hatte ihr gegenüber eine sehr verständige Miene aufgesetzt. Sie war schon im Begriff hinü­ber­zugehen, als ihre Aufmerksamkeit von einer lautstark ge­führten Dis­kussion auf sich gezogen wurde. Einige Meter vom Fahr­weg entfernt war einer der Uniformierten damit bes­chäftigt, einen etwa fünfzig Jahre alten Mann unter dessen heftigem Protest wieder aus dem abgesperrten Bereich zu bugsieren. Dabei fielen lautstark Worte wie Pressefreiheit oder Recht auf Information. Inge Westerhus schüttelte den Kopf, ob­wohl innerlich leicht belustigt, und bedeutete Arved Munz durch eine Geste, schon einmal zum Auto zu gehen. Sie selbst steuerte das streitende Duo an, das die Absperrung wieder er­reicht hatte, und rief just in dem Moment, in dem sich der hart­näckige Eindringling zum wiederholten Male losge­rissen hatte, laut:

»Klaus! Lass gut sein!«

Einmal noch stieß der angesprochene Beamte den Stören­fried, der gleich zwei Spiegelreflex­kameras um den Hals hängen hatte, zurück, trat dann von ihm weg und hob seine Hand zum Gruß kurz an die Mütze.

»Moin, Frau Hauptkommissarin!«, nuschelte er und behielt den jetzt stillstehenden Mann weiter im Auge.

»Er war schon fast bis an den Fundort herangekommen und hat wie wild drauflosgeknipst. Er…«

»Schon gut, Klaus, ich übernehme hier! Danke einst­weilen.«

Sie stellte sich vor den Mann, der ihren Blicken immer wie­der auswich, und stemmte die Hände streng in die Hüfte. Warum Arndt Aasman den uniformierten Kollegen nie Folge leistete, vor ihr aber einen ziemlichen Respekt zu haben schien, fragte sie sich, seit der leicht retardierte Endvierziger zum ersten Mal bei einem ihrer Tatorte aufge­taucht war und mit dem Presse­ausweis des Lokalblattes herumgewedelt hatte. Arndt Aasman war im Alter von sieb­zehn zum Waisen geworden und hatte mit einund­zwanzig das Erbe, ein kleines Häuschen und eine nicht unbeträchtliche Summe an Bargeld, ausgezahlt bekom­men. Er war, damals schon stark zurückgeblieben und verhal­tens­­auffällig, seither zu einer kleinen Lokalberühmtheit gewor­den. Den Presseausweis hatte der arbeitslose Mann eher aus Mitleid bekommen, und seither fuhr er mit seiner Schwalbe und seinen Kameras um den Hals durch die Gegend und foto­grafierte alles, was in irgendeiner Art für ihn interessant war. Und tatsächlich war alle zwei bis drei Wochen eine seiner Auf­nahmen in der Zeitung zu sehen.

»Herr Aasman, Herr Aasmann! Sie wissen doch, dass Sie das nicht dürfen! Wie oft habe ich Ihnen das gesagt?«

»Ein paarmal«, antwortete Arndt Aasmann fast schon klein­laut und mit der Miene eines ertappten Kindes.

Er schaute ziellos umher, mied ihre Augen und blieb schließ­­lich mit seinem Blick an seinen Fußspitzen hängen.

»Also, was tun Sie jetzt?«

»Ich bleibe hinter der Absperrung und warte bis zur Pres­se­­konferenz.«

Der Satz war genaugenommen eine wörtliche Wieder­holung ihrer Anweisung vom allerersten Zusammentreffen und klang fast wie auswendig gelernt. Seinen Blick hob er nicht.

»Sehr gut! Ich verspreche, Ihnen als Erstes mitzutei­len, wenn es etwas für die Presse gibt.«

Arndt Aasman nickte schnell mit leicht angezogenen Schul­tern und stellte sich brav hinter die Absperrung. Er würde, solange sie vor Ort war, keinerlei Ärger mehr ma­chen.

Inge Westerhus drehte sich um und musste abermals den Kopf schütteln. Ob es Mitleid, Sympathie oder auch Sorge war, die sie für ihn empfand, konnte sie nicht sagen. Tat­sache aber war, dass er zum festen Bestandteil von Husum gehörte und irgend­wie auch aus ihrem dienstlichen Alltag nicht mehr wegzu­denken war.

Nachdenklich setzte sich Inge Westerhus auf ihren Büro­stuhl und legte die spärlichen Notizen der vorange­gan­genen Be­sprech­ung mit dem Oberstaatsanwalt vor sich auf den Schreibtisch.

Kein LKA!, gingen ihr die Worte von Heinrich Quedlin durch den Kopf. Als sie äußerte, die junge, noch nicht iden­tifizierte Frau könne entweder einem grausamen Ritual­mord zum Opfer gefallen oder aber das erste oder zumin­dest das einzig bisher gefundene Opfer eines psychisch gestörten Täters mit Potential für weitere Taten sein, war Quedlin zunächst nervös und verun­sichert dagesessen. Es schien, als wolle er etwas derart Schreck­liches in seinem Zuständigkeits­bereich nicht wahrha­ben. Als er dann die be­hutsam vorgetragene Theorie, die auch Alice Peters in Be­tracht gezogen hatte, immer mehr hinterfragt hatte und dabei untypischerweise sogar fast aggressiv wurde, war Inge Westerhus klar, wie er über die Ermittlungen in diese Richtung dachte: Der Fall sollte bis auf Weiteres durch die Kräfte vor Ort bearbeitet werden. Zum einen seien ihm die Rückschlüsse zu voreilig und lediglich durch das Tatbild eines einzelnen Opfers begründet. Und außerdem sei die Haupt­kommissarin schließlich in der forensischen Psycho­logie geschult. Er hatte natürlich Recht: Sie hatte entspre­chende Kurse und Weiterbildungen im Bereich des Pro­filing gemacht, aber sie war die Einzige hier in Husum, die über diese eigent­lich als rudimentär zu bezeichnende Aus­bildung verfügte. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sie bisher in ihrem Wirkungsbereich noch nicht die Gelegenheit hatte, irgend­welche praktische Erfahrung zu sammeln. Immerhin hatte Quedlin ihr zugestanden, sich Unterstützung zu suchen, soweit dadurch nicht unnötig Staub aufgewirbelt wurde.

Jemand, mit dem ich meine Theorien besprechen kann, murmelte sie halblaut und durchforstete ihr Gedächtnis nach einer Person, die nicht aus der Medizin oder Psychologie kam, sondern einen polizeilichen Hintergrund hatte.

Jemand, der bei der Erstellung von Täterprofilen, geschult war. Jemand, mit dem sie ohne Rücksicht auf ihre Schwei­ge­pflicht ihre Gedanken teilen konnte. Jemand der wie sie davon ange­trieben wurde, die Wahrheit zu ergründen und den Täter auch zu verstehen. Und der nicht beim LKA ar­beitete. Ihr dämmerte etwas. Ein geradezu leidenschaft­liches Gespräch mit einer Kolle­gin kam ihr in den Sinn. Bei den letzten beiden Seminaren war sie dabei gewesen.

Wie hieß sie noch?

Eine junge Kollegin, noch in der Ausbildung, war tief in der Materie verankert. Obwohl auch Teilnehmerin, disku­tierte sie unglaublich gut mit den Seminarleitern und stellte ihre Ansätze nach mühevoller Gruppenarbeit auch immer coram publico vor.

Sie war aus Kiel!

Westerhus erinnerte sich an den vorletzten Abend: Eine kleine Gruppe hatte noch bis spät in die Nacht hinein einen auf­sehenerregenden Fall des FBI diskutiert. Ihre teils provokativen Annahmen, teils bestechend scharfsinnigen Analysen hatten schon tagsüber ihre Ausbilder beeindruckt und einige Seminar­teilnehmer desavouiert. Im Hotel hatte sich die zum Teil hitzige Diskussion fortgesetzt. Vor ihrem inneren Auge sah Westerhus die schlanke junge Frau mit dem blonden Pferdeschwanz und den großen blauen Au­gen, die bei so einem jungen Menschen ruhig etwas fröh­lich­er hätten dreinblicken dürfen.

Diese hübsche junge Frau… Sabine, Susanne…Sarah!

Es war ihr wieder eingefallen!

Sarah Hansen!

Sarah Hansen saß im Garten des Café Sostenuto und starr­te argwöhnisch auf ihr Handy. Eigentlich hätte sie ihre Mutter schon am Vormittag anrufen müssen. Sie hatte den heutigen Tag freigenommen, und Waldburg Hansen hatte das dummer­weise mitbekommen. Selbstverständlich, Sarah spürte die Un­ge­duld ihrer Mutter auch über die Distanz, wurde eine Kon­takt­aufnahme in irgendeiner Form von ihr erwartet. Den Vormittag über war es Sarah gelungen, das schlechte Gewissen, welches jahrzehntelange Konditio­nierung stets erfolgreich aus dem Dunkel heraufbeschwor, erfolgreich zu verdrängen. Doch jetzt, da die vielen Tele­fonate, Internetrecherchen und Formu­lare, die sie erledigt und bearbeitet hatte, keine Ablenkung mehr boten, drängte sich das ungute Gefühl wieder subtil in den Vordergrund. Sie schüttelte kurz den Kopf.

Nein Mama, dachte sie, jetzt genieße ich erst ein Stück Kuchen und meinen Kaffee.

Die Kellnerin, die in der Tür zu den Gasträumen erschien und leicht humpelnd ein Tablett die Stufen zum Garten her­unter­­balancierte, lenkte Sarahs Aufmerksamkeit weg vom Telefon. Auf dem Tablett befand sich, das konnte Sarah auch von hier aus erkennen, eine große Latte Macchiato. Wie schon drei Male zuvor wünschte sie sich inständig, dass es diesmal ihre sei. Erst als die Kellnerin mit ihrem of­fensichtlichen Hüftleiden zwei Tische umrundet hatte und sich zielstrebig auf dem Weg zu Sarahs Platz befand, konnte sie sich sicher sein: endlich!

»Der Apfelkuchen kommt auch gleich. Ohne Sahne, rich­tig?« Sie bekam die Latte direkt vor sich hingestellt.

»Nein, es war Zwetschgenkuchen und mit Sahne!«

Auf ein Bitte verzichtete sie, da die Frage bereits mehrfach gestellt worden war, immer ohne Sahne, nur mit verschie­denen Sorten Kuchen, die das Sostenuto offensichtlich auch im Ange­bot hatte. Die Kellnerin nickte wild, deutete auf ihren Kopf und winkte im Weggehen ab. Sarah blickte ihr kurz nach, senkte dann den Kopf und sog den Duft des Kaffees ein. Mit geschlos­senen Augen atmete sie einige Male tief durch.

Meine Zeit!

Ganz beiläufig bekam sie eine kurze Konversation am Ne­ben­­tisch mit. Erst wenige Minuten zuvor hatte dort eine alte Dame in Begleitung einer Mittfünfzigerin Platz genommen. Dem Al­ters­unterschied und dem Umgang nach handelte es sich um Mutter und Tochter. Die etwa neunzigjährige Frau blickte inter­essiert zu Sarahs Tisch. Dann wandte sie sich an ihre Tochter und meinte.

»Ich will meinen Kaffee auch mit zwei Strohhalmen. So wie die da drüben.«

Mit der einen Hand zerrte die Dame ihre Tochter am Är­mel, mit der anderen zeigte sie auf Sarahs Getränk.

»Das ist eine Latte Macchiato«, entgegnete die Angespro­chene in aller Ruhe, »und natürlich bekommst du eine, wenn du das möchtest.«

»Nein«, insistierte die Alte. »Ich will einen Kaffee! Aber auch mit Strohhalm! Sorg bitte dafür, dass ich das be­kom­me.«

Sarah Hansen musste schmunzeln, als sich ihre Blicke mit denen der jüngeren Frau trafen. Sie bekam noch mit, wie der Kellnerin mit Verweis auf ihre Latte so ein Kaffee wie der dort drüben in Auftrag gegeben wurde, dann widmete sie sich wie­der ihrem eigenen Glas. Doch bevor sie an dem Strohhalm nippen konnte, begann ihr Handy zu vibrieren und sich lang­sam in Richtung der Tischkante vorzuar­beiten.

Nein Mutter, nicht jetzt dachte sie und war kurz davor, den Anruf einfach wegzudrücken. Doch die Nummer im Dis­play war nicht die ihrer Mutter, sondern kam eindeutig aus der Polizeidirektion Flensburg. Das Dezernat für Kapital­verbrechen konnte Sarah noch aus der Nummer heraus­lesen, die Durch­wahlen jedoch wurden einheitlich mit „0“ weitergegeben.

Ihr freier Tag! Aber dann musste es wohl wichtig sein. Sie seufzte, fing das Handy geschickt neben der Tischkante auf und nahm das Gespräch entgegen.

Als das Mädchen an der Ampel stehen blieb und sich ver­stohlen nach rechts und links umblickte, um mög­licherweise doch noch schnell bei Rot die Fahrbahn zu kreu­zen, konnte er das erste Mal ihr Gesicht sehen. Sein Atem ging schneller. Auch spürte er, wie sein Puls sich merklich beschleunigte.

Sie war es! Sie musste es einfach sein! Sofort senkte er den Blick und drehte sich weg, hin zu dem Schaufenster, an dem er ge­rade vorbeigegangen war. Sie durfte ihn nicht sehen! Seit sie ihm wegen ihrer schlanken Beine und Arme und den kurzen braunen Haaren aufgefallen war, hatte er sie nur von hinten ge­sehen. Vor ungefähr fünfzehn Minuten war das gewesen, und von diesem Moment an war er ihr nachgegangen. Durch die komplette Fußgängerzone blieb er in ihrer Nähe und konnte den Blick nicht von ihrem Rücken lassen, von den Haaren, die mit ihrem Schritt leicht wogten, von der leicht gebräunten Haut ihrer Arme. Es war ihm leicht gefallen, mit den Touristen zu verschmelzen und ihr so unentdeckt zu folgen. Erst als sie den Innenstadt­bereich verlassen hatte und weniger Menschen zu Fuß unterwegs waren, musste er etwas mehr Abstand wahren, um nicht aufzufallen. Ohne sich ganz umzudrehen schielte er in ihre Richtung. Sie hatte sich mit einer Hand an den Ampelmast gestützt und einen Fuß auf die Zehen gestellt. Das angewin­kelte Knie bewegte sie ungeduldig hin und her. Er starrte auf das weiße T-Shirt, unter dem sich leicht ihre kleinen Brüste abzeichneten, auf die schmale Röh­renjeans, die einen eher kna­ben­haften Po erkennen ließ und etwa zwanzig Zentimeter über ihren Fesseln endete, auf die rot gepunkteten Ballerinas, die sie barfuß zu tragen schien. Noch während er ihren Körper, ihre Bewegungen studierte, begann es. Sein Kopf fing an, leicht hin- und herzuzucken, sein Kiefer begann, sich zu verkrampfen, und seine Knie drohten ihm wegzuknicken. Sofort wandte er sein Gesicht ab, kniff die Augen gewaltsam zu und widerstand dem Drang, die Arme zu heben und sich die Ohren zuzuhalten. Er atmete nun so schnell, dass es einem Hecheln gleichkam. Vor seinem inneren Auge sah er nur bunte Muster, psy­chedelische Bilder wabernder, bewegender Formen. Doch bevor er das Gleich­gewicht verlor, machte er einen ersten tiefen Atemzug. Es folgte ein zweiter. Und noch ein dritter. Nach wenigen Se­kunden hatte er sich wieder unter Kon­trolle, seine Beine stützten ihn, sein Kiefer entkrampfte, und er konnte die Augen wieder öffnen. Ängstlich sah er sich um. Niemand schien den kurzen Anfall bemerkt zu haben. Dann blickte er - fast schon panisch - in ihre Richtung. Die Ampel war grün geworden, und sie hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. Bis er aus seiner Starre herauskam und ihr schnellen Schrittes hinterherstürzen konnte, hatte sie bereits die Straße scchon überquert.

Ich darf sie nicht aus den Augen verlieren!

Als sie beherzt zu einem Bus spurtete, der unmittelbar nach­­dem sie sich über das Trittbrett geschwungen hatte, die Türen schloss und losfuhr, ergriff ihn blanke Angst! Er warf alle Vor­sicht über Bord und rannte aus voller Kraft hinter dem Bus her.

Nein, das darf nicht sein!

Doch er besann sich, wurde langsamer und blieb stehen. Er kniff die Augen zusammen und sah angestrengt dem klei­ner werdenden Bus hinterher. Linie Drei. Er atmete einige Male tief durch und lächelte. Dann drehte er sich um und kehrte gemächlichen Schrittes zur Haltestelle zurück, um den Fahr­plan genau zu studieren.

Ungeduldig lauschte Inge Westerhus dem Tuten in der Lei­tung. Das Gespräch mit dem Dezernatsleiter der Polizei­direktion in Flensburg, wo die junge Kollegin derzeit ar­beitete, war so unerwartet positiv verlaufen, dass sie es jetzt kaum erwarten konnte, mit Sarah Hansen persönlich zu sprechen. Sie hatte sich im Vorfeld große Sorgen gemacht, ob und wie es ihr überhaupt gelingen konnte, die junge Kollegin zu dem Fall hier auf dem Lande hinzuzuziehen. Doch was ihr Peter Haberstroh mitteilte, hatte sie augen­blicklich in eine bessere Stimmung versetzt. Offensichtlich strebte Frau Hansen derzeit ziemlich hartnäckig eine Versetzung in den Süden der Republik an, und da dem Antrag höchst­wahrscheinlich relativ kurzfristig statt­gege­ben werden sollte, war es für Haberstroh leichter gewesen, Sarah Hansen von ihren Aufgaben in Flensburg freizu­stellen und sie den Ermittlungen in Husum zuzuweisen. Frau Hansens Einverständnis vorausgesetzt, man wolle ihr, da sie ihre letzten Wochen vor sich hatte, keine vermeid­baren Unannehm­lichkeiten bereiten. Also hatte Inge Wes­terhus den Rückruf brav abgewartet und nun, spät am A­bend, da sie das OK seitens der Dienststelle und Frau Han­sens Handynummer übermittelt bekommen hatte, gleich zum Hörer gegriffen.

»Sarah Hansen?«

Das Gespräch dauerte nur wenige Minuten. Erfreut stellte Inge Westerhus fest, dass ihre Kollegin während der Jahre nichts von ihrem Elan eingebüßt hatte. Schon nach weni­gen Details, die Inge Westerhus ihr zu dem Fall nannte, war Sarah Hansen Feuer und Flamme und hatte ihr Kommen für den übernächsten Abend zugesagt. Westerhus` Ange­bot, für die Zeit der Ermittlungen bei ihr im reetgedeckten Haus im Püttenweg direkt hinter dem Deich zu wohnen, hatte sie auch dan­kend angenommen.

Als nächstes rief Inge Westerhus ihren Mann an, um ihm und ihren beiden Kindern Marie-Claire und Lars mit­zu­teilen, dass eine junge Kollegin auf unbestimmte Zeit bei ihnen einziehen werde. Sie verband mit dieser aufrichtig als Hilfe für Sarah Hansen gedachten Aktion auch die Hoffnung, die neuen Um­stände würden dem Besuch ihrer Schwiegermutter ein vor­zeitiges Ende bescheren. Zwingend war das nicht, Zimmer gab es in dem Haus mehr als genug. Trotzdem würde eine fremde Person im intimen Umfeld möglicherweise Isolde Westerhus` Gefüge derart erschüt­tern, dass sie es vorzog, sich dem zu ent­ziehen. Und wenn sich Peters Mutter durch Frau Hansens bloße Anwesenheit oder subtile Andeutungen nicht zur Abreise be­wegen las­sen sollte, würde Inge beim ersten Abendessen das Ge­spräch auf den Fall lenken: Ihr Mann Peter wäre interessiert und engagiert dabei, und ihre Schwiegermutter war so zart besaitet, dass ihr ein Verbleib am Tisch, besser noch im Haus, unmöglich sein würde. Vorteil Inge Westerhus, dachte die passionierte Tennisspielerin verschmitzt. Sie erwog sogar, zur Not Alice Peters zu einem weiteren Abendessen einzuladen, mit ihrer ungebremsten Art ein Übriges zu ihrem perfiden Plan beisteuern würde.

Flexible Response am Familienkriegs­schauplatz, fuhr es Inge Wes­terhus unter einem weiteren Lächeln durch den Kopf. Zum Schluss schrieb sie noch eine Mail an die IT-Abteilung, die Kollegen mögen doch bitte im Laufe des morgigen Tages auf der gegenüberliegenden Seite ihres Schreib­tisches einen der alten PCs installieren, einen Zugang zum lokalen Netz ein­richten und ein Telefon aufbauen. Die Mail schickte sie Arved Munz, Feit Müller und Bernd Hagen in Kopie, damit sie gleich morgen Vormittag zumindest formal vom Eintreffen der jungen Kollegin unterrichtet waren. Sie selbst würde ihren Arbeitstag mit Alice Peters in der Gerichts­medizin in Kiel beginnen, um sich von Professor Doktor Herrmann über die Ergebnisse der Obduktion genauestens unterrichten zu lassen. Sie blickte auf die Uhr: Viertel nach acht! Das war nicht spät genug, um ihrer Schwiegermutter nach deren allabendlichen Averna nicht mehr über den Weg zu laufen, aber zumindest würde sie ihr Abend­essen in der Gesellschaft ihres pflichtbewussten Sohnes und der ihrer beiden Enkel, so sie sich denn rechtzeitig zuhause einge­funden hatten, bereits zu sich genommen haben. Inge Wester­hus fuhr ihren PC runter, packte ihre Tasche und verließ ohne Eile das Polizeirevier.

»Von dir hört man ja gar nichts mehr!«

Sarah musste alle Beherrschung aufbringen, nicht gleich auf dem Absatz kehrtzumachen, sondern lächelnd ihre Mut­ter in den Arm zu nehmen und ihr rechts und links ein flüchtiges Küsschen auf die Wange zu drücken. Ein verär­gertes Ver­drehen der Augen ließ sie sich jedoch nicht neh­men, es war je­doch nur für sie selbst gedacht, achtete sie doch peinlich genau darauf, dass es Waldburg Hansen nicht mitbekam. Da sie die­sen Satz immer vor einer Begrü­ßung entgegengeschleudert bekam, egal ob sie drei Wochen auf Fortbildung gewesen war, oder sie noch am Vortag telefoniert hatten, war Sarah ziemlich abgestumpft. Auch wenn der beleidigte Tonfall über die letzten Jahre fordern­der, härter geworden war, konnte sie immer bes­ser mit dem Opferspiel ihrer Mutter umgehen. Sie hatte ver­schie­dene Strategien ausprobiert. Anfangs war sie noch in die Recht­fertigung verfallen, später hatte sie angriffslustig den Ball zurückgegeben, dann versucht, verständnisvoll auf ihre Mutter einzugehen. Mit der Zeit hatte sich ziemlich klar heraus­kristal­lisiert, dass die wirkungsvollste Maßnahme schlicht war, solch unterschwellige Angriffe komplett zu ignorieren.

»Hallo Mama, gut siehst du aus! Du warst beim Friseur, richtig?«

Heute war Waldburg Hansen hartnäckiger. Sie sah auf die Uhr.

»Jetzt ist es schon nach acht, den ganzen Tag habe ich mich gefragt, wann du dich wohl melden wirst!«

Und, um Sarah wirklich aus der Reserve zu locken, setzte sie noch „wo du doch den ganzen Tag Zeit hattest“, hinzu.

Gerade noch konnte Sarah das: Ja, aber ich hatte furchtbar viel zu tun hinunterschlucken, das sie wieder in die Defensive ge­drängt hätte und konterte statt dessen in lockerem Ton mit einem

„Aber jetzt bin ich ja da!“

Innerlich war sie aber keinesfalls so selbstsicher wie es ihre unermüdlich eingeübten Antwortsätze vermuten ließen.

»Ich habe dir einiges zu erzählen.«

Ihre Mutter musterte sie argwöhnisch. Ihr prüfender Blick war von einer solchen Intensität, dass Sarah schon wieder drohte, in ihre alten Verhaltensmuster zu verfallen. Sie hielt dem aber stand und schaffte es sogar, das aufgesetzte Lä­cheln weiter glaubhaft zur Schau zu stellen. Allerdings merk­te sie, wie ihr innerlich schlagartig heiß wurde, eine Schweißperle im Nacken den Weg unter ihre Bluse fand und langsam den Rücken hin­unter­rann. Sie nutzte den Moment, um hinter sich zu greifen und aus dem auf dem Bo­den abgestellten Einkaufskorb den in Papier einge­schlagenen Blumenstrauß zu nehmen und ihn ihrer Mutter zu überreichen.

»Für dich«, sagte sie nur und hatte einige Sekunden ge­wonnen, in denen ihre Mutter ihre Aufmerksamkeit auf das Gebinde richtete. Das reichte, um einmal tief durchzuatmen und sich innerlich wieder Stütze zu verschaffen.

»Danke, aber das wäre doch nicht nötig gewesen.«

Sarah verabscheute solche Floskeln, fehlte ihnen doch jeg­liche Wärme und Authentizität.

»Aber Mama, natürlich bringe ich dir Blumen mit, ich weiß doch, wie sehr du Papageientulpen liebst.«

Waldburg Hansen erwiderte nichts, sondern steuerte durch die monumentale Halle in Richtung der Küche, die einem noblen Res­taurant alle Ehre gemacht hätte. Sarah folgte ihr und fühlte sich wie immer von den schweren Teppichen, dem dunklen Mo­biliar und den hohen Decken fast erschla­gen. Die üppige Ausstattung mit Ölgemälden in barocken, goldenen Holz­rahmen, die Lüster an der Decke und die beiden brusthohen Vasen, die die Doppelflügeltür zum Wohnraum flankierten, all das drückte auf ihr Gemüt. Auch in der Küche, die von einem zentralen gusseisernen Herd mit gigantischer Abzugshaube dominiert wurde, besserte sich ihre Stimmung nicht. Auch wenn die Kochinsel seit sie denken konnte nicht mehr in Betrieb war, und ihre Mutter mittlerweile sogar auf Induktion kochte, war die zwei­hundert Jahre alte Küchenausstattung des Herren­hauses praktisch unverändert geblieben und hatte den Charme eines Burgverlieses. Innerlich schüttelte sich Sarah. Wie sie trotz dieser Umgebung ihre Liebe zum Kochen entwickeln konnte, war ihr stets ein Rätsel geblieben. Trotzdem be­zeich­­nete sie sich als leidenschaftliche und – so viel Stolz durfte sein – als exzellente Köchin. Ihre Menüs und Krea­tionen wurden, so selten sie dazu kam, Freunde zu aufwän­dig vorbereiteten Fest­essen einzuladen, stets in den Himmel gelobt. Und die Aner­kennung tat ihr jedes Mal gut.

Sarah beobachtete ihre Mutter, wie sie schweigend jeden ein­zelnen Stängel der Tulpen penibel anschnitt und den Strauß in einer mit Jagdmotiven verzierten Zinnvase mit Henkel neu arrangierte. Als das recht grotesk wirkende En­semble ihren An­sprüchen zu genügen schien, drückte sie es Sarah in die Hand.

»Wollen wir in den Wintergarten gehen? Dort ist es um die­se Zeit am schönsten.»

Sarah nickte und ließ ihrer Mutter den Vortritt, die for­schen Schrittes die Küche auf dem Weg zum Speise­zimmer verließ.

Sündenlohn

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