Читать книгу Und ich war nie in der Schule - Andre Stern - Страница 14
Fotografie
ОглавлениеDie Fotografie und ich, das ist eine lange Geschichte und ein Ende ist nicht abzusehen.
Von klein auf wurden wir von Papa fotografiert; er hat Tausende von Fotos gemacht.
Das Fotografieren war ein selbstverständlicher Teil meines Lebens, ohne dass ich ihm besondere Aufmerksamkeit gewidmet hätte. Manchmal hielt ich Papas Apparat und drückte auf den Auslöser, aber mehr nicht.
Eines Tages – ich muss ungefähr zehn Jahre alt gewesen sein – kamen bei uns große, schöne Bücher an, rund 15 Bände von Prestige de la Photographie.
Bei uns zu Hause trafen oft Buchlieferungen ein. Da Papa einen Gewerbeschein als Buchhändler hatte, konnten meine Eltern im Großhandel einkaufen und dort auch bereits im Preis herabgesetzte Werke zu sehr günstigen Konditionen erwerben. Das taten sie mehrmals in der Woche.
Sie suchten nicht nach bestimmten Büchern. Sie machten Entdeckungen und kauften, was sie verführte: schön gedruckte und eingebundene Bücher, vollständige Werkausgaben, Werke, die den Dingen auf den Grund gehen, uns eigentlich unverständliche, aber unwiderstehliche Fachbücher, keine Schulbücher.
Bis heute finden diese Beutezüge statt, selbst in den häufigen Zeiten akuter Geldnot.
Wenn die Buchlieferungen eintrafen, sah ich die Bände immer gleich durch; manche weckten sofort mein Interesse, andere gar nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt. Ich fand in den Büchern Antworten auf die meisten Fragen, die mich beschäftigten. Meine Schwester Eléonore fischte nach ihrem eigenen Gutdünken in diesen Schätzen – nach anderen Kriterien als ich, denn sie hatte eigene Vorlieben. Ab und an deckten sich unsere Interessengebiete aber auch, und manchmal beschäftigten wir uns zeitlich versetzt mit denselben Themen.
Die Reihen Prestige de la Photographie und Time Life Photography zählten zu den Büchern, die mich sofort in ihren Bann zogen. Ich schlug die erste Seite des ersten Bands auf und ich hatte das Gefühl, erst am Ende der letzten Seite des letzten Bandes wieder zu Atem zu kommen.
Man fand in diesen wunderbaren Werken das gesammelte Wissen der Fotografie. Die Geschichte der Fotografie, von Niepces ersten wackeligen Versuchen bis zu den neuesten technischen Fortschritten; Biografien sämtlicher großer Fotografen; die Geschichte aller Marken, aller Kameras und Verfahren. Es gab umfangreiche Erläuterungen zu allen Phänomenen und Prozessen, allen Vorgängen und Reaktionen, von der Vorbereitung des Filmes bis zum Trocknen der Abzüge; alle Aufnahme- und Labortechniken, sämtliche Möglichkeiten der Bearbeitung sowie der Korrektur und selbst der Restaurierung, von Daguerreotypien bis zum Mikrofilm; die Belichtungstechniken, die Wahl des Hintergrunds, der Umgang mit dem Blitzlicht, die optischen Gesetzmäßigkeiten und die entsprechenden Berechnungen; ausführliche Hintergrundberichte zur Entwicklung, Herstellung und Eichung der Objektive sowie Interviews mit berühmten Fotografen und Reportagen über ihre Arbeit.
Diese Fülle nahm mich völlig ein.
Manche komplizierten technischen Ausführungen musste ich mehrmals lesen, aber irgendwann erkannte ich ihre schlichte Logik.
Nebenher schmiedete ich mir eine Strategie, um die Rohstoffe, die ich im Büchertagebau abbaute, aufzubereiten. Ich lernte zu lernen anhand von Material, das ganz und gar nicht für didaktische Zwecke gedacht war. Aus einem guten Buch kann man alles verwerten, wenn man weiß, wie die einzelnen Rohmaterialen verarbeitet werden. So ist es möglich, aus nahezu jeder seriösen Quelle die Informationen herauszupicken, die man gerade benötigt. Diese Methode kann nicht verallgemeinert werden, aber mir nützt sie tagtäglich.
Ich konnte bald auf den ersten Blick jeden Fotoapparat erkennen.
Insbesondere die Leica faszinierte mich. Ich hatte das Kapitel zu ihrer Geschichte mehrmals gelesen und jede Zeile, jedes Datum, jedes Bild verinnerlicht. Ich konnte mit geschlossenen Augen mein Lieblingsmodell, die Leica IIIc, auf die Schraube genau zeichnen – denn anhand der Schrauben kann man das Original von einer Nachahmung unterscheiden!
Papa und Mama besuchten mit mir das Musée de la Photographie in Bièvres. Ich entdeckte dort zwar so gut wie nichts Neues, aber ich konnte all die Kameras, die ich in- und auswendig kannte, in natura sehen; das war ein erhebendes Gefühl. Ich ging von Vitrine zu Vitrine und vertiefte mich schweigend in die Betrachtungen. Papa, Mama und Eléonore begleiteten mich ohne Ungeduld, auch wenn sie selbst nur begrenztes Interesse an diesem seltsamen Sammelsurium hatten (das Museum in Bièvres bestand hauptsächlich aus einem unglaublichen Durcheinander an Kameras, die sich unkommentiert in überladenen, verstaubten Vitrinen stapelten – genau, was ich brauchte!).
Ich begann Skizzen anzufertigen, Pläne und Projekte auszuarbeiten.
Ich versah Streichholzschachteln mit winzigen Löchern und verwendete durchsichtiges, mattes Klebeband als Mattscheibe.
Dann verfeinerte ich meine Konstruktion noch weiter und setzte eine Linse vor das Loch.
Zwei Teleskopröhren aus Karton wurden mein erstes Objektiv und ich experimentierte mit Fokussierung und Einstellungen. Schritt für Schritt setzte ich all die Theorien, über die ich gelesen hatte, in die Praxis um.
Ich konstruierte meinen ersten Guillotine-Verschluss mit einem Pappband, in das ein Loch gebohrt war und das sich in einem perforierten Gehäuse bewegte.
Dann fügte ich all diese etwas ungleichen Einzelteile zu meinem ersten Fotoapparat aus Karton, Lego und Holz zusammen.
Ich hatte etwas Mühe, diesen Apparat vollständig abzudichten, und mit jeder Schicht wurde er voluminöser. Das Einlegen eines Films wurde zu einer komplizierten Angelegenheit, denn dafür musste man alles auseinandernehmen. Außerdem wurde der Film schlecht transportiert, weil die Abdichtung den Apparat zu sehr zusammenpresste.
Ich legte einen Film ein und machte so gut es ging 36 Aufnahmen. Dann gab ich den Film dem Fotografen hinter der Kirche St. Sulpice zum Entwickeln. Beim Abholen erschien mir der Weg dorthin endlos, weil ich es kaum erwarten konnte, die Bilder zu sehen. Leider stellte sich heraus, dass außer einer grauen, verschwommenen Suppe nichts darauf zu erkennen war.
Entschlossen versuchte ich, das Problem und die möglichen Gründe für den Fehlschlag zu analysieren. Ich war dabei auf mich gestellt, denn niemand in meiner Umgebung hätte mir helfen können; aber ich fand es ohnehin interessanter, den Ursachen selbst auf den Grund zu gehen, als der Meinung eines Fachmannes zu folgen.
Nach einer Weile begriff ich, dass meine Berechnungen fehlerhaft gewesen waren und dass sich vor allem die verwendeten Materialien nicht präzise genug zusammenfügten.
Also begann ich wieder bei null und zeichnete Skizzen aller Einzelteile für einen neuen Apparat, den ich diesmal aus Holz konstruieren wollte.
Nebenher zeichnete ich auch Pläne für eine Erfindung, die ich noch heute einigermaßen schlüssig finde: Um den komplexen Bewegungsablauf von Spiegel und Verschluss bei einer Spiegelreflexkamera zu vereinfachen, ersann ich einen Spezialfilm, bei dem sich eine lichtempfindliche Fläche mit einem transparenten Filmstreifen abwechselte. Bei meiner Stand directmatic sah man beim Blick durch den Sucher durch den transparenten Film, schloss den Verschluss, verschob den Film, sodass sich nun die lichtempfindliche Fläche an der entsprechenden Position befand, dann öffnete man den Verschluss, schloss ihn wieder und verschob den Film erneut... Das Prinzip war ziemlich überzeugend, aber ich musste schließlich einsehen, dass manche vereinfachten Geräte weniger gut funktionieren als ihre Ausgangsmodelle – ähnlich wie der Wankelmotor im Verhältnis zum Hubkolbenmotor.
Mein Fotoapparat aus Holz verfügte über ein Objektiv, das ich aus dem schwarzen Röhrchen einer Filmdose gefertigt hatte, und zum Aufrollen des Films baute ich die Spule einer zerlegten Filmrolle ein. Dieser Apparat funktionierte schließlich insoweit, dass einige erkennbare Aufnahmen möglich waren.
Damit war ich zufrieden und beendete meine Konstruktionsversuche. Denn zum Fotografieren durfte ich Papas Kamera verwenden. Als er meine Expertise bemerkte, lieh er mir sogar seine kostbare Pentax, die mit ihm um die Welt gereist war.
Während ich gerade an der Konstruktion meines zweiten Apparates arbeitete, studierte Mama ohne mein Wissen das Kursangebot des ADAC und suchte einige Ateliers auf, um die Lehrer für Fotografie kennenzulernen: Darunter war auch Guilaine, und Mama und sie verstanden sich auf Anhieb gut.
An einem Montag, bei der Rückkehr von unserem wöchentlichen Landausflug – ich erinnere mich gut, dass ich an diesem Tag bei einer Fotosession vor unserem alten Simca zum ersten Mal einen ganzen Schwarzweißfilm verknipst hatte -, setze man mich bei Guilaine ab, die in den Kellerräumen des Centre André Malraux ihre Fotokurse gab. Guilaine war eine sehr moderne und dynamische junge Frau. Jede Woche hatte sie eine neue Frisur, und die eigenwilligsten Farbkombinationen sahen an ihr zauberhaft aus. Sie war eine aufrechte Künstlerin und hatte auch außerhalb ihrer Kunst einen ganz persönlichen, fröhlichen und offenen Stil entwickelt, eine sehr individuelle Erscheinung, eine besondere Handschrift, eine spezielle Schreibweise ihres Namens – ihre eigene Lebenskunst.
Sie machte großen Eindruck auf mich und nahm den lernfreudigen, passionierten Jungen, den sie in mir sah, unter ihre Fittiche. Unsere Freundschaft bereichert mich bis heute. Ebenso wie Guy versuchte Guilaine nie, mir etwas auf schulische Weise beizubringen (das hätte auch ihrer Ethik widersprochen), und wie er betrachtete und behandelte sie mich nie wie ein Kind. Sie gehört zu den drei großen Meistern in meinem Leben.
Im Mittelpunkt meiner Ausbildung stand die Arbeit im Fotolabor. Denn was die Aufnahmetechniken anging, so hatte ich wirklich alles aus der Encyclopédie Time Life de la Photographie erfahren, in der sie mit einigen anschaulichen Metaphern klar erklärt werden.
Drei Jahre lang lernte ich bei Guilaine, ohne dass sie mir ihr Wissen jemals aufdrängte. Oft beschränkte sie sich darauf, mir die nötige Infrastruktur für meine Arbeit zur Verfügung zu stellen. Ab und an, wenn ich allzu lange von der Bildfläche verschwunden war, kam sie vom Nebenraum, wo ihre anderen Schüler sie in Beschlag nahmen, durch den Schleusenraum ins Labor, um einen Blick auf meine Arbeit zu werfen – das war immer ein besonderer Moment für mich.
»Ich wollte nur einmal sehen, wie es dir geht«, sagte sie dann mit ihrer lebhaften Stimme, während sie, nach dem obligatorischen dreimaligen Anklopfen, durch die Tür trat.
Sie betrachtete meine Einstellungen, begutachtete die Abzüge, die im Entwickler- oder Fixierbad lagen oder in dem Becken zum Wässern, und nach einem kurzen »Sehr gut« machte sie noch eine Runde bei den anderen Schülern, bevor sie den Raum wieder verließ.
Nach drei Jahren unterstützte sie mich in meinem Vorhaben, ein eigenes Labor einzurichten, da sie es für unsinnig hielt, dass ich weiterhin Kursgebühren zahlte, obwohl ich lediglich das Labor nutzte.
In meinem Leben setzt sich stets ein eigenartiger Prozess in Gang, wenn ich im Begriff bin, eine wichtige Entscheidung zu treffen. So erreiche ich meine Ziele langsam, aber unaufhaltsam – und manchmal, ohne dass es mir bewusst ist: Es ist so, als ob plötzlich das gesamte Universum konspiriert und mich schließlich vor vollendete Tatsachen stellt.
Dieses Mal brachte der philanthropische Bruder eines Freundes den Stein ins Rollen: Er schenkte mir unerwartet seinen alten Projektor, ein wunderbares Gerät der Firma Rohen. Nach einigen Nachforschungen fuhr Papa mit mir zum Stammhaus des Unternehmens in einem Pariser Vorort, um ein Ersatzteil abzuholen.
Und der Prozess nahm seinen Lauf...
Ich dachte darüber nach, unser Garderobenzimmer zu meinem Labor zu machen, und fand eine Lösung, die meine Familie überzeugte. Ich ließ ein Brett als passende Arbeitsplatte zuschneiden, und mehrere Stunden verbrachte ich mit dem Streichen und Abdichten des kleinen Raumes.
Ich suchte die Läden am Boulevard Beaumarchais ab und stellte Stück für Stück die nötige Ausstattung zusammen. Bezüglich Qualität und Preis hatte ich hohe Ansprüche und als die Verkäufer merkten, dass ich genau wusste, was ich wollte, nahmen sie mich ernst. Nicht selten verließ ich einen Laden mit einem besonders exquisiten, etwas ausgefallenen Gegenstand, den sie für Kenner im Hinterzimmer aufbewahrten.
Bald hatte ich alles beisammen und mein Labor war einsatzbereit.
Obwohl ich in keinem Kurs mehr eingeschrieben war, schaute ich oft bei Guilaine vorbei und zeigte ihr die Ergebnisse meiner Arbeit. Sie ließ sich freundlicherweise jedes Mal darauf ein und gab mir noch viele wertvolle Ratschläge.
Viele Stunden verbrachte ich in der Folge in meinem Labor, umgeben von den typischen Gerüchen und Geräuschen der verschiedenen Flüssigkeiten, einsamen Stunden des gespannten Wartens, die für diese Tätigkeit charakteristisch sind. Und auch einige befreundete Fotografen haben seitdem von meiner Ausstattung Gebrauch gemacht.
Was mich betrifft, so muss ich zugeben, dass mir die Laborarbeit letztendlich ein wenig öde wurde – trotz der vielen magischen Stunden im Dämmerlicht des Labors und bei aller Freude darüber, ein Foto aus dem Nichts entstehen zu sehen, und obwohl ich mittlerweile einen Blick für die richtigen Feineinstellungen entwickelt hatte. Erst mit dem Aufkommen der digitalen Fotografie habe ich meine Begeisterung wiedergefunden.
An die Stelle der Labortätigkeit tritt bei der Digitalfotografie die Bearbeitung am Computer. Dabei fühle ich mich wieder auf liebem, vertrautem Terrain, und die bei Guilaine erworbenen Kenntnisse erweisen sich als ungemein wertvoll.
Ich kann das Kapitel der Fotografie nicht abschließen, ohne auf Delphine zu sprechen zu kommen. Meine Tante Nicole beschloss, meiner Cousine zu ihrem 20. Geburtstag einen Fotoapparat zu schenken. Sie fragte mich um Rat, und gemeinsam durchforsteten wir die Regale mit den Sonderangeboten im Pariser FNAC, einem großen Fachhandel. Ich entdeckte ein echtes Schnäppchen: eine ganz einfache Olympus, einen Klassiker, den Delphine neben ihrer Leica später weiterhin verwendete.
Einige Tage nach ihrem Geburtstag waren sie und ich im Bus unterwegs. Sie hatte gerade ihre Kamera erhalten und wir beide waren sehr stolz darauf. Delphine war ganz versessen auf die Fotografie (die Bücher, die zu diesem Thema geliefert wurden, gehörten zu unseren gemeinsamen Favoriten), aber sie wusste noch nicht viel über die technischen Abläufe. Während dieser halbstündigen Busfahrt erklärte ich ihr in einem Atemzug alle Vorgänge, sämtliche Einstellungen und ihre Auswirkungen. Ich dachte eigentlich, dass ich ihr auf diese Weise erst einmal einen Überblick über das umfangreiche Themengebiet vermitteln würde, um später die Einzelheiten zu erläutern. Aber hier zeigte sich wieder einmal, dass ein Mensch, der sich frei entfalten darf, ganz selbstverständlich wie ein Schwamm alle Informationen aufsaugt, wenn sie mit einem Thema zu tun haben, das ihn fasziniert.
Noch heute verblüfft es mich, dass ich Delphine kein einziges jener technischen Details ein zweites Mal erklären musste; sie hatte alles beim ersten Hören verinnerlicht.
Delphine wurde eine sanfte und furchtlose Fotografin, die ihre Bilder in Ausstellungen zeigt und verkauft.
Neben meinen regelmäßigen wöchentlichen Aktivitäten standen mir all die übrigen Stunden zur »Improvisation« zur Verfügung.