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Papa

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Mein Vater Arno Stern wird 1924 in Kassel als Sohn von Isidor und Martha Stern in eine deutsche Industriellenfamilie hineingeboren. Die ersten neun Jahre seines Lebens sind sehr glücklich.

Isidor Stern war während des Ersten Weltkriegs mit 19 Jahren (anstelle seines älteren Bruders, der bereits Familienvater war) freiwillig in den Krieg gezogen und als Dragoner an der Front verwundet worden. Er war ein entschlossener, großzügiger und gläubiger Mensch. Nach dem Krieg hatte er seinen eigenen Hausstand gegründet und widmete sich, unermüdlich den schwierigen Jahren der Weltwirtschaftskrise trotzend, dem Glück seiner Familie.

Mein Vater erinnerte sich sehr gut an seine Kindheit, und er erzählte uns immer wieder von den Spielen mit seiner Mutter, von ihrer Kakteensammlung, von seinem Vater, der morgens mit einem Köfferchen das Haus verließ, um seinen Arbeitern den Tageslohn auszuzahlen.

Vor einigen Jahren begleitete ich Papa auf eine nostalgische Reise: Er fand die Wohnung seiner Kindheit in einem der wenigen Stadtviertel Kassels, die von den Bombardierungen während des Zweiten Weltkriegs verschont geblieben waren, nahezu unverändert vor.

In den 1930er Jahren verfolgt mein Großvater, der über verschiedene Bekannte gut informiert ist, mit Sorge die politischen Entwicklungen. Als er 1933 die Antrittsrede Adolf Hitlers hört, fasst er unverzüglich den Entschluss, mit seiner Familie das Land zu verlassen.

Er hat für sein Vaterland gekämpft, seine Familie ist deutsch und seine militärischen Heldentaten sollten ihn vor Übergriffen eigentlich schützen, aber an seiner Entscheidung ist nicht zu rütteln. In aller Heimlichkeit wird ein Wagen organisiert.

Der kleine Arno spielt im Hof des Wohnhauses mit seinem roten Tretauto, als ihn plötzlich seine Mutter ruft: Arno, komm schnell! Er möchte noch sein Auto parken, doch Martha dringt darauf, dass er es stehen lässt und sofort mit ihr kommt. Es stand nicht mehr im Hof, als wir 67 Jahre später zurückkamen.

Sämtliches Hab und Gut wird zurückgelassen. Es folgen eine lange Reise nach Frankreich, eine vollständige Entwurzelung, ein Leben als Heimatlose, eine armselige Unterkunft zunächst in Mulhouse, später in Montbéliard. Isidor putzt Fenster, Martha wird Stickerin und Arno geht zur Schule. Weil er kein Französisch spricht, geht er in eine Klasse, in der die Mitschüler vier Jahre jünger sind. Einer seiner Klassenkameraden, der kleine Jacques Greys, ist von ihm fasziniert, die anderen Jungen schlagen und schimpfen ihn »sale boche« – dreckigen Deutschen.

Doch binnen Kurzem hat er sich integriert und avanciert zum Klassenbesten – in einem Kopf-an-Kopf-Rennen mit Jacques, der ein Leben lang sein Freund bleiben wird.

Mein Großvater arbeitet mit ganzer Kraft am Aufbau einer neuen Existenz, während Martha geschickt dafür sorgt, der Familie in den unsicheren Verhältnissen ein Gefühl von Zuhause zu geben.

Angesichts der näher rückenden deutschen Armee verlassen meine Großmutter und mein Vater im Juni 1940 Montbéliard, während mein Großvater, der sich als freiwillige Hilfskraft zur französischen Armee gemeldet hat, ihnen später zu Fuß folgen soll.

Nach verschiedenen, oft dramatischen Zwischenfällen ist die Familie schließlich in Valence wieder vereint, das zu dieser Zeit noch nicht von den Deutschen besetzt ist. Aber bereits ein Jahr später bleibt der Familie nur die erneute Flucht.

Diesmal flüchten sie in die Schweiz. Den Diensten eines Schleppers sowie dem Instinkt meines Großvaters ist es zu verdanken, dass dieses heikle Unterfangen gelingt.

Die weiteren Kriegsjahre werden die Sterns in Arbeitslagern für Flüchtlinge verbringen; mein Vater und mein Großvater in dem einen, meine Großmutter in einem anderen. Die Lebensumstände sind elend, die Arbeit ist hart, aber das Überleben ist gesichert. In diesen Lagerbaracken entdeckt der junge Arno die Musik, die ihm unentbehrlich wird.

Es kommt das Jahr 1944. Der Himmel über Deutschland verfärbt sich jeden Abend unter den Bombardierungen der Alliierten glutrot. Das Radio verkündet die Niederlagen der Wehrmacht, doch der Krieg dauert an.

Nach der Befreiung Frankreichs kehrt die Familie Stern nach Montbéliard zurück. Das Land liegt in Trümmern, jeder bemüht sich um den Wiederaufbau. Mein Großvater macht sich ein weiteres Mal daran, aus dem Nichts eine Existenz aufzubauen.

Gemeinsam mit seiner Frau fertigt er Schulterpolster an und bald schon ist das Unternehmen Aux trois étoiles (Die drei Sterne) geboren. Arno, der »dritte Stern«, übernimmt den Außendienst. Er besucht die Kundschaft, reist oft nach Paris und nimmt dort die Bestellungen auf. Die Schulterpolster verkaufen sich gut, das Unternehmen wächst und man stellt Arbeiterinnen ein.

Einige Zeit später erhält der junge Arno das Angebot, in einem Kinderheim für Kriegswaisen in einem Pariser Vorort zu arbeiten. Er nimmt diese Stelle an. Man betraut ihn mit der Beschäftigung von Kindern, deren Eltern deportiert wurden. Er hat diesen Beruf nicht erlernt (Arno hat gar keinen Beruf erlernt), so kann er ihn von Grund auf erfinden und benützt dazu die begrenzten Mittel, die ihm zur Verfügung stehen.

Er beschafft Zeichenmaterial: Die Kinder sind begeistert. In immer größerer Zahl kommen sie zu ihm – eine richtige Überflutung. Es entstehen ganz selbstverständlich ein Ort (der Malort) und eine Rolle (die dienende Rolle im Malort), die es zuvor nicht gab. Arno verschreibt sich mit Leib und Seele deren Ausbau.

Als das Kinderheim geschlossen wird, beschließt er, in Paris einen Malort zu eröffnen – der umgehend zu einem großen Erfolg wird.

Im Jahr 1948 bringt seine erste Frau einen Sohn zur Welt: Sie nennen ihn Bertrand.

Wenig später bezieht Arno mit seinem Atelier, das er Académie du Jeudi (Donnerstagsakademie) nennt, neue Räumlichkeiten im Quartier Saint-Germain-des-Prés. Sein Bekanntheitsgrad wächst, er veröffentlicht seine ersten Bücher, die Malstunden sind ausgebucht und die Presse überschlägt sich vor Begeisterung.

Mitte der 1960er Jahre unternimmt Arno allein und mit eigenen Mitteln acht abenteuerliche Reisen in die entlegensten Gegenden der Erde. Er ist auf der Suche nach Völkern, die aufgrund ihrer Abgeschiedenheit (im Urwald, in den Anden, der Wüste...) von der Verwestlichung und der Verschulung unberührt geblieben sind, um sie zum ersten Mal in ihrem Leben zeichnen und malen zu lassen. Er kehrt mit der spektakulären Bestätigung zurück, dass seine Entdeckung universelle Gültigkeit hat.

Ungefähr zu jener Zeit betritt eine entschlossene junge Frau die Académie du Jeudi. Ihr Name ist Michèle.

Und ich war nie in der Schule

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