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Bonn, 18. September 1845

Vom Hause meines Bruders bis zum Hotel Zum Goldenen Stern war es nicht weit. Ich trat ein und fragte nach den Arscotts, hoffend, sie wären ohne mich nicht nach Brühl gefahren. Doch weshalb sollten sie auf eine ihnen kaum bekannte Frau warten? Wie konnte ich mir von ihnen Hilfe erwarten, wenn nicht einmal mein Bruder mir beistand? Und wie war ich überhaupt auf die Idee gekommen, ausgerechnet heute Carls Haus zu verlassen? Was würden die Leute über mich sagen? Schon wollte ich zurück und tun, was sich gehörte: trauern und heiraten. Und mich lebendig begraben lassen.

Aber als der Portier mir mitteilte, es seien die Engländer erst vor zwei Stunden aufgebrochen, da erwachte in mir neue Zuversicht. Sie hatten also ausgeharrt, bis sie sicher waren, ich käme nicht mehr. Ich bat darum, in der Hotelhalle warten zu dürfen, was der gute Mann mit einigem Misstrauen aufnahm. Eine junge Frau mit einer ausgebeulten Reisetasche, die Haare kaum frisiert, aufgeregt, nervös und fiebrig – so eine gefiel ihm nicht. Er fragte, in welcher Angelegenheit ich seine Gäste zu sprechen wünsche. Was konnte ich anderes sagen, als dass ich die bestellte Gouvernante sei?

Das nun schien ihm zu meinem Auftreten zu passen und mitfühlend erkundigte er sich, was mein rechtzeitiges Erscheinen verhindert habe. Also log ich ein weiteres Mal und erklärte, es habe Schwierigkeiten mit der Eisenbahn gegeben. Was er mir ohne Weiteres glaubte. Seit einem guten Jahr fuhren Bahnen zwischen Köln und Bonn und in der Bevölkerung hielten sich die Freude über den Fortschritt und die Kritik an Lärm, Dreck und Verspätungen die Waage. Der Portier nahm mir die Tasche ab und führte mich in den Speisesaal, wobei er mir erklärte, weshalb die Eisenbahn eine gute Sache für das Hotelwesen sei. Dann fragte er, ob ich nicht etwas essen wolle; ich mache ihm ganz den Eindruck, als brauche ich eine Stärkung.

Ich hatte nur vier Taler, zwölf Groschen und einige Pfennige bei mir. Durchaus ausreichend, um eine Familie durch zehn Tage zu bringen, aber bei Weitem nicht genug, wenn die Arscotts keine Gouvernante einstellen wollten und ich auf eigenen Füßen stehen müsste. Doch der Portier flüsterte mir zu, es werde mein Mahl natürlich meinen Arbeitgebern auf die Rechnung gesetzt. »Glauben Sie mir, Fräulein, die können sich das leisten.«

Ich aß langsam und konzentriert; ich wollte nicht in Tränen ausbrechen. Wie ich da saß, dachte ich pausenlos an Papa und ob er mir wohl verzeihen würde, wenn er wüsste, was ich tat und dass ich sein Begräbnis Bertha überließ. War ich eine schlechte Tochter? Würde er sich im Himmel grämen? Wirklich, diese Gedanken quälten mich. Eigensüchtig schimpfte ich mich, pflichtvergessen und verdorben. Nichts wünschte ich mir sehnlicher als irgendein Zeichen, das mir sagte, ich tat das Richtige. Ich war nie abergläubisch gewesen, aber in meiner Trauer suchte ich verzweifelt nach Halt, von wo auch immer er kommen mochte.

Mitten in diese Grübeleien trat ein älterer Herr, der mir auf die Schulter tippte und fragte, ob ich nicht die Tochter vom lieben Füssenich sei. Im ersten Moment befürchtete ich, man würde bereits nach mir suchen, doch er setzte sich, bestellte einen Mokka und schien wenig geneigt, mich zurück zu meinem Bruder zu schleifen. »Ich täusche mich nicht«, sagte er im singenden Bönnsch, »Sie sind die Anna, ja? Sie sind Ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Das war auch eine feine Frau. Traurig das, sehr traurig. Aber sagen Sie, wie geht es meinem lieben Freund Georg? Was macht die Lunge?«

Mit meiner Contenance war es aus. Bitterlich weinte ich, was den armen Mann erschreckte. Ein Taschentuch reichte er mir und hektisch winkte er nach dem Kellner, den er um ein Glas Schnaps bat.

»Mein bestes Fräulein Füssenich, was ist Ihnen denn nur? Sagen Sie nicht, Ihr werter Herr Papa … Ich sehe es Ihrem Gesicht an. Wann ist es denn geschehen?«

»Heute Morgen«, wisperte ich.

»Ach herrje, wie schrecklich! Mein liebes Fräulein Füssenich, was kann ich sagen? Was kann ich tun?«

Dann schien ihm klar zu werden, wie ungewöhnlich es war, mich in einem Hotelspeiseraum zu finden, obwohl ich doch daheim hätte sein müssen. Sein Blick fiel auf meine Reisetasche. Bevor ich ihm eine Lüge auf­tischen konnte, legte er seine Hände auf meine. Echtes Mitleid lag in seiner Miene und mit warmen Worten versicherte er, wie er mit mir fühle.

»Sehen Sie es doch bitte mal so, Fräulein Füssenich: Sie gehen Ihren Weg jetzt alleine, aber Ihr guter Vater hat mit seiner Liebe dafür gesorgt, dass Sie stets in den rechten Pfad einbiegen.«

Damit erhob er sich und versprach, am Abend bei uns vorbeizukommen, um seinem Freund Georg den letzten Gruß zu entbieten. Wie ein Engel kam er mir vor und was sonst war sein Erscheinen als das von mir gewünschte Zeichen?

Ab da saß ich wie auf glühenden Kohlen. Was, wenn die Arscotts erst spät in der Nacht zurückkehrten? Dann würden Carl und Bertha von diesem netten Mann erfahren, wo ich war, und danach würde Carl mir nie wieder vertrauen. Und wer sagte mir denn, dass die Arscotts mir helfen würden, selbst wenn sie früh genug zurückkehrten?

Mittlerweile war es drei Uhr nachmittags und Kommerzienrat Weber würde nun wohl hören, dass ich leider unpässlich sei. Bertha würde die Wahrheit nicht sagen, bis es unumgänglich war.

Ich saß im behaglichen Lesezimmer und versuchte, mich abzulenken. Ich las die ersten Seiten eines Romans über einen König namens Artus und erinnerte mich dunkel, dass Papa mir Geschichten über diesen edelsten aller Ritter erzählt hatte. Doch das Gerede von Ehre und Heldenmut konnte mich nicht fesseln und so griff ich nach einem anderen Buch. Um eine junge Frau ging es, die von der Natur nicht zur Heldin ausersehen war und dennoch dazu wurde. Das zumindest versprach die Autorin. Und wirklich ließ Miss Morland ihr Dorf hinter sich und reiste nach Bath, wo sie eine Freundin und einen Verehrer fand. Die Autorin spottete voller Humor über die Ernsthaftigkeit, mit der wir an Schauermärchen glauben wollten.

Ich konnte diese Faszination für das Düstere nicht nachvollziehen. Vielleicht, weil meine Umstände jenen dieser Heldin ähnelten: Die einsame Waise, die nur an ihre Ehre denkende Familie, das Fehlen liebender Freunde und die Notwendigkeit, ein Auskommen zu finden – ja, aus mir ließe sich eine solche Heldin schaffen, mir konnte man leicht ein unheilvolles Schicksal andichten. Und vielleicht hatte mein Unglück schon begonnen? Ich schüttelte mich und las weiter, entschlossen, von jetzt an mit Zuversicht in die Zukunft zu schauen.

Dann sprang die Tür auf. Iseuld lief auf mich zu, hakte mich unter und fragte, weshalb ich nicht mit ihnen nach Brühl gefahren sei; ob die böse Bertha sich mir in den Weg gestellt habe.

Wieder weinte ich und Iseuld erwies sich als wahre Freundin. Obwohl ich kein Wort herausbrachte, nahm sie mich in die Arme, streichelte meinen Rücken und äußerte schließlich die Vermutung, es sei meinen Vater etwas zugestoßen.

»So, wie du uns seine Krankheit geschildert hast, befürchtete ich, dass er nicht mehr zu viel Zeit auf Erden hat.«

Ich nickte nur und klammerte mich an ihr fest.

»Denke immer daran, wie gut sein Leben war mit einer liebenden Tochter wie dir. Ich bin überzeugt, er ist glücklich gestorben und ist nun schon mit deiner Mutter im Himmel vereint.«

Gegen meinen Willen lachte ich, denn ich stellte mir vor, wie dort oben nicht nur meine Mama, sondern ebenso Carls Mutter auf Papa wartete. Ich schämte mich fürchterlich meiner Albernheit, doch Iseuld meinte, es sei sehr gut, dass ich so froh an das ewige Leben meines Vaters denken könne; das würde ihm bestimmt gefallen. Ihre Worte trösteten mich und schon für diesen Trost hatte das bange Warten sich gelohnt. Nun aber traute ich mich nicht, ihr zu sagen, weshalb ich wirklich gekommen war.

Doch wieder überraschte Iseuld mich. »Sage mir, als Caradoc gestern davon sprach, es wäre besser als Gouvernante zu arbeiten, als den falschen Mann zu heiraten – hat dich das darauf gebracht, es mit diesem Beruf versuchen zu wollen?«

War ich so leicht zu durchschauen? Es war mir entsetzlich peinlich; bestimmt glaubte Iseuld, ich wolle sie ausnutzen. Ich wollte sagen, ich erwarte nichts von ihr, da unterbrach sie mich.

»Ich habe mit Caradoc geschimpft, weil er dich fast gefragt hätte, ob du mit uns kommen willst. Als ob man durch die Lande fahren und anständige Damen fragen kann, ob sie für uns arbeiten wollen! Aber ich werde ihm wohl Abbitte leisten müssen.« Sie seufzte. »Damit wird er mich noch tagelang aufziehen. Grässlich.«

Sie führte mich hinauf in ihre Suite, wo sie Caradoc mitteilte, er habe recht gehabt und Miss Anna überzeugt; nun solle er gefälligst ein anständiges Angebot machen und ein Zimmer für mich buchen. Da musste ich eingreifen. War es mir schon peinlich gewesen, Iseuld zu sagen, weshalb ich gekommen war, so war es mir nun noch viel unangenehmer, als ich gestehen musste, ich müsse schnellstens aus Bonn weg, da ich ansonsten die vierte Frau des Kommerzienrats werden müsse. Ich bot an, alleine vorauszufahren, wenn sie mich unter diesen Umständen noch einstellen wollten. Es war etwas völlig anderes, eine Waise zu beschäftigen oder aber die Schwester eines Mannes mit sich zu nehmen, die als Verlobte eines einflussreichen Herrn gelten konnte – würde Carl sich an die Polizei wenden, so könnte die von einer Entführung sprechen! Ich war mir sehr bewusst, in welche Lage ich die Arscotts brachte, die mir nichts schuldeten und mich gerade einmal einen Nachmittag kannten. Ich ging davon aus, sie würden ihr Angebot zurückziehen.

Aber Iseuld schaute mich schweigend an, zog dann die Klingelschnur und packte ihre Bürsten, Kämme und Parfüms in ein Kästchen. Caradoc strich sich übers Kinn, nickte und eilte aus dem Zimmer. Ich ging ihm nach, doch Iseuld hielt mich an der Tür zurück.

»Was denkst du denn? Dass er deinen Bruder holt? Er bestellt einen Wagen und meldet uns in der Reisegruppe ab. Wie wäre es, wenn du nach nebenan gehst und den Kindern sagst, dass wir abreisen? Und dass du mit uns kommst? Sie werden sich freuen und Jenefer wird dich bis London nicht in Ruhe lassen, bis du alle Märchen wenigstens zehn Mal erzählt hast.«

Wir saßen eine Stunde später in der Kutsche und fuhren am Rhein entlang hinauf nach Köln. Dort stiegen wir gegen zehn Uhr abends in die Eisenbahn, die uns nach Ostende brachte, wo wir um sechs Uhr morgens eintrafen. Für die Kinder war es eine aufregende Fahrt; Petrok sah in mir eine Prinzessin, für deren Rettung er sorgen müsse. Jenefer hingegen schien mehr von den Gesprächen zu verstehen, die ihre Eltern mit mir führten, denn irgendwann im Laufe der Nacht nahm sie ihren Vater an der Hand und ließ ihn feierlich schwören, er werde sie niemals an einen bösen Mann verheiraten. Das versprach er und Iseuld fügte hinzu, es hätten die Tengyes immer schon aus Liebe geheiratet und sie sähe nicht ein, weshalb Jenefer es anders halten solle, nur weil sie Arscott heiße. Mir zwinkerte sie zu und flüsterte, es möge wohl sein, dass manche Ahnin die Liebe erst entdeckt habe, nachdem sie sich von Einfluss und Reichtum des Bewerbers überzeugt hatte. »Aber wir Tengyes sind ein eigenes Völkchen. Was wir tun, das tun wir ganz.«

Caradoc seufzte leise. »Deine Brüder beweisen das immer wieder.«

»Das hat nichts mit dem zu tun, was ich unserer Tochter rate.« Iseulds Entgegnung klang in meinen Ohren recht scharf, doch als ich zu ihr hinsah, schmunzelte sie und meinte, sie wolle ein Stündchen schlafen und empfehle uns, es ihr gleichzutun.

Um sieben Uhr erreichten wir Ostende, wo wir in einer Brasserie frühstückten. Zwei Stunden später bestiegen wir das Dampfschiff. Iseuld fühlte sich an Bord nicht wohl und auch die Kinder litten unter Schwindel und Übelkeit. Meine Hilfe lehnte sie ab, sie wollte sich mit den Kindern zurückziehen und niemanden außer Caradoc bei sich haben in ihrem Elend. So stand ich am frühen Vormittag an Deck und sah zu, wie sich die belgische Küste entfernte. Natürlich zog auch ich die üblichen Vergleiche aller Reisenden: Es schien das hinter mir bleibende Festland mein altes Leben zu sein, das mich friedlich ziehen ließ. Alles war gut, alles war richtig.

Als dann die Felsen von Dover in Sicht kamen, leuchtend weiß unter einem blauen Himmel, da glaubte ich, die englische Insel präsentierte sich nur mir zum Willkommen ohne das übliche schlechte Wetter. Ich hatte oft von grauenvollen Kanalüberquerungen gelesen, die sogar die Mannschaft krank machten, und von enttäuschten Reisenden gehört, sie hätten die berühmten Felsen vor lauter Nebel nicht sehen können. Wie hätte ich da ahnen können, was mich erwartete, bei einem solchen Empfang?

In Dover bestand Caradoc darauf, zu Mittag zu essen, bevor wir eine Kutsche nach London mieteten; noch hätten wir Ferien und sollten sie genießen. Mein schlechtes Gewissen plagte mich. Meinetwegen hatten sie ihre Reise abgebrochen und ich fragte mich, wie ich das jemals wieder gutmachen sollte. Ich fragte es auch Iseuld, doch sie meinte, ich solle endlich aufhören mich zu sorgen.

»Bist du nicht unter Freunden, Anna? Und werde ich dir meine Kinder nicht noch oft genug aufbürden? Da stellt sich die Frage, wer wem etwas schuldig sein wird.«

Immerhin war es meine Aufgabe, mich um Jenefer und Petrok zu kümmern, und so erinnerte ich sie daran, dass ich ihre Angestellte sei und ihr herzliches Entgegenkommen niemals ausnutzen wolle.

»Du glaubst, wir hätten all das für jede Angestellte getan? Es ist mir wichtig, dass unser Personal ein gutes Leben führt. Ja, ich behaupte, Caradoc und ich sind eine angenehme Herrschaft, die anständig zahlt und nichts fordert, was über das hinausgeht, was recht und billig ist. Aber unser Personal ist nicht mit uns befreundet. Die Gespräche, die wir führten, liebe Anna, was du von uns weißt und wir von dir, dein Instinkt, der dich in der Not zu uns führte – das alles muss dir doch zeigen, was ich in dir sehe. Eine Freundin, wie ich sie mir immer gewünscht habe.«

Man darf nicht vergessen, mein geliebter Papa war gerade einmal einen Tag von mir gegangen, und so war es wohl verständlich, dass ich bei Iseulds Rede erneut in Tränen ausbrach. Was mich allerdings nicht daran hinderte, zwei Dinge zu bemerken: Es konnte doch nicht sein, dass ausgerechnet Iseuld Arscott mit all ihrer natürlichen Herzlichkeit und ihrem Humor keine Freundin hatte, die diesen Namen auch verdiente. Und wie konnte es mir außerdem nicht früher aufgefallen sein, dass zwar die Arscotts alles von mir wussten, ich von ihnen jedoch wenig? Ich kannte ihre Namen und ihren Wohnort, ansonsten hatte ich nur eine vage Ahnung, wovon sie lebten und welche Ansichten sie von der Welt hatten. Und jetzt war ich hier. In ihrer Welt. Mir kamen Zweifel, ob ich eine kluge Entscheidung gefällt hatte.

Diese Zweifel aber verflogen, als wir gemeinsam zu Tisch saßen. Caradoc hatte nicht weit vom Hafen entfernt ein Inn gefunden und lachend bestellte er für mich eine Mahlzeit, die er als typisch englisch bezeichnete.

»Miss Anna, daran werden Sie sich gewöhnen müssen, wenn wir in London sind. Unsere Köchin besteht darauf, so zu kochen, wie sie es gelernt hat. Aber solange wir unsere Tochter noch nicht an böse Männer verheiraten müssen, können wir im Sommer nach St. Tudy reisen. Da werden Sie verwöhnt mit Pasties, Scones und Saffron Buns, dann trinken Sie Mead und Apfelpunsch und Sie werden Ihre Finger nicht lassen können von Yarg und Clotted Cream.«

Bis ins Kleinste schilderte Caradoc, was es mit diesen Köstlichkeiten auf sich hatte und wie sehr mir nicht nur alles schmecken, sondern wie ich Leute und Landschaft Cornwalls lieben würde.

»Vielleicht möchte Anna während der Saison lieber in London bleiben? Ihre Chancen, sich vorteilhaft zu verheiraten, sind in London höher als in St. Tudy.« Iseuld schaute mich an, prüfend, neugierig und ernst.

»Nein, wirklich, daran denke ich nicht. Wenn mir ein Ehemann bestimmt ist, dann wird er mich schon finden.«

Da schmunzelte Iseuld. Sie scherzte, was für ein elendes Geschäft die Verheiraterei sei und wie sie diejenigen Damen nicht beneide, die Jahr für Jahr zu entscheiden hätten, welche Debütantin ein Erfolg sein werde und welche gnadenlos durchfiel. Iseuld ließ ihrem Spott freien Lauf und ich lachte herzlich mit, bis sie sich auf die Lippen biss und sich für ihre Respektlosigkeit entschuldigte.

Damals glaubte ich, Papas Verlust in genau diesem Moment endgültig zu begreifen und meine Trauer ebenso wie meine bitteren Erfahrungen hinter mir gelassen zu haben, als ich englischen Boden betrat. Für eine neue Frau hielt ich mich. Heute weiß ich es besser. Alles, was ich in den nächsten Monaten sah und hörte, war getrübt von meiner tiefen Trauer, die ich nicht wahrhaben wollte. Ich will nicht sagen, ich hätte nichts von dem verstanden, was um mich herum geschah. Es war eher so, als hätte ich eine Dimension hinzugewonnen. Ich erhielt Zugang zu einer Welt, von der ich vorher nichts geahnt hatte. Vielleicht wäre alles anders gekommen, hätte ich meine Gefühle zugelassen, anstatt sie zu verleugnen.

Dort aber, in diesem Gasthof, wusste ich das nicht. Zu gerne wollte ich mich ablenken lassen von Iseulds Anekdoten. Iseuld drückte meine Hand und fuhr fort, sich über die Damen lustig zu machen, die den Debütantinnen für gutes Geld Einladungen zu den wichtigen Bällen verschafften. Sie malte uns aus, wie diese bedeutenden Frauen im Frühjahr gemeinsam planten, welche der neuen Schönheiten mit der Hand eines Lords belohnt werden sollte und welche sich mit einem Baronet zufriedengeben müsste.

»Ganz sicher sind ihnen die Gefühle ihrer Schachfiguren gleichgültig. Vielleicht würfeln sie sogar?«

Caradoc amüsierte sich zwar prächtig, dennoch mahnte er seine Frau, sich rechtzeitig mit diesen Personen gutzustellen, wenn sie nicht wolle, dass Jenefer wie minderwertige Ware präsentiert würde.

»Sieh, mein Lieber, ich will, dass Jenefer weder wie minderwertige noch wie überhaupt eine Ware feilgeboten wird. Und ebenso wenig möchte ich erleben, dass in Petrok nicht mehr gesehen wird als eine gute Versorgung für eine eitle Miss ohne Verstand.«

»Wenn beide nach dir kommen, wird das nicht geschehen.« Caradoc wandte sich mir zu und fragte, ob ich wissen wolle, wie er diese wunderbare Frau habe gewinnen können.

Das wollte ich selbstverständlich. Schon, um mir die noch immer nagenden Zweifel an meiner Entscheidung zu nehmen.

»Machen Sie sich auf einen schockierenden Bericht gefasst. Nicht ich war es, der den Anfang machte. Es war wahrhaftig Iseuld, die mir vor sechs Jahren und fünf Monaten erklärte, sie gedenke, meine Gemahlin zu werden und ob ich damit einverstanden sei. Wie finden Sie das?«

Mir erschien das gewagt, aber das wollte ich nicht zugeben. Also antwortete ich, es sei im Grunde ohne Bedeutung, wer das Thema Heirat ins Spiel bringe, wenn man sich einig sei.

Caradoc lachte. »Glauben Sie mir, Miss Anna, ich hatte nicht die Gelegenheit, mir über meine Gefühle klar zu werden. Oder überhaupt welche zu entwickeln. Es war unser erster Tanz – ein Walzer übrigens – und Iseuld fragte mich nach nicht einmal zehn Schritten. Sie können sich vorstellen, wie überrascht ich war.«

Das konnte ich, doch Iseuld verbot mir, mich darüber zu wundern. »Sieh, es war der Anfang meiner ersten Saison und ich fand das Treiben grauenvoll. Meine Eltern hatten mich alleine nach London geschickt und einer Chaperone überlassen, die absolut unerträglich war. So unerträglich wie das ganze Geschäft. Ich beschloss, diese Demütigung möglichst schnell hinter mich zu bringen. Mein Plan sah vor, all den langweiligen Jünglingen bittere Wahrheiten zu sagen und dann zu schauen, wer sich davon nicht abschrecken ließ – ich dachte mir, dass ich so den Richtigen finden müsste.«

»Ein idiotischer Plan«, warf ihr Gatte ein.

»Wir betraten den Ballsaal und ich sah Caradoc. Er stand in der hintersten Ecke mit einer Miss, die ihn langweilte. Tödlich langweilte. Aber dass er dort war, sagte mir, er suchte nach einer Gemahlin. Ich beobachtete ihn den ganzen Abend. Keine Mutter drängte ihn, kein väterlicher Mentor stellte ihn den Damen vor. Er tanzte, wenn er dazu aufgefordert wurde, lächelte höflich und tanzte mit keiner ein zweites Mal. Erwähnte ich, dass er sich tödlich langweilte? Ich ließ meine Chaperone Erkundigungen einziehen. Und sie war nicht begeistert. Der zweite Sohn eines Bankiers sei er und an der Börse beschäftigt. Sie nannte ihn einen Notbehelf, gerade gut genug für die erfolglosen Debütantinnen des letzten Jahres.«

»Sie müssen wissen, Miss Anna, Iseuld hat ein Herz für die Vernachlässigten. Jedes kranke Tierchen brachte sie heim und so wählte sie auch mich aus.« Er lachte und voller Stolz blickte er seine Frau an.

»Unsinn. Er gefiel mir und mir gefiel auch, dass er es zu etwas bringen wollte und die Arbeit nicht scheute. Als meine Begleiterin sagte, er stamme wie ich aus Cornwall, da war ich schon halb überzeugt, ihn zu lieben. Ich unterhielt mich mit einigen Fräulein, die bereits mit ihm getanzt hatten, und sie fanden ihn umgänglich, leichtfüßig und geheimnisvoll.«

»Ach, sieh an. Geheimnisvoll? Das hast du mir nie erzählt. Ich befürchte, du hast mir die Saison verdorben.«

»Himmel. Geheimnisvoll? Du? Nicht im Geringsten. Zum Glück, denn von Geheimnissen wollte ich wirklich nichts wissen, davon hatte ich genug. Ich tanzte noch mit einigen anderen Herren und legte es darauf an, in Caradocs Nähe zu gelangen. Mir gefiel seine Stimme, ja, mir gefiel eigentlich alles an ihm und ganz fest war ich davon überzeugt, dieser Mann müsse meiner werden. Sagte ich nicht, in meiner Familie sind wir etwas eigen? Wir sind schnell entschlossen und glauben an die Vorbestimmung.«

»Nein, mein Schatz, du sagtest nur, die Tengyes tun mit ganzem Einsatz, was sie tun wollen. Was du mit dieser Geschichte beweist.«

»Nun, wir haben ein gutes Gespür für das Schicksal. Deshalb wagte ich, was ich tat. Und glaube mir, ich war scheußlich aufgeregt.«

»Was man dir nicht anmerkte. Kühl war sie und ganz gerade hielt sie sich und mitten auf meine Nase sah sie, als sie mir sagte, sie werde meine Frau, komme, was da wolle.«

»So habe ich es nicht gesagt. Und ich habe nur deshalb auf deine Nase gesehen, weil ich mich weiter hinauf nicht traute.«

»Und denken Sie sich nur, Miss Anna, daran wäre es beinahe gescheitert. Ich fand meine Nase immer etwas grob. Zu groß, zu lang, nicht vornehm genug. Da hielt ich also diese ausgesprochen ansehnliche Person in meinen Armen, die mir besser gefiel als alle anderen Damen im Saal, und sie starrte ausgerechnet auf meinen Zinken.«

»Weshalb dieser dumme Mann nicht gleich verstand, was ich gesagt hatte. Kannst du dir vorstellen, welche Hölle ich durchlitt, als er mit Zornesfalten auf der Stirn auf mich hinabsah und darum bat, ich möge wiederholen, was ich gesagt hätte?«

»Oh, ich habe sehr wohl gehört, was du sagtest. Ich konnte es nur nicht in Einklang bringen mit deiner Abneigung gegen meine Nase. Da schien es mir sicherer, noch einmal nachzufragen.«

»Aber deine Nase gefällt mir. Ich finde sie heroisch.«

Caradoc grinste und schwieg.

»Auf alle Fälle wiederholte ich, was ich gesagt hatte, und erklärte ihm, wie er mich über die nächsten Wochen doch bitte kennenlernen möge. Wenn er eine Frau suche, würde er bestimmt feststellen, wie gut wir zueinander passten.«

»Es kam mir vor wie im Märchen. Welcher Mann träumt nicht davon, für eine Frau so unwiderstehlich zu sein, dass sie um seinetwillen die Regeln des Anstands verletzt? Und ich suchte eine Frau, ich hatte es satt, abends in eine einsame Wohnung zu kommen. Mittlerweile hatte ich respektable Erfolge im Finanzwesen vorzuweisen und würde mir leicht ein Haus leisten können, in dem eine entzückende Frau und niedliche Kinder Platz hätten. Ich stimmte also zu, ging zu ihrer Bewacherin und erklärte, ich wolle Miss … Ja ha, und da stand ich vor diesem bösartigen Weib und wusste nicht einmal, wie meine Auserwählte heißt. Es war nicht leicht, die alte Bestie davon zu überzeugen, ein ernstzunehmender Bewerber zu sein.«

»Wir waren der Skandal der Saison, nicht wahr? Wir trafen uns täglich und nahmen keine Rücksicht darauf, ob man uns gemeinsam sah. Was haben die alten Weiber nicht gewarnt, dass du mich sitzen lässt und mein Benehmen allen dummen Mädchen als Beispiel dienen würde.«

»Wir haben es genossen, unsere offizielle Verlobung hinauszuzögern, nur um sie zu blamieren.«

»Oh, und sie waren blamiert. Wir haben einigen das Geschäft für die nächste Saison verdorben, weil ihren Vorhersagen nicht mehr zu trauen war.«

»Dabei waren wir uns schnell einig. Ich glaube, es waren keine drei Tage, bis ich dich fragte, ob du den Namen Iseuld Arscott leiden magst.«

»Ich liebe diesen Namen täglich mehr, er kleidet mich hervorragend.«

»Verständlich. Ich habe nur reizende Verwandte.«

»Reizend? Langweilig sind sie.«

»Kann man nicht von deinen Brüdern sagen. Zumindest von einem nicht. Der andere mit seinem dauernden Gerede von Camelot hingegen …«

Iseuld lachte. »Sei nicht garstig.«

Ich hatte begeistert gelauscht, wusste auf diese Geschichte jedoch nichts zu sagen. Iseuld befürchtete schon, sie hätten mich schockiert und müssten nun Sorge haben, ich wolle lieber wieder heim nach Bonn. Was ich ganz sicher nicht wollte. Was ich ab jetzt wollte, war eine Liebe wie die, die diese beiden herzlichen Menschen teilten.

Das Geheimnis der Brüder Tengye

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