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Gawen Tengye

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London, letzte Novemberwoche 1845

Der nächste Morgen grüßte uns mit Sonnenschein und Frost. Ich packte die Kinder warm ein und eine gute Viertelstunde später waren wir im Hydepark angelangt, wo wir das Glück hatten, Königin Victoria und ihren Gemahl an uns vorbeifahren zu sehen. Petrok war entsetzlich aufgeregt und brüllte ihnen ein deutsches ›Guten Morgen‹ hinterher. Was Prinz Albert dazu brachte, sich in seinem Sitz umzudrehen und einen Gruß zurückzurufen.

Wir zogen weiter bis in den Bereich des Parks, in dem die Kinder spielen durften. Ich setzte mich zu drei Kinderfräulein und vertrieb mir die Zeit mit ein wenig Klatsch und Tratsch. Ich verriet ihnen nicht, welch guten Umgang ich mit meiner Herrschaft pflegte, ansonsten hätte ich niemals erfahren, wie Lady B. oder Mrs. M. sich verhielten, wenn nicht das Auge der Gesellschaft auf ihnen ruhte. Ich genoss diese Gespräche immer sehr, fand es nur zunehmend schwieriger, selbst nichts dazu beizutragen. An diesem Vormittag aber gab ich zu, es sei der Bruder meiner Herrin vielleicht nicht ganz der Gentleman, den man sich erwarte. Ich tat das in der Hoffnung, dass meinen Bekannten etwas zu ihm einfiele. Und diese Hoffnung war nicht vergebens.

»Mr. Tengye soll ein wahrer Teufel sein, habe ich gehört.«

»Ein ausgesprochen gut aussehender Teufel.«

»Na, schön muss er schon sein, denn für einen hässlichen Trottel wirft sich nicht einmal eine Landpomeranze fort.«

Ob sie ihm einmal begegnet seien, fragte ich. Doch nichts als Geschichten hatten sie über ihn gehört. Und die Geschichten, die sie zum Besten gaben, standen meinen Fantasien in nichts nach, sondern überboten sie noch. Wenn ich ihnen glauben sollte, so lebten wir in einem Land, in dem ein schöner Mann mit den abscheulichsten Taten davonkam; ja, sie deuteten an, er beherrsche die Kunst der Hypnose, was sie wohlig gruseln ließ.

Als wir gegen Mittag heimkehrten, ließ ich für die beiden Dreckspatzen ein Bad bereiten. Gründlich schrubbte ich sie ab; wir lachten und kicherten und übermütig planschten sie im warmen Wasser. Iseuld war bereits ausgegangen und so kam Betsy, das Dienstmädchen, zu mir, um Besuch zu melden.

»Da ist ein Herr, der will mit Mrs. Arscott sprechen.«

»Wie heißt der Herr?«

Betsy war ein liebes Mädchen von fünfzehn Jahren, allerdings etwas unbeholfen. Sie knickste und murmelte, sie wisse es nicht.

»Hat er dir keine Karte gegeben?«

»Nein, Miss Anna.«

»Und er hat sich nicht vorgestellt?«

»Nein, Miss Anna.«

»Was genau hat er gesagt?«

»Dass er mit Mrs. Arscott sprechen will.«

»In welcher Angelegenheit?«

»Das geht mich nichts an, Miss Anna.«

»Dich nicht, aber deine Herrin schon. Je nachdem mag sie dich bitten, den Herrschaften zu sagen, sie sei nicht da.«

»Aber das habe ich dem Herrn schon gesagt.«

»Betsy, du entscheidest nicht, was ein Besucher zu hören bekommt. Du fragst nach dem Namen und dem Grund des Besuchs und …«

»Und wenn es die andere Mrs. Arscott ist? Soll ich sie auch fragen, wie sie heißt?«

»Wenn du den Besuch kennst, fragst du natürlich nicht. Kanntest du den Herrn denn?«

»Den Mann von Mrs. Arscott?«

»Den Herrn, der mit Mrs. Arscott sprechen will.«

»Mit welcher Mrs. Arscott denn, Miss Anna?«

»Mit unserer Mrs. Arscott.«

»Und von welchem Herrn sprechen wir?«

»Von dem, den du fortgeschickt hast.«

»Nein, Miss Anna, ich habe ihn nicht fortgeschickt, sondern ins Wohnzimmer gesetzt.«

»Betsy, Besuch bittest du nur herein, wenn du sicher weißt, Mrs. oder Mr. Arscott wollen ihn empfangen. Und dann setzt du ihn nicht ins Wohnzimmer, sondern in den Morgensalon.« Ich seufzte. Betsy brachte uns alle zum Seufzen. Aber Iseuld wollte ein gutes Werk an ihr tun und so übten wir uns in Geduld, wenn wir mit dem Mädchen in eine solche Unterhaltung gerieten.

Ich drückte Betsy die Badelaken in die Hand und bat sie, sich um Petrok und Jenefer zu kümmern, während ich nach dem Besucher sah. Und noch bevor ich in den Raum trat, überkam es mich wieder. Dieses befremdliche Kribbeln in Händen und Nacken. Dieses Gefühl von Erwartung, das sich bitter-süß in mir ausbreitete.

Ich fasste mich, öffnete die Tür und stand einem Mann gegenüber, der niemand anderes sein konnte als Gawen Tengye. Die Ähnlichkeit zu Iseuld war zu stark, als dass ich mich hätte irren können. Zwar war er weniger zart gebaut als sie, aber vor allem Augen und Mund verrieten die Verwandtschaft. Was mich jedoch erstaunte, war der Unterschied im Ausdruck: Während in Iseulds Blick Wärme lag, schaute mir aus Gawen Tengyes Gesicht kaum verborgener Abscheu entgegen. Hatte er sich so sehr über Betsy geärgert? Ich schloss die Tür hinter mir und nahm Platz, bat auch ihn, sich wieder zu setzen.

»Ich habe nicht vor, ausgerechnet mit Ihnen höfliche Konversation zu betreiben«, blaffte er mich an. Wenn möglich betrachtete er mich mit noch mehr Verachtung.

Was mich erboste. Wir waren uns nie zuvor begegnet, was also könnte er an mir auszusetzen haben? Das erfuhr ich schnell genug. Mit zwei Schritten war er bei mir und beugte sich über mich.

»Was immer Sie vorhaben, geben Sie es auf! Meine Schwester hat in ihrem Leben genug Elend erfahren, da braucht es nicht auch noch ein Weib wie Sie, das weder Ehre noch Moral kennt!«

»Sie müssen mich verwechseln, Mr. Tengye.« Wenn er glaubte, mich mit seinen Beleidigungen in ein zitterndes Bündel zu verwandeln, dann musste ihn ärgern, wie gut ich meine Haltung bewahrte. Eine bessere Schule als bei Bertha hätte ich kaum durchlaufen können.

»Mr. Tengye, ja? Sie wissen also, wer ich bin? Sie haben sich gut vorbereitet, das hätte ich mir denken können!«

»Bitte, Mr. Tengye, wenn Sie schon etwas von mir denken müssen, dann bitte, dass ich weder taub noch blind bin. Zum einen höre ich Sie, ohne dass Sie brüllen, und zum anderen können Sie wohl kaum Miller heißen, wenn Sie Iseulds Bruder sind.«

»Iseuld gar? Sie nennen sich beim Vornamen wie alte Vertraute? Was sind Sie doch für ein raffiniertes Luder!«

»Das Kompliment der Raffinesse habe ich weder verdient noch kann ich es zurückgeben. Wenn Sie mich bitte entschuldigen wollen? Jenefer und Petrok haben gewiss Hunger und ich …«

»Ich kann mir nichts Widerwärtigeres denken, als sich in eine glückliche Familie zu schleichen! Wenn Sie einen Funken Anstand im Leibe haben, reichen Sie Ihre Kündigung ein und suchen sich ein anderes Opfer!«

Wenn ich heute daran denke, frage ich mich, weshalb ich nicht gleich verstand, worauf er anspielte und warum er es tat. Aber damals war ich damit beschäftigt, jeden Tag aufs Neue zu meistern und nicht an Papa zu denken. Wovon er spräche, fragte ich ihn also, ratlos und verärgert.

Er sah in meiner Ahnungslosigkeit nichts als billiges Theater; eine Schmierenkomödiantin nannte er mich, eine Abenteuerin und Lügnerin. Bevor ich eine Erklärung erbitten konnte, hatte er Stock und Hut gegriffen und war an der Tür angelangt.

»Ich gebe Ihnen Zeit bis morgen Abend, sich anständig aus dieser Affäre zu ziehen. Dann werde ich meine Schwester aufklären und Sie können sich denken, was das für Ihr weiteres Fortkommen bedeutet!«

»Mr. Tengye …«

Fort war er und einen Augenblick später warf er die Haustür hinter sich zu.

Verwirrt blieb ich zurück. Verdächtigte er mich, mit Caradoc eine Liebelei zu unterhalten? Wie kam er nur darauf? Ich sorgte mich nicht, es war ja lächerlich, wenn er das dachte und er würde sich ordentlich blamieren, wenn er diesen Unsinn Iseuld erzählte. Gerne hätte ich seinen Auftritt vergessen, doch was ich auch tat, ich wurde unruhiger mit jeder Minute. Dieses Gefühl, es sei mein Schicksal mit dem der Brüder verknüpft, schien mir bald Gewissheit zu sein. Ich konnte nicht aufhören, an Gawen zu denken. Voller Abscheu und sogar ein wenig Furcht, obwohl ich wusste, er konnte mir nichts anhaben. Natürlich schilderte ich Iseuld den Vorfall und empört verurteilte sie sein Vorgehen. Sie versprach, ihn auszuschimpfen; zu einer Entschuldigung wollte sie ihn zwingen und sein blaues Wunder werde er erleben, wenn er morgen käme.

In dieser Nacht träumte ich zum ersten Mal von der Burg hoch über den Klippen eines tosenden Meeres. An der obersten Zinne stand ich, angetan in ein locker fallendes blaues Kleid mit langer Schleppe und Ärmeln, die bis zum Boden reichten. Ich lehnte mich weit hinaus über die Brüstung und suchte den Horizont ab. Was ich suchte, wusste ich nicht, doch suchte ich es verzweifelt. Der Wind zerrte an meinem Kleid, wehte mir die Haare ins Gesicht und mehr als einmal brachte er mich aus dem Gleichgewicht. Eine dunkle Stimme rief mir zu, ich müsse herunterkommen, es sei zu gefährlich dort oben. Und immer antwortete ich, ich sei gleich da, wenn ich nur erst sicher wäre, alles sei gut.

Dann änderte sich das Bild; in einem Saal stand ich und blickte über einen runden Tisch hinweg, an dem dreizehn Männer saßen und diskutierten. Sie langweilten mich, obwohl ich wusste, sie besprachen Wichtiges. Etwas, was für mein weiteres Leben entscheidend war. Einer von ihnen stand auf und kam zu mir. Wie es in Träumen so ist, wunderte ich mich nicht, dass er aussah wie Gawen. Natürlich waren Gawen und König Artus ein und derselbe. Und Artus war es auch, der mich gerufen hatte, weil er sich um mich sorgte. Nun bot er mir seinen Arm und führte mich hinaus aus dem Saal. Er fragte, ob ich einwillige, seine Frau zu werden. Ob ich ihm angehören wolle für alle Zeit? Hier und jetzt? Ich nickte und dieses Mal löste sich das fremde Gefühl aus Angst und Aufregung in Begehren auf.

Artus hob mich hoch, nannte mich Gwenhwyfar und Liebste, küsste meine Wangen, meine Augen, meinen Mund und wieder änderte sich die Szenerie. Wir lagen nebeneinander unter einem roten Baldachin und noch lauter toste das Meer und wütender brüllte der Wind. Irgendwo erklang eine Laute und jemand sang ein Lied, dessen Worte ich nicht verstehen konnte. Wieder küsste Artus mich und der Traum ging über in eine Lust, für die ich nach dem Aufwachen schwerlich den Kaffee verantwortlich machen konnte. Wenn ich nur daran dachte, errötete ich, und als ich in den Spiegel sah, erkannte ich mich kaum wieder.

Sorgfältig machte ich mich zurecht und doch fragte Iseuld am Frühstückstisch, ob ich mich wohlfühle; ich sähe fiebrig aus. »Daran trägt hoffentlich nicht Gawen die Schuld?«

Verlegen nestelte ich am Kragen und befürchtete, Iseuld lese mir meinen Traum an der Stirn ab.

»Ich verspreche dir, ich werde ihm den Kopf zurechtrücken. Und du versprichst mir, dich niemals wieder von ihm ärgern zu lassen.« Sie lächelte. »Noch einen Kaffee?«

»Nur nicht!«

»Bist du krank, meine Liebe? Soll ich nach Dr. Howell rufen lassen?«

»Aber nein, ich habe nur nicht allzu gut geschlafen, das ist alles.«

»Wegen Gawen! Ich bin wirklich böse auf ihn! Ausgerechnet er bildet sich ein, er dürfe anderen Vorhaltungen machen!«

Caradoc nickte. »Ich wüsste gerne, wie er auf diesen Blödsinn kam. Könnte vielleicht Mrs. Beresford …«

»Liebster, bitte. Niemand aus unserem Bekanntenkreis käme auf solch eine Idee und niemand würde darüber mit Gawen sprechen. Wie denn auch? Er geht nicht aus und wird sich im Schatten halten wie jedes Mal.«

Im Schatten …? Ich sprang auf und eilte ans Fenster. Was unsinnig war, natürlich. Aber hatte ich dort unter den Kolonnaden nicht in der Nacht zuvor einen Schatten gesehen? Einen Schatten, so groß und breit wie Gawen? Hatte ich nicht angenommen, dort hielte sich ein Mann verborgen?

Und da überkam es mich schon wieder: Dieses Zittern, die Aufregung, die Angst. Aber mehr noch kam hinzu … ein Geschmack von Salz und saurer Frucht, ein Duft nach Tabak, Blumen und herben Kräutern. Fast spürte ich den Wind in meinem Haar, fühlte eine Hand auf meiner Haut, hörte Gawens Stimme. Nein, nicht Gawen sprach zu mir! König Artus war es, ein Traum war es nur und nichts hatte er mit Gawen Tengye zu tun! Mir wurde heiß. Hastig öffnete ich das Fenster.

»Liebste, was ist dir denn?« Schon war Iseuld bei mir und fühlte meine Stirn. »Caradoc, lasse Doktor Howell holen! Anna glüht!«

»Nein, bitte, ich … wirklich, Iseuld, es geht mir gut. Aber ich glaube, ich weiß, weshalb dein Bruder glaubt, was er glaubt.« Ich plapperte viel zu rasch und wies hektisch zur anderen Straßenseite. »Vielleicht war er vorgestern Nacht schon hier und wollte dich besuchen. Und dann sah er Caradoc und mich. Das mag ihm einen falschen Eindruck vermittelt haben.«

»Was genau könnte ihm denn bitte einen falschen Eindruck vermittelt haben?«

Ich erschrak. Iseuld glaubte doch nicht, zwischen mir und ihrem Mann bestünde ein geheimes Einverständnis?

Doch bevor ich antworten konnte, lachte sie bereits. »Man möchte meinen, ein Mann, der so viel Erfahrung hat wie mein Bruder, sollte in der Lage sein, den Unterschied zwischen Freundschaft und Liebe zu erkennen.«

»Von dort unten …«

»Eben. Wenn man heimlich in anderer Leute Fenster schaut und nichts weiß von dem, wie diese Leute zueinanderstehen, dann sollte man sich brav zurückhalten mit Schlussfolgerungen. Was er von dir glaubt, sagt mir leider viel über ihn.«

Noch einmal fühlte sie meine Stirn und dieses Mal war sie zufrieden. Dennoch bat sie mich aus Sorge um meine Gesundheit, heute mit den Kindern daheimzubleiben.

Der Tag verging friedlich. Dass auch Iseuld den Besuch Gawens voller Unruhe erwartete, merkte ich daran, wie sie alle Aufgaben beiseiteschob und sich dem Klavier mit mehr Hingabe als sonst widmete. »Einen freien Tag werde ich mir wohl gönnen dürfen«, meinte sie, als sie Betsy auftrug, allen Besuchern mitzuteilen, sie empfange heute nicht.

Zum Abend hin kleideten wir uns um. Iseuld bat, ich möge mich hübsch machen, damit Gawen sein Benehmen besonders peinlich sein würde. Ich folgte ihrer Bitte nicht; ich befürchtete, wenn ich eines der Abendkleider seiner Schwester trüge, dann würde er erst recht glauben, ich wolle ihren Platz einnehmen. Ich wählte daher das einfache braune Kleid, in dem ich das Haus meines Bruders verlassen hatte. Das Haar steckte ich streng zurück und jeden Schmuck legte ich ab. Ich war eine Gouvernante von Kopf bis Fuß. Aber es war Iseuld, die den klügeren Gedanken gehabt hatte.

Gawen Tengye kam gegen sechs Uhr und er kam unter Getöse. Betsy hatte ihn nicht einlassen wollen. Was nicht an ihrer Begriffsstutzigkeit lag, sondern daran, dass er es nicht für nötig gehalten hatte, sich als Iseulds Bruder vorzustellen. Sie erkannte in ihm den Herrn, der sich schon am gestrigen Tag unfreundlich verhalten hatte, und hatte ihn wegschicken wollen, was ihn erboste.

So also stürmte Gawen ins Wohnzimmer und schaute wild um sich. Ich verabscheute ihn und doch gelang es mir, ruhig zu bleiben. Ich saß am Klavier gemeinsam mit den Kindern und flüsterte ihnen zu, sie sollten den Onkel lieb begrüßen, damit er sich zu Hause fühle. Doch Jenefer verweigerte mir meine Bitte rundheraus; zu selten hatte sie Gawen gesehen, als dass sie sich an ihn hätte erinnern können. Petrok gar verbarg sich hinter mir, so unangenehm war ihm der Auftritt des Onkels.

Gawen kümmerte nicht, wie er die Kinder verängstigte. Er schoss an Iseuld vorbei auf mich zu und zischte, ich hätte es nicht anders gewollt. Dann drehte er sich um und wollte Iseuld über mein schändliches Tun in Kenntnis setzen, als sie ihm zuvorkam und eisig bat, er möge sich setzen und aufhören, die Kinder zu erschrecken. Caradoc mischte sich nicht ein; er brachte Jenefer und Petrok aus dem Zimmer.

»Iseuld, diese Person –«

»Setz dich, Gawen, oder verlasse mein Haus!«

»Hör zu, Iseuld! Sie –«

»Nein, du hörst dir an, was ich zu sagen habe.«

Dann legte Iseuld los. Sie warf ihm Unhöflichkeit, Arroganz und Dummheit vor und endete mit der Frage, ob er vor zwei Tagen vor ihrem Haus herumgelungert sei wie ein Dieb. Gawen hatte stumm zugehört und nur gelegentlich die Hand gehoben oder sich geräuspert. Je länger seine Schwester auf ihn einsprach und je zorniger sie wurde, desto mehr schien er sich zu amüsieren. Jetzt lächelte er, deutete eine Verbeugung an und erklärte, er sei in der Tat bereits vorgestern hier gewesen. Ohne jede Verlegenheit räumte er ein, es könne sein, er habe einen Fehler gemacht.

»Einen verzeihlichen Fehler allerdings, wäre er doch jedem unterlaufen, der Caradoc und diese Frau zusammen gesehen hätte.«

»Haben sie sich umarmt, haben sie sich geküsst? Denn nichts sonst könnte mich davon überzeugen, dass etwas Unrechtes zwischen meinem Mann und meiner besten Freundin vorgeht!«

»Nun, das haben sie nicht. Aber Miss Annas Aufzug, ihre geöffneten Haare und wie sie traut nebeneinanderstanden und scherzten und lachten, von dir nichts zu sehen, da …«

»Du weißt, wie sehr ich jedes zeremonielle Gehabe verabscheue! Und doch misst du mich und die Art, wie ich mein Haus führe, an den Regeln kleingeistiger Heuchler, die überall Unmoral wittern! Ich kann dir nicht sagen, wie böse mich das macht!«

»Ich nahm an, es würde dich ebenso böse machen, im eigenen Haus betrogen zu werden von einer …«

Bislang hatte ich mich im Hintergrund gehalten, aber jetzt war es mit meiner Geduld am Ende. »Von einer was, Mr. Tengye?«

Er stand auf, musterte mich lange und verbeugte sich dann kühl. »Von einer Gouvernante, wie sie sein sollte. Von der Fußspitze bis zum Scheitel stellen Sie das Ideal der sich selbst vergessenden Erzieherin dar. Immer gehorsam, immer sich aufopfernd und für alles dankbar, was man ihr gibt.«

»Ich habe nie gehört, wie jemand Tugenden mit solcher Verachtung aufzählt.«

»Oh, Sie missverstehen mich. Wenn eine Gouvernante diese Tugenden besitzt, dann werde ich sie ehren und ihr Loblied singen. Für eine beste Freundin meiner Schwester allerdings, die diese Tugenden nur spielt und sich sogar verkleidet, um meinen Verdacht zu zerstreuen, habe ich nicht dieselbe Hochachtung übrig.«

»Gawen!« Iseuld eilte an meine Seite. »Du entschuldigst dich auf der Stelle bei Anna!«

»Ich denke nicht daran. Ich gebe zu, ich habe mich geirrt. In Caradoc. Und in den Chancen, die sich diese Person ausgerechnet hat. Aber das Schauspiel, das sie jetzt aufzuführen versucht, überzeugt mich nicht von ihrem guten Charakter.« Er trat einen Schritt näher zu mir. »Wie reizend Sie die Kinder um sich gruppierten, wie still Sie hier in der Ecke saßen, so ungefährlich in diesem traurigen Kleid, so ergeben abwartend, was mit Ihnen geschieht. Und so unendlich verlogen. Als ob diese Verkleidung mich vergessen machen könnte, was ich zwei Tage zuvor gesehen habe. Glauben Sie wirklich, nur weil Sie mir die Unscheinbare vorspielen, vergesse ich die Frau am Fenster, die mit meinem Schwager umging, als sei er ihr Mann?«

Ich war sprachlos. Iseuld nicht. »Hast du mich nicht verstanden? Ist dein Urteil mehr wert als meines? Was bist du doch für ein scheinheiliger Kerl! Ausgerechnet du!«

Doch Gawen ließ sich nicht aufhalten; er hörte seiner Schwester nicht einmal zu. »Und dann gestern, als Sie hier die Hausherrin gaben, eine Schürze über dem feinen Kleid, die Haare sorgfältig gelockt und gesteckt, Schmuck an Kragen und Ohren – soll ich das auch vergessen über Ihrem heutigen Getue?«

Iseuld wurde laut. »Deswegen führst du dich hier auf, als wärest du in einer Höhle großgeworden?«

»Verstehst du nicht, wie sie sich einbildet, deine Aufgaben …«

»Nichts bilde ich mir ein!« Ich fand meine Stimme wieder und schob meine Freundin beiseite; sie sollte nicht meine Kämpfe ausfechten müssen. »Sie fällen Ihre Urteile also nach der Kleidung eines Menschen? Ich wünsche Ihnen damit weiterhin viel Erfolg; man sieht ja, wohin es Sie gebracht hat.«

»Sie werden unverschämt, Miss Anna. Es ist nicht an Ihnen, meine Stellung im Leben zu beurteilen!«

»Das gilt andersherum ebenso! Ich empfange Gäste, auch ohne die Herrin des Hauses zu sein. Weil Iseuld mich darum gebeten hat. Hätten Sie mich gestern befragt, anstatt mir Vorwürfe zu machen und fortzurennen, so würde Ihre Schwester Sie nicht erst heute wiedersehen. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte; Jenefer und Petrok brauchen mich.«

Gawen sah zu Iseuld. »Du lässt zu, dass deine Angestellte so mit mir spricht?«

»Meine Freundin kann mit dir sprechen, wie sie es für richtig hält.«

»Soll ich also gehen?«

Iseuld zögerte. »Wenn du dich nicht gesittet benehmen kannst und dir egal ist, wie ich mich fühle, dann gehe bitte.«

Nun zögerte Gawen. Lachte auf einmal. Umarmte seine Schwester. Und griff nach meiner Hand, küsste sie. Iseuld jubelte, hing sich an seinen Arm, nannte ihn einen dummen Kerl und dankte ihm gar, hatte er doch getan, was er tat, weil er sich um sie sorgte. Glücklich plaudernd zog sie ihn aus der Tür und erklärte, wir wollten nun endlich essen und es uns gut gehen lassen.

Ich blieb zurück. Ich ließ mir Zeit, denn ich hatte Mühe, meine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Mich nämlich hatte Gawen nicht überzeugt von seiner Einsicht. Wie er meine Hand gehalten hatte, fester als nötig, wie er mir ins Gesicht geblickt hatte, kühl und grimmig – nein, er mochte mich nicht. Was mir nur lieb war, denn selbst Kommerzienrat Weber wäre mir als Tischherr lieber gewesen als dieser eingebildete Mann, der durch die Welt lief und Frauen auf die eine oder andere Weise ins Unglück stieß.

Das Essen brachten wir in höflicher Konversation hinter uns, was vor allem den Kindern zu verdanken war. Sie fragten Gawen aus. Wie Paris sei und ob dort wilde Tiere lebten. Ob er ein gemütliches Heim in Florenz habe und ob dort wilde Tiere lebten. Ob ihm Hamburg gut gefallen habe und ob es wenigstens dort wilde Tiere gebe. Petrok war ziemlich enttäuscht von seinem Onkel; was lohnte das Reisen in fremde Länder, wenn er nirgendwo Krokodile oder Löwen traf? Jenefer hingegen schien recht zufrieden mit ihm zu sein, denn als wir zurück im Wohnzimmer waren und Caradoc und Gawen über Geschäfte sprachen, da stellte sie sich neben ihn, schaute ihn an und streichelte über sein Gesicht. Ich gestand ihm wirkliche Liebe für seine Familie zu, als er die Nichte auf seine Knie hob und mit geschickter Hand aus ihren Locken einen Zopf flocht.

Jenefer lächelte verträumt und flüsterte, dass sie das möge. »Und du machst das fast so gut wie Tante Anna«, lobte sie ihn.

Sofort hielt er inne und starrte mich an. »Du nennst Miss Anna Tante?«

Petrok, der nur mühsam die Augen noch offen hielt, löste sich von Iseulds Schulter und krähte, ich wäre ja keine fremde Miss, dann müsse ich wohl eine Tante sein. »Und Mama sagt, Tante Anna ist Familie.«

»Ist sie das?« Gawen klang freundlich, aber seine Miene war ernst.

Jenefer strahlte ihn an. »Du musst nicht traurig sein. Wenn du öfter kommst, dann bist du auch Familie.«

»Dann nur, Engelchen? Bin ich denn nicht dein Onkel?«

Sie zog ein drolliges Gesicht. Bislang hatten die Kinder vermieden, Gawen mit Namen anzusprechen. Sie behandelten ihn wie einen Gast, den sie mochten, nicht aber wie einen Verwandten, der ihnen vertraut war.

»Sie kennen dich doch kaum«, erklärte Iseuld.

»Oh, ich bin nicht eifersüchtig, ich verstehe das schon …«

Wieder schaute er zu mir. Nicht einmal unfreundlich, nur sehr ernst und seltsam besorgt. Sofort schoss mir die Röte in die Wangen und dieses Mal konnte ich ein Zittern nicht unterdrücken. Es war, als blicke mir das Schicksal selbst in die Augen.

Caradoc nahm meine Veränderung wahr und rief Iseuld zu mir. Wie am Morgen schon legte sie die Hand auf meine Stirn und wieder wollte sie den Arzt holen lassen.

»Iseuld, bitte, du machst dir unnötige Sorgen. Ich habe zu viel von diesem Likör getrunken, den Mr. Tengye dir mitgebracht hat.«

Gawen lachte. »Ein Teufelszeug, ich hätte Sie warnen sollen.«

»Ich weiß nicht, wie viele Warnungen ich aus Ihrem Mund noch hätte hören wollen, aber diese gewiss.«

Er verbeugte sich, schmunzelte sogar. In diesem Moment sah er Iseuld so ähnlich, dass er mir fast hätte sympathisch sein können. Er zwinkerte mir zu. »Wenn Sie sich angewöhnen wollen, auf mich zu hören, dann will ich mir angewöhnen, Sie zu warnen.«

Ich wusste mit seiner Aussage so wenig anzufangen, dass ich mir eine Antwort sparte und erklärte, ich wolle mich zurückziehen, zumal es an der Zeit sei, die Kinder ins Bett zu bringen. Zu meiner Überraschung stand auch Gawen auf und meinte, er werde uns verlassen; er bräuchte seinen Schlaf. Er küsste Iseuld auf beide Wangen, strich den Kindern über den Kopf und war schon auf dem Weg hinaus, bevor Iseuld ihn hätte zurückhalten können. Vom Fenster aus rief sie ihm nach, wann er denn zurückkäme.

»Ich bleibe eine Woche, Schwesterchen, und bin morgen Vormittag zurück. Schlaft wohl, ihr Lieben!«

Das Geheimnis der Brüder Tengye

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