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Neues Leben

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London, Spätherbst 1845

Wäre dies eine andere Geschichte als meine eigene, so würde ich berichten, wie elegant und gemütlich das Heim der Arscotts war und wie das ebenso für mein Zimmer galt, das im zweiten Stockwerk zwischen dem Kinderzimmer und jenem der Haushälterin Mrs. Holt lag. Ich würde erzählen, wie mich London mit seiner Größe, aber auch mit seinen unfassbaren Gegensätzen überwältigte; vielleicht würde ich mich sogar hinreißen lassen, über die grauenvollen Zustände zu schreiben, in denen die Armen leben mussten. Nein, Leben war es nicht zu nennen, ein Dahinsiechen war es vielmehr und man musste sich nicht weit von den vornehmen Stadtvierteln entfernen, um in die Slums zu gelangen. In London war der drohende Abgrund nie weit entfernt. Iseuld und Caradoc waren sich dieser Tatsache bewusst und beide engagierten sich in verschiedenen Wohltätigkeitsvereinen, die in dieser Stadt wesentlich größeren Problemen gegenüberstanden, als es sich meine Schwägerin Bertha und deren Freundinnen vorstellen könnten. Ja, ich könnte vieles dazu sagen; ich habe an Iseulds Seite Baracken besucht, von deren Enge, Nässe und Dunkelheit man sich keine Vorstellung macht. Wir haben mit Mädchen gesprochen, denen man ihre Jugend schon lange nicht mehr ansieht und die wahrscheinlich niemals das Alter erreichen werden, auf das man sie nun schon schätzt. Es war und ist unerträglich. Vielleicht werde ich eines Tages darüber schreiben. Doch bevor ich anderen helfen kann, muss ich mir selbst helfen.

Iseuld erklärte mir den Grund für ihr Engagement vor unserem ersten gemeinsamen Besuch eines Armenhauses. Ich hatte Respekt vor diesem Ausflug und bewunderte Iseuld sehr für ihr Tun; ich nannte sie mutig und selbstlos. Was sie ohne jeden Zweifel war. Vor allem aber war sie ehrlich.

»Sieh, es geht uns gut und was auch kommen mag, wir werden uns immer versorgen können. Wenn ich auf das Theater und die Oper, auf Bälle und Kartenspiel verzichten müsste, es wäre kein zu großes Opfer. Andere aber sind nicht in dieser Lage, sie haben kein Land, das sie in der höchsten Not bestellen könnten, sie haben kein Haus, in dem eine große Familie Platz fände. Wenn ich also mit ruhigem Gewissen meine Oper genießen möchte, bezahle ich dafür mit einer Spende und einem solchen Besuch. Es ist im Grunde recht eigennützig, was ich tue.«

Unter Eigennutz verstand ich etwas anderes, zumal das, was Iseuld tat, echte Hilfe war. Sie scheute sich nicht, ein Kind zu wickeln, wenn die Mutter zu schwach war. Sie fütterte ohne Sorge um ihre Gesundheit Greise und Kranke. Sie hielt den Mädchen von der Straße keine Moralpredigten, von denen sie nicht satt wurden, sondern schenkte ihren Klagen Gehör. Sie mahnte niemanden, das von ihr gespendete Geld nicht in Branntwein umzusetzen. Sie gab willig und sie gab viel und sie gab immer auch Zuneigung.

»Aber das ist meine Christenpflicht. Heißt es nicht, es habe der Mensch von Gott einen freien Willen erhalten? Wie kann ich dann hergehen und im Namen desselben Gottes verlangen, man müsse meinem Willen folgen, nur weil ich dafür bezahle? Was nicht heißt, es tun unsere Angestellten, was sie wollen. Und jetzt machst du wieder dieses Gesicht, das mich daran erinnern soll, dass auch du von uns bezahlt wirst. Höre endlich damit auf. Wie widerlich wäre es, eine Freundin alle Arbeit tun zu lassen und dann von ihr zu erwarten, keinen Lohn anzunehmen?«

Meine Stellung im Haus blieb noch über zwei, drei Wochen ein Streitpunkt zwischen uns. Immer fand ich einen Grund zur Sorge. Wie konnte ich beispielsweise mit der Haushälterin auf einer Stufe stehen, obwohl diese sich ihren Status über viele Jahre erarbeitet hatte?

»Die gute Holt schätzt dich sehr und sagt mir täglich, wie froh sie ist, dass Jenefer und Petrok eine so liebevolle Erzieherin gefunden haben.«

»Ja. Genau das. Eine Erzieherin. Ich …«

»Fühlst du dich von Holt schlecht behandelt?«

»Nein, nicht im Geringsten.«

»Dann bestehe nicht länger darauf, dich abzusondern, obwohl alle hier mehr in dir sehen als eine Gouvernante.«

»In anderen Haushalten …«

»Anna, bitte, lass uns das ein für alle Mal beenden. Auch in anderen Haushalten ist die Gouvernante Mitglied der Familie. Wir haben unsere Freundin für diesen Posten gewonnen und somit eine Freundin zur Familie gemacht. Weshalb stellst du dich so an?«

»Ich möchte nicht, dass du dich irgendwann scheust, mir deine Wünsche in Bezug auf die Erziehung deiner Kinder mitzuteilen.«

»Wie kühl du mit mir sprichst.« Iseuld lachte. »Du tust den Kindern gut und so sehr ich sie liebe, so sehr genieße ich doch auch die Zeit, in der ich mich nicht um sie zu kümmern habe. Wenn ich morgen möchte, dass du nicht nur Deutsch und Französisch mit ihnen sprichst, sondern ihnen außerdem noch Chinesisch beibringst, dann werde ich es dir sagen. Bist du nun zufrieden? Oder soll ich dir den Lohn kürzen, damit du glücklich bist?«

Ich war besiegt. Natürlich war es albern, wie ich täglich wieder damit angefangen hatte, aber vielleicht ahnte ich, dass es nicht gut war, Iseuld doppelt verpflichtet zu sein: als Angestellte und als Freundin. Um was mich die eine bat, das konnte mir die andere befehlen, und was die andere von mir forderte, das gab ich der einen aus freien Stücken.

Nicht, dass sie mir Anlass zu solcher Sorge gegeben hätte. Iseuld schlief gerne lang in den Morgen hinein und erledigte am Vormittag ihre Aufgaben als Hausherrin; sie kontrollierte die Haushaltsbücher, legte das Menü für die Woche fest, kontrollierte die Wäsche, widmete sich ihrer Korrespondenz und den Pflichten als Schirmherrin eines Kunstvereins, besuchte Caradoc jeden Mittag in seinem Büro und zwischen alldem übte sie am Klavier, um ihren Gästen einen angenehmen Abend bereiten zu können. Während dieser Stunden überließ sie mir die Kinder ohne jede Vorgabe. Sie vertraute mir und stimmte allem zu, was ich vorschlug. Ob es ein Ausflug war oder der Besuch eines Kindertheaters, ob ich mit ihnen basteln oder im Garten toben wollte. Nur einmal legte sie ihr Veto ein, als ich aus der Leihbücherei die Artussage mitbrachte. Die nahm sie mir aus der Hand und meinte, davon würden englische Kinder schon oft genug hören. Ich dachte mir nichts dabei, zumal sie ansonsten nur Lob für mich hatte. Sie freute sich, wie schnell Jenefer und Petrok auf Deutsch grüßten und kleine Komplimente verteilten, und nannte mich eine hervorragende Lehrerin. Ohne Eifersucht beobachtete sie, wie die beiden mich täglich mehr in ihr Herz schlossen und begannen, von mir als ihrer Tante zu sprechen.

Was ich verbieten wollte, Iseuld aber gestattete. »Du hast doch nichts dagegen? Es zeigt, wie recht ich habe, dich als Familienmitglied anzusehen.«

So wurde ich also zu Tante Anna und ich muss zugeben, es gefiel mir sehr. Als auch Caradoc mich nicht mehr mit Miss Anna ansprach und mir verbat, ihn Mr. Arscott zu nennen, hörte ich endlich auf, mir Sorgen um meinen Status in diesem Haushalt zu machen. Ich war angekommen, war endlich zu Hause. Was für mich zählte, waren die freundschaftliche Liebe der Familie und der Respekt, den mir die Haushälterin Mrs. Holt entgegenbrachte, deren Ratschläge ich hoch schätzte.

Was kein Wunder war, denn Mrs. Holt hatte über zwei Generationen hinweg die Position des Kindermädchens im Hause der Tengyes eingenommen. Da Mrs. Tengye nach allem, was ich mir aus Iseulds gelegentlichen Erwähnungen zusammensetzte, wenig mütterlich gewesen war, war die gute Holt an diese Stelle getreten. Sie hatte den drei Kindern die Liebe geschenkt, die sie bei ihren Eltern vermissten. Als die drei so groß geworden waren, dass ein Kindermädchen nicht mehr benötigt wurde, hatte Mr. Tengye angeboten, sie so lange zu behalten, bis eines der Kinder heirate. In diesem neuen Haushalt sollte sie dann die Rolle der Haushälterin übernehmen. Da Iseuld als Erste in den Stand der Ehe trat, ging Holt mit ihr. Und sie ging freudig, obwohl sie Cornwall nicht gerne verlassen hatte und von London nicht viel hielt.

»Aber«, so sagte sie, »solange wir jeden Sommer nach St. Tudy reisen, kann ich den Dreck Londons ertragen.«

Ich war überzeugt, sie wäre auch mitgegangen, wenn sie Cornwall nie wieder hätte sehen dürfen. Iseuld und Holt hingen mit solcher Liebe aneinander, dass ich meine Freundin an einem regnerischen Nachmittag Ende November damit neckte, sie habe Caradoc nur deshalb so schnell zur Ehe überredet, damit sie sich Holt sicherte, bevor ihr die Brüder zuvorkämen.

Zu meiner Verwunderung lachte Iseuld nicht, sondern sah mich ernst an und nickte bedächtig. »Ja, Arthur und Gawen sind nun schon über dreißig und sollten endlich ans Heiraten denken.«

Bislang hatte Iseuld nie von ihren Brüdern gesprochen, sah man von kurzen Bemerkungen ab, die wenig erhellend waren. So wusste ich nur, dass sie echte Tengyes waren und somit nicht so bieder wie Caradocs Familie. Die im Übrigen reizend war. Und langweilig. Wie Caradoc aus dieser Familie hatte hervorgehen können, war – seiner Aussage nach – ebenso erstaunlich, wie es Iseulds praktische Art gemessen am Wesen ihrer Familie war.

Ich hatte wegen dieser wenigen Hinweise schon länger vermutet, es läge mit den Brüdern etwas im Argen. Nun erkannte ich, dass sie Iseuld Kummer bereiteten. Ich wollte sie trösten. »Ach, weißt du, für manche braucht es eben seine Zeit, bis sie die Richtige finden. Mein Bruder war schon Mitte dreißig, als er Bertha traf. Und wenn man es genau betrachtet, hat er die Richtige gar nicht gefunden.«

Nun lachte Iseuld zwar, doch wirklich fröhlich schien sie mir nicht zu sein.

»Vielleicht sind deine Brüder nicht für die Ehe gemacht?«

Sie schwieg einige Sekunden und betrachtete ihre Kinder, die am Fenster saßen und dem bunten Treiben in der Regent Street zusahen. Dort hasteten Dienstmägde und Geschäftsmänner durch den Regen und wichen oftmals gefährlich knapp den Hansoms und anderen Kutschen aus, deren Fahrer rücksichtslos voran preschten. Iseuld beugte sich näher zu mir.

»Es täte mir weh, gäbe es keine Tengyes in St. Tudy mehr. Ob sie also für die Ehe gemacht sind oder nicht, einer von beiden sollte …«

Was er sollte, sprach sie nicht aus, also warf ich ein, dann müsse sich wohl einer von beiden opfern. Ein Scherz hatte das sein sollen, doch Iseuld schaute mich erschrocken an. Ich war verwirrt. Sie machte Scherze dieser Art immerzu, aber verstand sie nicht, wenn sie von anderer Seite kamen? »Opfern ist vielleicht zu viel gesagt. Ich meinte -«

»Nein, Anna, du musst nichts erklären. Was hat Holt dir über Gawen und Arthur erzählt?«

Ich sagte wahrheitsgemäß, sie sei so diskret gewesen, dass es mir schon fast unheimlich sei.

»Aber du bist neugierig? Gib es zu.« Da blitzte der Schalk in ihren Augen auf. »Ich kann mir schon denken, wie es wirkt. Immerzu werden sie als schlechtes Beispiel angeführt, doch niemand redet über sie. Du musst ja sonst etwas von ihnen denken.«

Ich antwortete ehrlich, dass ich mir nicht besonders viele Gedanken um ihre Brüder gemacht hatte; mehr als ein flüchtiges Wundern und die Vermutung, sie seien in irgendeiner Weise schwierig, hatten die bisherigen Bemerkungen in mir nicht ausgelöst. Und ich log nicht. Zu sehr war ich mit den Kindern und mir selbst beschäftigt. Täglich lernte ich Neues, sah Neues, hörte Neues – da waren zwei Herren, die irgendwo weit fort lebten, von geringer Bedeutung. Jetzt allerdings, als wir über sie sprachen, fühlte ich etwas Unbekanntes in mir aufsteigen. Für einen Augenblick überkam mich die Gewissheit, dass diese Männer von größter Bedeutung für mein Leben sein würden, und ein Gefühl von …

Ja, mir fehlen heute noch die Worte, zu beschreiben, was in mir vorging. Da waren Furcht, Erwartung und Freude, und wäre mir die Göttin des Schicksals erschienen, ich hätte mich nicht gewundert. Es klingt überspannt und das sagte ich mir auch. Dass ich hysterisch sei. Nur für einen winzigen Moment, den Bruchteil einer Sekunde, spürte ich diese erregende Bangnis. Dann kam sie mir schon lächerlich vor. Aber wie wünschte ich heute, ich hätte die Warnung verstanden. Denn eine Warnung war es bestimmt.

Ich fragte Iseuld, ob sie sich mit ihren Brüdern gut verstanden habe in Kinderzeiten. Das schien mir unverfänglich.

Iseuld aber seufzte und meinte, darüber solle ich lieber mit Holt sprechen; die könne aus jenen Jahren mehr berichten. »Es scheint alles so weit zurückzuliegen, dass ich mich kaum erinnern kann. Ich hoffe sehr, dass Petrok und Jenefer niemals so von ihren Kinderjahren sprechen werden.«

Ich malte mir die schlimmsten Katastrophen aus, die Iseulds Jugend überschattet haben mussten. Ich dachte an Duelle im Morgengrauen, an uneheliche Kinder und Brandstiftung, sogar an Straßenräuber und Piraten. Ich war gefangen in einer eigentümlichen Stimmung, bis Iseuld mich anlächelte und davon sprach, wie die Eltern sich wenig um die Kinder gekümmert und sie meist Holt überlassen hätten.

»Ich fühlte mich oft scheußlich nutzlos und allein. Mutter interessierte sich nicht für uns und Vater hatte immer nur Zeit für … andere Dinge. Natürlich hatte ich eine Freundin, aber sie … ach, es war schwierig. Arthur und Gawen hatten einander und immer waren sie unterwegs und stellten Dummheiten an. Ohne Holt wäre ich eingegangen.«

Ich hatte mich so in meine Fantastereien hineingesteigert, dass ich fast enttäuscht war von dem, was Iseuld erzählte. Als ob eine lieblose Kindheit leichter zu verkraften wäre als ein vom Vater erschossener Liebhaber. Wie kam ich nur auf solche Ideen? Ich kannte mich selbst nicht mehr. Ich wusste nichts Besseres zu antworten, als dass Iseuld eine warmherzige Freundin, liebende Gattin und wunderbare Mutter sei, was sie nur sich selbst und Holt zuschreiben durfte.

»Das mag stimmen, doch ich möchte auch eine gute Schwester sein. Ich will meine Brüder glücklich sehen und bin überzeugt, sie werden ihr Glück erst mit der richtigen Frau finden.«

Da flackerte es wieder auf, dieses prickelnde Gefühl von Unruhe und Erwartung. Mühsam verbarg ich meine Nervosität hinter einem Scherz; ich antwortete, es müssten bitte schön zwei Frauen sein, solange es in England nicht gestattet sei, zwei Ehemänner zur selben Zeit zu nehmen.

Iseuld kicherte. »Von einem solchen Gesetz würde ich keinen Gebrauch machen. Ich liebe meinen Mann sehr, aber zwei von ihnen? Das wäre mir doch zu anstrengend.«

»Im umgekehrten Fall würden bestimmt viele Männer nach einer zweiten Gattin suchen.«

»Natürlich. Sie haben mit uns weniger Arbeit als wir mit ihnen. Aber Caradoc musst du ausnehmen. Ich kann und will mir nicht vorstellen, dass er eine andere neben mir haben will.«

»Unsinn. Du bist sein Alles, daran besteht kein Zweifel.«

»Sieh, und das ist es, was ich für meine Brüder möchte: Eine Frau, die ihnen alles bedeutet.«

»Für jeden eine, darauf bestehe ich.«

»Ich wäre schon froh, wenn einer von ihnen eine fände.«

»Aber worin besteht die Schwierigkeit? Wenn sie dir im Äußeren ähneln, dann dürften sie sich vor Bewunderinnen kaum retten können.«

»Nun ja, obwohl sie meine Brüder sind, kann ich sagen, sie sehen gut aus. Nur … ich will dich nicht schockieren.«

Gespannt beugte ich mich vor. Iseuld rutschte näher heran und vergewisserte sich mit einem Blick zum Fenster, dass die Kinder nicht lauschten. »Sagen wir es so: Wovon der eine zu wenig hat, hat der andere zu viel. Du verstehst?«

Das tat ich nicht. Ich war sicherlich nicht gänzlich unwissend; wenn man mit Bruder und Schwägerin in einem Haushalt lebte, bekam man so manches mit, über das zu sprechen sich nicht ziemte. Was Bertha und ihre Freundinnen nicht davon abgehalten hatten, mir gegenüber recht deutliche Hinweise abzugeben, was mich erwarte, wenn ich erst einmal verheiratet sein würde. Aber was Iseuld meinte, war mir schleierhaft.

»Sieh, Arthur ist von zurückhaltender Natur, während Gawen ein eher … übergroßes Interesse an den Damen hat.«

»Dann wird es wohl Gawen zufallen, die Tengyes zu erhalten.«

»Du Schäfchen. Wenn ich sage, er hat ein übergroßes Interesse an den Damen, dann meine ich nicht, dass er unbedingt heiraten will. Vielmehr möchte er sich für keine entscheiden. Begreifst du nun?«

Dann waren meine Ideen von Ehebruch und Eifersucht doch nicht so weit hergeholt? Mein Puls beschleunigte sich. Gawen musste ein beeindruckender Mann sein, wenn er den Frauen zu gefallen wusste. »Du willst aber nicht sagen, er hat schon einmal ein Mädchen unglücklich gemacht?«

»Dutzende. Oh, schau nicht so erschreckt, er wird sie nicht ruiniert haben. Hoffe ich. Bis auf eine. Sie wirft ihm ein gebrochenes Verlöbnis vor und …« Iseuld schaute wieder zu Jenefer und Petrok, die sich an den Tisch gesetzt hatten und dort mit den Püppchen spielten, die ich für sie angefertigt hatte. »Ihr Sohn sieht Gawen so ähnlich, dass kein Richter ihm glauben würde, wenn er die Vaterschaft bestreiten wollte.«

»Oh. Und du sagst, er hat das mit vielen Frauen –«

»Aber nein, das bestimmt nicht. Nicht so. Nicht mit jungen Frauen, die nicht wussten, auf wen sie sich einließen. Ich weiß, was du denkst. Dass er ein verderbter Mann ist, für den ich mich schämen sollte.«

»Aber nein. Ich frage mich allerdings, wie es kam, dass er dieses arme Mädchen nicht hat heiraten müssen.«

»Sieh, das Ganze hat sich vor fast zehn Jahren zugetragen und eigentlich dürfte ich nichts darüber wissen. Aber ich habe es doch herausbekommen und mir später von Arthur bestätigen lassen. Also: Gawen hat Demelza Williams auf einem Ball in Fowey kennengelernt. Er fand sie reizend, sie betete ihn an und es bedurfte offenbar nicht vieler Worte, sie davon zu überzeugen, sich ihm hinzugeben.«

»Sie nahm doch an, sie seien verlobt?«

»Auch dann wäre sie schön dumm gewesen, ihm solche Freiheiten zu gestatten. Wer verlobt sich bitte nach wenigen Stunden schon? Und ich muss sagen, eine dumme Schwägerin würde mir nicht gefallen. Du weißt, wovon ich spreche.«

Ich nickte, dachte allerdings auch, dass mir ein solcher Bruder genauso wenig gefallen würde. Was Iseuld über Gawen erzählte, brachte vielleicht mein Herz zum Klopfen, aber sympathisch war er mir nicht. »Und dann?«

»Dann schrieb sie ihm einige Monate später, dass sie sein Kind erwarte und damit rechne, er werde seine Pflicht tun.«

»Und weiter?« Es war, als läse ich einen Roman.

»Er schrieb zurück, sie müsse sich irren, was den Vater ihres Sprösslings angehe, und sie täte gut daran, noch einmal gründlich nachzurechnen und beim nächsten Versuch den richtigen Herrn anzuschreiben.«

»Wie unverschämt!«

»Wenn sie nicht gelogen hat, dann hat er sich sehr schlecht verhalten, das gebe ich zu.«

»Also glaubt ihr, Demelza hat gelogen?«

»Das glaubten meine Eltern bestimmt. Bis sie Tristan sahen. Demelzas Vater setzte Gawen eine Frist, binnen derer er seine Absicht verkünden müsse, Demelza zu heiraten.«

»Und er lehnte ab?«

»Das kann man so nicht sagen. Er reiste ab. Er ließ wissen, dass er keinesfalls eine verlogene Frau ehelichen würde. Eine Dirne wäre ihm lieber, wenn sie nur ehrlich wäre.«

»Und seitdem ist dein Bruder fort?«

»Meist, ja. Er lebte in Florenz, er war lange Zeit in Wien und Madrid, doch gelegentlich kommt er nach London, um mich zu besuchen.«

»Ist das nicht sehr gefährlich?«

»Das stört ihn nicht. Irgendwann käme jede Wahrheit ans Licht, meint er, und dann muss man sich ihr stellen.«

»Und was glaubst du? Ist dieser Tristan wirklich dein Neffe?«

Iseuld richtete sich auf, runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf. »Seltsam, so hat sich mir diese Frage noch nie gestellt. Aber ja, Tristan kann nur ein Tengye sein. Demelza ähnelt dir; ihre Familie ist blond und zart.«

»Sicher gibt es in Cornwall mehr Männer, die so dunkel sind wie ihr?«

»Natürlich. Und vielleicht helfe ich Gawen deshalb, weil ich doch hoffe, dass ein anderer Demelza unglücklich gemacht hat.«

»Vielleicht ist dieser andere Mann weniger vermögend als dein Bruder? Er hat doch Geld?«

»Das hätte er, wenn er nicht auf der Flucht wäre. Ihm hätten Tengye Hall und die Ländereien gehört, aber durch seine Flucht ist das Erbe an Arthur gegangen. Gawen erhält allerdings eine jährliche Apanage, von der niemand weiß. Du darfst darüber also nicht sprechen.«

»Selbstverständlich nicht.«

»Obwohl du es unrecht findest, wie wir uns verhalten? Leugne es nicht, ich sehe es dir an. Aber sieh, er ist mein Bruder und ich liebe ihn. Und ich möchte ihm glauben, wenn es auch gegen jeden Beweis geht.«

»Und was ist mit Arthur? Er mag die Frauen nicht?«

»Das wohl, aber er ist schüchtern.«

»Du sagtest, er sei über dreißig. Kann ein Mann von Bildung und guter Familie dann noch schüchtern sein?«

»Vielleicht ist schüchtern das falsche Wort. Er stottert natürlich nicht, wenn er einer Frau gegenübersteht. Er kann sogar charmant sein, wenn die Dame ihm ein wenig gefällt. Aber wenn sie ihm sehr gut gefällt, wird er still oder spricht über nichts anderes als seine Studien.«

»Er hat wohl sehr hohe Ansprüche an die Frauen? Deshalb gefällt ihm nur selten eine. Oder er hat keine allzu hohe Meinung von uns und befürchtet, es könne ihn eine Ehe von diesen Studien abhalten.«

»Was ich mir sehr wünschen würde.«

»Liegt in fortgesetzter Bildung nicht der Schlüssel zur Zukunft unserer Gesellschaft?«

Iseuld lachte. »Ich habe dich entschieden zu oft zu den Wohlfahrtssitzungen mitgenommen. Ich will Arthur nicht das Studieren verbieten; ich will ihn nur lieber beim Spiel mit seinen Kindern sehen.«

»Wäre es so schlimm für dich, wenn Tengye Hall ohne Tengyes wäre?«

»Weil ich an meine Eltern keine liebevollen Erinnerungen habe? Das willst du doch sagen? Aber ich sage dir etwas: Wenn sie auch keine guten Eltern waren, so bin ich ihnen doch dankbar für mein Leben und meinen Charakter. Und ich liebe Tengye Hall, ich liebe Cornwall. Zu erleben, wie wir kein Teil mehr davon sind, wäre mir unerträglich.«

»Aber du bist auch eine Arscott.«

»Die Arscotts stammen aus Liskeard.«

»Nun, aber Cornwall bliebe dir erhalten und Petrok hat genug von den Tengyes in sich, um …«

»Ach, meine liebe Anna, was machen wir uns an einem trüben Tag auch noch trübe Gedanken? Sollten wir nicht fröhlich sein und singen und tanzen?« Sie sprang auf, nahm mich an der Hand und zog mich zu den Kindern hinüber, die sie küsste und umarmte. »Heute Abend erwarten wir keine Gäste. Da wollen wir es uns so richtig gut gehen lassen.«

Wir empfingen Caradoc ausgesprochen leger: Die Kinder steckten in ihren Nachthemden; Iseuld und ich hatten uns in schlichte Kleider und indische Shawls gehüllt, die Haare trugen wir offen. Holt saß im Morgenmantel am Kamin und strickte. Caradoc streckte sich auf der Chaiselongue aus und ließ sich von seinem Töchterlein mit all den Leckereien füttern, die Iseuld eigenhändig zubereitet hatte; cornische Pasteten gab es und duftende Rosinenbrötchen, die sie über dem Kaminfeuer röstete. Wir sangen Lieder und ich erzählte deutsche Märchen. Petrok kuschelte sich an mich, Jenefer saß zwischen ihren Eltern und Holt schlummerte nach einer Stunde im Ohrensessel ein. Wir kicherten, wann immer sie aufschreckte und behauptete, hellwach zu sein. Irgendwann schickte Iseuld sie auf ihr Zimmer und brachte bei der Gelegenheit auch die Kinder zu Bett. Ich blieb mit Caradoc zurück.

Wir waren mittlerweile so vertraut miteinander, dass er mir mehr Bruder war als Carl. Was Iseuld zu verdanken war, die im Gegensatz zu Bertha nie versuchte, ihren Mann von mir fernzuhalten. Unserer tiefen Freundschaft wegen verschwendete ich keine Sorge an Sittlichkeit oder Moral, als er und ich alleine im Wohnzimmer saßen; zwischen Caradoc und mir bestand kein Gefühl, das nicht hätte sein dürfen. Wir plauderten über die Kinder, als plötzlich von der Straße Tumult zu uns heraufdrang. Neugierig eilten wir ans Fenster, um zu schauen, was den Lärm verursachte. Nichts weiter war geschehen, als dass zwei Fahrer ihre Kutschräder verkeilt hatten und sich Prügel androhten, wenn der andere nicht zugeben wolle, die Schuld am Unfall zu tragen. Den ganzen Tag über hatte es mal mehr, mal weniger geregnet und wieder ging Unwetter nieder, als die Streithähne gerade am lautesten brüllten. Schnell sprangen sie auseinander und strengten sich an, ihre Kutschen zu befreien.

Wir beobachteten das Spektakel amüsiert. Ich stützte die Arme aufs Fensterbrett; mir gefiel, wie der Regen aus dem Dunkel in den hellen Lichtschein der Gaslaternen prasselte. Als aber ein Blitz herabfuhr und Donner krachte, erschrak ich mich so sehr, dass Caradoc seinen Arm um mich legte und mir versicherte, ich müsse mich nicht fürchten. Es war seine Reaktion natürlich, ganz wie die eines großen Bruders. Er neckte mich, nannte mich einen Angsthasen. Als wäre ich die hilflose Heldin eines Schauerromans, bot er mir seinen Arm und führte mich zum Sofa, wo ich meinen unaussprechlichen Schrecken vergessen solle. Lachend ließ ich mir seinen Spott gefallen und als Iseuld einige Minuten später zurückkehrte, fand sie uns vor, wie wir eine Gruselgeschichte erfanden. Iseuld spielte nur zu gerne mit und so blieben wir noch lange beisammen, bis uns nichts Besseres mehr einfiel, als unsere Helden in der Wüste verdursten zu lassen.

Als ich in mein Zimmer kam, trat ich einmal noch ans Fenster und blickte hinaus auf die nun menschenleere Straße. Noch immer regnete es. Ich hoffte, es würde bis zum Vormittag aufhören; ich wollte mit den Kindern einen Ausflug in den Park unternehmen. Ich gähnte und wollte mich eben umwenden, als ich eine Bewegung auf der anderen Straßenseite wahrnahm. Stand dort jemand unter den Kolonnaden? Ich glaubte, einen Schatten wahrzunehmen, hoch und breit. Sah ich den flackernden Umriss eines Mannes oder spielten mir Nacht, Licht und Regen einen Streich? Ich beugte mich weiter vor; wieder bewegte sich dort drüben etwas. Ich wartete ab mit kribbelnden Fingern und einem flauen Gefühl. Fürchtete ich mich etwa? Dann verlachte ich mich; bestimmt hatte ich in der letzten Zeit zu viel Kaffee getrunken, den ich von daheim nicht gewohnt war. Bertha war der Meinung, es stünde einer unverheirateten Frau nicht an, den türkischen Trank zu genießen; er mache sie nervös. Am Ende hatte sie recht und ich reagierte nur deshalb so übertrieben?

Froh, dem Kaffee die Schuld geben zu können, schlüpfte ich ins Bett und schlief rasch ein. Es war die letzte Nacht auf lange Zeit, die ich in Ruhe verbrachte.

Das Geheimnis der Brüder Tengye

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