Читать книгу Das Meer, die Liebe, der Mut aufzubrechen - Andrea Marcolongo - Страница 10

Sei bereit

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B.A. Baker, der dritte Offizier des Frachters Prusa, rät: Das Wichtigste für einen Seenotretter ist, den Geist zu trainieren. Konzentrieren Sie sich darauf, nicht aus der Fassung zu geraten, und halten Sie daran fest. Sagen Sie niemals: „Ich habe keine Angst“, denn Sie werden Angst haben. Wenn das Schiff von einem Torpedo getroffen wird, verspüren Sie Panik in der Magengrube und die Knie werden weich. Dagegen gibt es nur ein Mittel: handeln.

Kolchis war so weit entfernt, wie man zwischen dem Untergang und dem Aufgang der Sonne schauen kann, erzählt Apollonios von Rhodos gleich am Anfang seines Epos.

Jason wusste weder, wo Kolchis lag, noch, wie er dorthin gelangen sollte, doch er wusste, warum er aufbrechen musste und wollte – ein Begehren treibt die Männer, mit dem Schiff über die Salzflut zu fahren.

Seine Aufgabe bestand darin, das Goldene Vlies, das im Besitz des grausamen Aietes war, der über ein fernes Reich im Osten, das heutige Georgien, herrschte, nach Griechenland zurückzubringen.

Jason war noch ein Junge und vor allem ein Sohn: Noch nie davor hatte er das Elternhaus verlassen.

Sein Vater war der große Aison, der König der Stadt Iolkos in Thessalien in der Nähe des heutigen Volos: Hier lebte er glücklich, bis sein Onkel, der grausame Pelias, den Thron an sich riss.

Kein Erwachsener hätte wohl Pelias’ Aufforderung Bring das Goldene Vlies zurück, dann lasse ich deinen Vater frei ernst genommen, nur ein Junge, der weder Lebenserfahrung besaß noch jemals Bekanntschaft mit dem Meer gemacht hatte, nahm sie ernst.

Pelias sagte, Schauen wir mal, ob es dir gelingt, doch das war bloß eine List, um diesen Jungen loszuwerden, der fest entschlossen war, den Thron seines Vaters zurückzuerobern, ein Scherz, den keiner sonst aufgegriffen hätte.

Alle sagten, es sei ein unmögliches Unterfangen.

Niemand glaubte, dass Jason nach Thessalien zurückkehren würde: Zu viele Gefahren verbargen sich im Meer, zu viele unbekannte Völker befanden sich entlang des Weges, zu fremd und zu weit entfernt war Kolchis.

Alle dachten, er wäre auf immer verloren, und beweinten ihn schon jetzt.

Keiner hätte den Aufbruch gewagt.

Allerdings hatte ihn auch noch nie jemand versucht.

Das Schiff Argo war wunderschön, das vorzüglichste von allen Schiffen, welche auch immer es mit Ruderarbeit auf dem Meer versuchten, aber Athene hatte es nicht geschaffen, damit es im Hafen vor Anker lag.

Das erste von Menschenhand, von einem Zimmermann namens Argos gebaute Schiff wartete schon zu lange.

Die Göttin Hera würde über die Schifffahrt wachen, sie trieb der Mannschaft den Steuermann Tiphys zu, der tüchtig darin war, die Wirbel des Windes vorher zu bemerken und die Fahrt aus der Sonne und einem Stern vorauszusagen.

Argo war gebaut worden, um ins Unbekannte aufzubrechen und dann nach Hause zurückzukehren.

Sie wartete nur darauf, dass jemand bereit war, in See zu stechen.

Argo wartete auf jemanden wie Jason.

Aus Angst vor dem, was noch kein anderer vor ihm gewagt hatte, bat der Junge seine engsten Freunde um Hilfe. Und sie ließen ihn nicht im Stich.

Aus ganz Griechenland kamen ihm fünfzig Männer zu Hilfe. Unter ihnen die beiden Dioskuren, Kastor und Pollux, die Boreas-Söhne Zetes und Kalais, mit schwarzen Flügeln an den Füßen, die mit goldenen Schuppen glänzten, der Dichter Orpheus, der Seher Mopsos, der für seine Kraft und seinen Mut berühmte Herakles.

Auch Akastos, der Sohn des übelwollenden Pelias, beschloss, nicht im Haus seines Vaters zu bleiben.

Viele Jahrhunderte später würdigte Pindar in der Vierten pythischen Ode ihren jugendlichen Mut mit rührenden Worten:

Solchen all bewegenden Trieb zu dem Kiel

Argo facht’ in den Heldenherzen

Hera an, dass keiner der Männer daheim

bei der Mutter blieb’, ein bequemes gefahrlos

Leben fristend, sondern, und sei’s um den Tod,

seines Heldenthumes Befriedigung aufsucht’

unter Jugend-Kameraden. (303–309)

Am Ufer zu bleiben, während das erste von Menschenhand gebaute Schiff in See stach, hätte bedeutet, auf immer und ewig ein Kind zu bleiben.

Wenn sie darauf verzichtet hätten, sich zu beweisen, und sei es um den Preis von Angst und Schmerz, hätten sie ihr Leben wie Idioten vergeudet – ein eintöniges Leben, wie ungesalzenes Brot.

Sie wären nie erwachsen, sondern gleich alt geworden, ihre geschmeidigen Muskeln wären von der Wiederholung der ewig gleichen Schritte, der ewig gleichen Gesten schwach geworden.

Alle diese jungen Männer waren entschlossen, die Kraft zu entdecken, die man braucht, um erwachsen zu werden. Aufgrund ihres Elans stachen sie schimmernd wie die Sterne aus den Wolken hervor. So beschreibt Apollonios von Rhodos die Schönheit, die der Mut zum Aufbruch verleiht.

Manche wussten bereits aus dem Mund des Orakels, dass sie nicht nach Hause zurückkehren und auf der Irrfahrt über ferne Meere sterben würden. Doch sie entschieden sich trotzdem dafür, mitzufahren, anstatt auf immer kleine Kinder zu bleiben. Alle entschieden sich dafür, Helden zu sein.

Keiner von ihnen war bereits ein Held, sie waren allenfalls Halbgötter, Söhne eines Gottes und einer Sterblichen.

In der Antike gab es keinen unbestrittenen Heldenstatus, ἥρως (héros = Held) zu sein, war keine Gegebenheit: Tapferkeit, Kraft, Tugend, List mussten erworben und öffentlich unter Beweis gestellt werden. Die Herkunft, der gesellschaftliche Stand, die Vaterstadt, waren ohne Bedeutung: Man kam nicht als Held zur Welt.

Man entschied sich vielmehr dafür, ein Held zu werden, indem man eine Reihe von Aufgaben bewältigte, deren höchstes Ziel darin bestand, anderen zu helfen – das Unbekannte bekannt zu machen, dafür zu sorgen, dass eine Überfahrt möglich wurde, weil sie schon jemand gewagt hatte.

Das Heldenhafte bestand in der Erfahrung der Selbstüberwindung, nicht im Ergebnis.

Scheitern zählte nicht: Held war nicht der, der den Sieg davontrug, sondern der, der es zumindest versucht hatte. Wir erinnern uns an die Tapferkeit Hektors und Achills vor den Mauern Trojas, nicht an ihre Niederlage. Der Ruhm, für den sie kämpften, hat sie über ihren Tod hinaus unsterblich, auf immer zu Helden gemacht.

Held war, wer die Herausforderung annahm, sich an etwas zu messen, das größer war als er selbst, um auf immer groß zu sein.

Fragwürdig, aber bestechend ist die Etymologie des Wortes heros, die Platon im Kratylos entwirft. Dem Philosophen zufolge ist derἔρως (eros) – die Liebe – die Kraft, die die Menschen dazu bringt, ἥρως (heros) – Held – zu werden. Die beiden schönen altgriechischen Worte unterscheiden sich nur aufgrund der Länge des Vokals.

Vor seinem Aufbruch war Jason noch nie verliebt gewesen.

Eine Menge Volk lief im Hafen zusammen, um die Schar der mutigen Männer zu bewundern, und die Frauen hoben die Hände zu den Unsterblichen im Himmel und beteten, sie möchten ihnen eine glückliche Heimkehr gewähren.

Ihr Name wurde in jeder Straße der Stadt gerufen.

Die jungen Männer, die bereit waren, in See zu stechen, wurden auf immer und ewig nach dem Namen des Schiffes bezeichnet, auf dem sie fuhren: Argonauten.

Süß ist der Mut des Aufbruchs, sofern man weiß, warum man sich auf die Reise macht. Und Jason redete seiner alten Mutter, deren Herz von Unheil gefesselt war und die ihn heftig weinend hielt – so wie ein Mädchen klagt –, mit freundlichen Worten zu.

Ihre Angst war so groß, dass sie gar nicht alle ihre Tränen weinen konnte.

Dabei fürchtete seine Mutter Alkimedes nicht die Gefahren der Seefahrt. Sie fürchtete eine noch größere Gefahr: die Sehnsucht.

Sie fürchtete, vor Sehnsucht nach dem geliebten fernen Sohn zu sterben, bevor er zurückkehrte – jede Mutter empfindet diese Angst, wenn ihr Sohn zum ersten Mal das Haus verlässt, und sei es auch nur für eine Nacht.

Doch auch der Vater weinte.

Jason tröstete die Eltern, doch er ließ sich nicht von ihrer Traurigkeit erpressen. Er ließ sich nicht umstimmen, sagte vielmehr zu seiner Mutter.

Um meinetwillen! Belaste dich nicht, Mutter, so im Übermaß mit elenden Qualen! Denn du wirst mich nicht durch Tränen vom Unheil zurückhalten, sondern wirst sogar noch zu Schmerzen Schmerz erwerben. Unsichtbar verhängnisvolle Leiden teilen nämlich die Götter den Sterblichen zu; einen Teil davon – magst du auch beklommen sein – im Gemüt zu ertragen, gewinne dennoch über dich!

So trennte er sich zum ersten Mal von der Familie, bereit, aufzubrechen, um sie zu retten – und um all jene Lügen zu strafen, die sagten, er würde es nie schaffen.

Er würde beweisen, dass sie sich irrten, dass keine Reise ins Ungewisse unmöglich ist, solange man das Ziel kennt.

Und er wusste, wohin er die Argo führen musste: ins ferne Kolchis, auf der Suche nach dem Goldenen Vlies, dem magischen Widderfell, von dem alle schon gehört hatten, das aber noch keiner gesehen hatte.

Noch kannte er die Route nicht, die er nehmen musste, doch das war egal.

Das andere, was für ein Schiff zugerüstet werden muss, liegt ja alles wohl geordnet bereit für uns, die wir uns nun aufmachen. Also wollen wir darob die Schifffahrt nicht lange aufschieben.

Und Jason machte sich als Erster ans Werk, befestigte die Segel am Mast, umgürtete das Schiff mit einem Tau und legte dieses auf einen Felsen von Iolkos, der längst blank gespült war.

Die Freunde taten es ihm gleich.

Und abwechselnd […] stemmten [sie] zugleich Brust und Hände dagegen. Und hinein schritt also Tiphys, damit er die jungen Männer antreibe, im richtigen Moment zu ziehen.

Die Argo war bereit und mit ihr die Argonauten.

Und zum ersten Mal in der Geschichte des Menschen sollte ein Schiff ins Meer gleiten.

Das Meer, die Liebe, der Mut aufzubrechen

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