Читать книгу Das Meer, die Liebe, der Mut aufzubrechen - Andrea Marcolongo - Страница 11

Zeit auszulaufen

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Wenn alles wie am Schnürchen klappt, wenn alles bereit ist und die Fracht auf dem Rettungsboot gut verteilt ist, gibt es keinen Grund mehr, einen Rettungsring zu tragen. Werfen Sie ihn auf den Boden des Bootes und vergessen Sie ihn.

Laufen Sie aus.

Aber als die glänzende Eos* mit schimmernden Augen die steilen Kuppen des Pelion erblickte und die Klippen unter heiterem Himmel im Wind bespült wurden, weil die Salzflut in Bewegung ivar, da nun erwachte Tiphys.

Und sofort trieb er die Gefährten an, das Schiff zu besteigen. Es war Zeit auszulaufen.

Gewaltige Schreie erhoben sich im Hafen, und auch die Argo jubelte: Denn in sie war ein göttlicher sprechender Stamm aus der Dodonischen Eiche eingefügt, den Athene in der Mitte des Vorderstevens eingepasst hatte, um den jungen Männern die Einsamkeit der Schifffahrt erträglicher zu machen.

Die Argonauten nahmen ihren Platz an den Rudern ein. In der Mitte saß der mächtige Herakles, neben sich hatte er seine Keule gelegt. Und unter seinem Gewicht tauchte der Rumpf des Schiffes etwas tiefer ein.

Der Stapellauf eines Schiffes ist ein einzigartiger Augenblick: Sobald das Schiff zum ersten Mal das Salzwasser berührt, die Anker gelichtet sind, hat es seine Jungfräulichkeit verloren und wird auf immer zur See fahren.

Veränderungen müssen gebührend gefeiert werden, alles andere wäre Verrat oder Gleichgültigkeit.

Die Argo wurde dank ihnen erwachsen, erfüllte ihre Aufgabe, und die jungen Männer feierten ihren Übergang vom Land ins Meer. Manche träufelten reinen Wein ins Wasser, andere sangen zum Klang von Orpheus’ Leier.

Endlich stach die Argo in See.

Und durch den Schaum quoll hier und dort die schwarze Salzflut herauf, schrecklich wogend durch die Kraft der starken, mächtigen Männer. Und es blitzte unter der Sonne, einer Flamme gleich, das Gerät des fahrenden Schiffes. Und lange Wege zogen sich stets weißhin, wie ein Pfad, der sich durch eine grüne Ebene hindurch abzeichnet.

Auch die Götter schauten an jenem Tag vom Himmel auf das Schiff, das davor noch nie das Meer befahren hatte, und auf die halbgöttlichen Männer, die es mit eigenen Händen steuerten. Und auch die Nymphen staunten und seufzten fasziniert.

Ein hell sausender Fahrtwind fiel in das Segel und Argo nahm rasch Fahrt auf.

Alle Argonauten schauten kühn nach vorne, in Richtung der Häfen, die sie noch nicht sahen und nicht kannten, trunken vor Mut und vor Lust auf das Unbekannte.

Nur Jason, ihr Anführer, gestattete sich einen Augenblick der Trauer. In der Antike galt Weinen nicht als Schwäche, sondern als menschliche, wenn nicht gar heroische Geste.

Angst und Heimweh übermannten ihn: Würde er je nach Hause zurückkehren?

Aber Iason wandte unter Tränen seine Augen von seinem Vaterland ab.

Oft sind Tränen das beste Mittel, um sich auf das Neue vorzubereiten.

Egal ob Freuden- oder Schmerzenstränen, sie retten uns oft das Leben. Denn Tränen verschleiern den Blick und verhüllen so einen Augenblick lang den Anblick dessen, was man für immer verliert. Die Augen sehen nicht mehr den Verlust und verhindern so die Gefahr des Bedauerns, die Versuchung zu verzichten.

Doch wenn die Augen wieder trocken sind und man sie wieder aufschlägt, erblicken sie das, was man ohne Aufschub vollbracht hat, was vor einem liegt wie ein noch nie gesehenes Gemälde.

Wir sollten uns gestatten, öfter zu weinen: Weinen hilft, sich nicht umzublicken, es hilft, mit geschlossenen Augen ins eigene Innere zu blicken und dann mit geöffneten Augen nach vorne zu schauen.

Der Drang zur Veränderung, die Kraft zu entscheiden, der Mut zu lieben, die ehrenhafte Treue, vor allem zu sich selbst, die Fähigkeit, von sich zu sprechen: All das erlaubt dem Menschen in jeder Epoche, das Leben voll auszukosten und in Würde zu leben.

Tag für Tag, bis zum letzten, empfinden wir diesen Schauer.

Wir sollten jubeln, denn das ist der einzige unwiderlegbare Beweis, dass wir am Leben sind.

Und dass wir auf der Welt sind, um etwas Großes zu vollbringen, dessen Maßstab einzig und allein wir selbst sind.

Diese Aufregung empfinden wir seit unserer Kindheit, seit dem ersten Schultag, den wir nie ganz vergessen haben. Bei der Erinnerung daran empfinden wir unendliche Zärtlichkeit für das körnige Bild, auf dem wir sorgfältig frisiert auf der Schwelle stehen, bereit, vielfältigste Gefühle zu entdecken und sie alle gleichzeitig zu empfinden.

Man will unbedingt wissen, welche Bank man zugewiesen bekommt, man ist neugierig auf die Klassenkameraden, man hat Angst vor der Lehrerin, man ist für ein paar Stunden vom wachsamen Blick der Eltern befreit, man fürchtet sich vor dem Urteil der anderen, hofft, einen Freund zu finden – den besten Freund für den Rest des Lebens.

Wenn wir so zum ersten Mal allein in der Welt stehen, ergreift uns ein Schauder. Dieses Schaudern werden wir bei allen anderen unvorhergesehenen und überraschenden ersten Malen immer wieder empfinden – von dem Moment, wo wir das erste Mal das Klassenzimmer der ländlichen Volksschule betreten, bis zur Einschreibung an der Universität der großen Stadt, wenn wir nach vielen Bewerbungsgesprächen endlich in einem Büro arbeiten, bis wir uns plötzlich in jemanden verlieben, den wir erst einmal am Abend gesehen haben und unbedingt wiedersehen wollen.

Das ist die trunken machende Aufgabe, die man uns gegeben hat und die nur wir lösen können: uns selbst kennenzulernen und dafür zu sorgen, dass die anderen uns kennenlernen.

Doch je älter wir werden, desto komplizierter werden die Dinge, die Beziehungen werden komplexer, die Verantwortung wächst, die Wünsche werden größer, die Leidenschaften außergewöhnlicher – wir sind nicht mehr wie alle anderen in unserer Umgebung, wir haben Entscheidungen für uns getroffen und festgestellt, dass jeder von uns auf seine Weise seltsam ist.

Und so weisen wir aus Angst den Instinkt zurück, der uns jeden Tag – als wäre er der erste – infrage stellt, er ist nämlich immer der erste.

Wir hören lieber nicht auf ihn, tun so, als hätten wir ihn vergessen.

Du bist kein Kind mehr, sagen wir zu uns und zucken die Achseln.

Du hast ja schon genug erlebt.

Irgendwann wollen wir diesen Schauder nicht mehr spüren oder verwechseln ihn mit einem kalten Luftzug, der uns in unserem Alltagstrott stört.

Wir verschanzen uns, wappnen uns mit Ausflüchten.

Unsere Schritte werden vorhersehbar und schwer wie Schnee im Winter, bis wir nicht einmal mehr gehen.

Es geht so, antworten wir und bemerken gar nicht, dass wir rückwärts gehen.

Wir stöhnen über die Montage des Lebens, über Unerwartetes, über die ständigen ersten Male, wir sind nicht länger neugierig, wir wollen nichts Neues mehr – danke, mir geht es gut so –, wir wollen, dass jeder Tag Sonntag ist, da können wir in aller Ruhe auf unserem kleinen Sofa liegen und uns unseren Gewissheiten hingeben.

Wir laufen vor dem Instinkt zu leben davon und fordern einen Urlaub vom Leben – Urlaub, vacanza bedeutet jedoch Fernbleiben, Fehlen.

Wir bemühen uns inständig, den Ur-Instinkt des Aufbruchs zurückzuweisen.

Und am Abend sind wir zunehmend müde und leer.

Wenn wir bloß zur Kenntnis nähmen, wie viel Energie es kostet, unsere Wünsche Tag für Tag zu unterdrücken, zu lügen, nichts zu sagen, um nichts zu zeigen.

Wenn wir bloß einmal die schweren Schuhe auszögen, um barfuß zu gehen und das frisch gemähte, weiche Gras oder die sanfte Brise zu spüren.

Wenn wir bloß den Flügeln an den Füßen – die wir wie die Boreas-Söhne, die auf der Argo in See stachen, besitzen, auch wenn man sie nicht sieht – erlaubten, sich in die Lüfte zu erheben.

Wenn wir uns bloß daran erinnerten, dass wir alle einmal Argonauten waren, denen es egal war, wenn alle das ist unmöglich sagten – für uns war es nicht nur möglich, sondern eine Pflicht. Wir hatten ein Bedürfnis, wir wollten uns beweisen, um danach leben zu können.

Unzulänglichkeit: das trifft für uns alle zu, die wir Reisende ohne festgelegten Kurs sind.

Auch für dich.

Für dich, der du die Kontrolle über dein Schiff verloren hast.

Ein Sturm hat seinen Rumpf beschädigt.

Oder es ist an einem Ort gestrandet, der in deinen Karten nicht vorgesehen, nicht eingezeichnet war – jetzt kannst du nicht mehr sagen, das hängt nicht von mir ab, das ist nicht meine Schuld. Du hast zwar recht, aber es nützt nichts.

Oder du bist woanders gelandet, nicht in dem Hafen, den du dir vorgenommen hattest. Einem fremden Hafen, wo du dir immer fremd sein wirst.

Zum ersten Mal nimmst du zur Kenntnis, dass die Reise, die du unternimmst, nicht umkehrbar ist.

Sogar der große Gatsby ist gescheitert, konnte die Vergangenheit nicht zurückerobern.

Am Horizont kein Licht eines Leuchtturms.

Nicht einmal ein Fernrohr ist auf dich gerichtet.

Warum auch? Niemand kümmert sich mehr um die anderen.

Heutzutage ist der Blick nur noch nach innen gerichtet.

Ein Kurswechsel ist notwendig.

Am Bug, am Heck oder in der Mitte dringt Wasser ein. Du darfst entscheiden, wo.

Die beste Strategie, um sich für die Wirklichkeit zu rüsten, ist die Fantasie.

Aber seit allzu langer Zeit gönnst du dir nicht mehr den Luxus, dir das Unvorhergesehene vorzustellen – auf hoher See nennt sich dieser Luxus Vorsicht.

Plötzlich dringt Wasser ein, dasselbe Wasser, das du bis vor Kurzem noch lächelnd betrachtet hast, als ob es freundlich, vertraut, dein gewesen wäre.

Doch es war nicht freundlich, wie konntest du das nur glauben?

„Mir kann das nicht passieren.“

Richtig. Wahr. Sehr wahr.

Wenn du willst, kannst du weiterhin so denken, mach die Augen noch eine Zeitlang zu, atme, genieß die Reise, mach Fotos – wenn sie uns gefallen, liken wir sie mit einem Herzchen, wenn nicht, fügen wir ein weinendes Smiley hinzu, mehr können wir aus der Ferne nicht für dich tun.

Du kannst gern verleugnen, dass es im Leben U-Boote gibt, die plötzlich Torpedos abfeuern, die nicht auf deinem Radar sind – du kannst allerdings Gift darauf nehmen, dass du auf ihrem bist.

Außerdem gibt es Klippen, Untiefen, hinterhältige Strömungen, Seeungeheuer, Eisberge, die die Titanic zum Sinken gebracht haben, während das Orchester zur Katastrophe spielte.

Glatt wie Wasser. Viele verwenden diese Redewendung, allerdings nicht die Seeleute. Auch du hast diese Redewendung unendlich oft verwendet. Du hast dein Schiff mit einer Fähre verwechselt, hast wie ein Pendler gelebt, der von einem bekannten Ufer zum anderen übersetzt. Wie ein Tourist.

Jetzt liegt nur das Unbekannte vor dir.

Unbekannt, oder nicht gekannt, nicht erkannt, nicht zur Kenntnis genommen.

Die Verneinung dessen, was auf der Schwelle des Tempels von Delphi stand: γνῶϑι σαυτόν (gnothi sautön). Erkenne dich selbst. Eine Aufforderung an alle, die aus ganz Griechenland kamen, um vom Orakel eine Antwort zu bekommen. Bevor du jemand anderen zur Zukunft befragst, entdecke lieber das Einzige, was du schon weißt und was dir niemand anderer sagen kann: Erkenne dich selbst.

Zweitausend Jahre später: Wer erinnert sich an den Film Matrix?

In der Küche des Orakels befindet sich derselbe Spruch auf Latein: Temet nosce.

Er soll den „Auserwählten“, Neo, daran erinnern, dass die Selbsterkenntnis die einzige Möglichkeit ist, ein höheres Niveau zu erreichen.

Verwirrt fragt Neo, wie er wissen könne, dass er wirklich auserwählt wurde, und ob es wirklich an der Zeit sei, aufzubrechen. Das Orakel lächelt bloß: Niemand muss uns sagen, dass wir verliebt sind. Wir spüren es und aus.

Und du, was spürst du?

Wie sehr kennst du dich selbst?

Und was von dir ist dir noch unbekannt?

*Morgenröte

Das Meer, die Liebe, der Mut aufzubrechen

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