Читать книгу Wohin gehen wir, mein Herz - Andrea Popp - Страница 4
Der Aufbruch
ОглавлениеIch liebte sie, diese tiefen, magischen Wälder, die sich hinter unserem Dorf erstreckten. Sie waren meine Zufluchtsorte, meine Lehrer, meine Familie.
Ich kam immer hierher, wenn ich traurig war, mich verloren oder alleine fühlte. Mit meinen 21 Jahren hatte ich bereits viel gelernt und doch nichts im Vergleich zu dem, was es alles noch zu lernen gab.
Erinnerungen, die ich manchmal nur für Sekunden verdrängte, kamen wieder hoch. Es wurde dunkel, der erste Stern ließ sich am Himmel blicken. Ich lag im hohen Gras auf einem Hügel am Waldesrand. Meine Arme hatte ich über meinem Kopf verschränkt. Der Himmel füllte sich immer mehr mit Sternen.
Eigentlich waren die Sterne die ganze Zeit hier, nur dass wir sie tagsüber nicht sehen konnten. Vielleicht sollten wir auch nicht abgelenkt werden und uns nachts, wenn wir den Tag überstanden hatten, uns wieder daran erinnern, dass wir nicht alleine waren.
Dort war eine Sehnsucht in meinem Herzen, die nicht gestillt werden konnte, solange ich mein Land nicht verließ. Es war aber nicht nur eine, sondern so viele, dass, wenn jede Einzelne ein Stern gewesen wäre, es einer Milchstraße voller Sehnsüchte geglichen hätte. Die Sehnsucht nach jemandem, mit dem ich diese wunderschönen Momente der Einsamkeit teilen konnte, die Sehnsucht nach Antworten, nach Freiheit, nach einem Ziel vor meinen Augen, aber vor allem die Sehnsucht, auf irgendeine Weise irgendetwas Sinnvolles für diese Welt tun zu können und dazu etwas finden zu müssen, das weit entfernt war.
Die Traurigkeit all dieser Sehnsüchte in meinem Herzen fühlte sich schön an, weil ich im selben Moment wusste, dass sie eines Tages bestimmt gestillt wurden.
Ich war unendlich dankbar, all das so stark in mir fühlen zu dürfen. Mit dem Gefühl der Traurigkeit kam auch dieses unglaubliche, enorme Gefühl der Ruhe und Zufriedenheit, das ich fühlen würde, wenn der Moment da war, an dem ich dieses Etwas, von dem ich nicht wusste, was es war, gefunden hatte. Hier als Mensch auf dieser Erde, außerhalb von mir selbst musste ich mich auf eine Suche begeben und darauf vertrauen, dass mein Herz mir den richtigen Weg dorthin zeigte.
Tränen pumpte mein sensibles Herz in meine Augen, denn an diesem Tag verabschiedete ich mich für längere Zeit von meinem Wald.
Wie war es in einem anderen Land? Eine völlig andere Kultur, eine andere Sprache, wie waren die Menschen dort? Waren sie zufriedener, weil die Sonne immer schien, oder waren sie genauso unzufrieden und traurig, wie die Menschen in meinem Land? Wie waren die Wälder, oder gab es dort vielleicht einen richtigen Dschungel? Vielleicht musste man vorsichtig sein, weil es giftige Pflanzen oder gefährliche Tiere gab, aber was war überhaupt ein gefährliches Tier ? Ein Tier, das Angst vor Menschen hatte und sich zu verteidigen versuchte?
Ich war sicher, mir würde nichts passieren und ich konnte dort ebenso unbekümmert in den Wäldern umherstreunen, wie hier. Wie die Natur dort wohl duftete? Wie dort ein Sonnenuntergang aussah? Ob der Mond von dort viel größer erschien?
Die Freude, die mein Herz mir sendete, war unbeschreiblich. Neue Düfte, Geschmäcker, neue Abenteuer und Erfahrungen. Ich war so dankbar, dass ich mich mein Leben lang nie anpassen konnte, denn sonst hätte ich nicht den Mut gehabt, etwas anderes zu tun, als die anderen. Nein, ich hätte einfach nur das Gleiche getan, wie alle. Arbeiten, essen, schlafen und das Ganze immer wieder von vorne. Ich hätte mich nur auf meine freien Tage, die Wochenenden und Urlaube gefreut, nur um mir dann klar zu werden, dass ich auch an diesen Tagen, in meinen Augen nichts wirklich Sinnvolles für diese Welt tun konnte.
Meine Zukunft hing an einem seidenen Faden, denn auch meine sogenannte Pension war nicht abgesichert, wenn ich dieses Routine-Leben verweigerte.
Ich lächelte bei der Vorstellung, auch wenn meine Zukunft an einem seidenen Faden hing, war ich doch überglücklich, dass ich bis dahin nicht mit einem starken Seil gefesselt war.
Ich wollte mein Leben nicht absichern, denn ich war sicher, dass dieser dünne, seidene Faden stark genug war, denn er wurde aus Hoffnung, Vertrauen und Glaube gewebt.
Nein, ich sorgte nicht für meine Zukunft, in dem ich mein Leben lang nur zufrieden war und sehnsüchtig auf Urlaube oder freie Tage wartete. Ich sorgte für die Zukunft, indem ich für meine Gegenwart sorgte, denn ich wollte mehr als nur zufrieden sein und ich wusste auch, dass ich das nur erreichen konnte, wenn ich es schaffte, meine Berufung zu finden und herausgefunden hatte, wie ich sie in dieser Welt verwirklichen konnte.
Wenn es keinen Beruf für mich gab, der sich wie meine Bestimmung anfühlte, musste ich ihn erschaffen. Ich vertraute darauf, dass das Schicksal mich auf die richtigen Wege leitete. Ich musste vertrauen und mich leiten lassen. Alles was passierte, passierte aus einem bestimmten Grund, alles machte Sinn und ich glaubte fest daran, dass mein Leben einen ganz besonderen Sinn hatte.
Es fühlte sich gut an, so unabhängig zu sein. Auch meine Eltern standen hinter mir und als hätten sie schon mein ganzes Leben lang gewusst, dass es irgendwann dazu kommen musste, akzeptierten sie meine Entscheidung ohne sie zu hinterfragen. Sie waren glücklich, wenn sie sahen, dass ich glücklich war.
Am Flughafen in Wien verabschiedete ich mich von meinem Vater, der mich hergebracht hatte. Während einer Umarmung brachen wir beide fast in Tränen aus. Unsere Beziehung war besser geworden, aber diese Distanz war noch immer da, weil ich mich als Kind vollkommen von ihm abgeschirmt hatte. Die Umarmung tat gut und ich glaubte sogar, dass es unsere erste richtige Umarmung war. Vielleicht wollten wir deshalb weinen, weil wir dachten, dass wir uns das erste und das letzte Mal umarmten. An so etwas wollte natürlich niemand denken, aber seine Gedanken konnte man nicht kontrollieren. Ich zumindest nicht.
Ich durchquerte den Bereich, in den er nicht mehr mitkommen durfte, drehte mich ein letztes Mal um und winkte ihm lächelnd zu. Wie lange er nach meinem Verschwinden wohl noch so dastand? Es tat mir unendlich leid, ihn so zurückzulassen, denn ich wusste, dass er sich Vorwürfe machte, da er fast mein ganzes Leben verpasst hatte und keine wirkliche Chance hatte, es nachzuholen, aber dank ihm, fehlte es mir auch nie an materiellen Dingen und ich hatte immer die Freiheit, nicht unbedingt arbeiten zu müssen, um zu überleben.
Ich machte mich auf den Weg zu meinem Gate. Nun begann ein neuer Lebensabschnitt.
Die Türen des Flugzeugs wurden geschlossen. Mein Herz raste aufgeregt. Ganz kurz kam der Gedanke in mir hoch, dass ich vielleicht nur versuchte, wegzulaufen und die Sehnsucht meines Herzens als Ausrede dafür benutzte. Dieser Gedanke verschwand aber schnell wieder, denn ich wusste einfach, dass ich es tun musste und wahre Grund dafür war ein Gefühl, keine Ausrede.
»Herzlich Willkommen auf dem Flug nach Mexiko City über Frankfurt«, begrüßte der Pilot die Passagiere.
Ich konnte ein unkontrolliertes Lächeln nicht vermeiden und noch immer nicht glauben, was ich hier machte.
Ich sprach kein Wort Spanisch und saß in einem Flugzeug, das mich in ein Land brachte, in dem nur Spanisch gesprochen wurde.
In dem Au-pair Portal, in dem ich mich angemeldet hatte, erhielt ich vor drei Wochen eine Nachricht einer deutsch - mexikanischen Familie. Sie wollten unbedingt, dass ich zu ihnen nach Mexiko kam und dort ihre ein Jahr alte Tochter vier Stunden am Tag gegen Unterkunft und ein kleines Taschengeld betreute. Sie hatten dort in den Bergen ein spirituelles Rückzugszentrum aufgebaut.
Ich konnte mein Glück kaum fassen, sie mussten mich nicht lange überreden, ich sagte sofort zu.
Durch das winzige Fenster beobachtete ich die immer kleiner werdende Landschaft. Dort unten war so viel, was ich so sehr liebte, aber das ich gelernt hatte, loszulassen.
Meine Eltern, die immer für mich da waren und sich mir kein einziges Mal in den Weg gestellt hatten, meine kleine Schwester, die böse auf mich war, weil ich sie alleine zurückließ, mein Bruder, der sein Leben lebte und mit dem ich schon fast fünf Jahre keine Worte außer »Hallo« und »Tschüss« gewechselt hatte. Meine liebste Freundin, die auf eine ganz andere Weise Teil meiner Familie war. Wie sehr ich mir oft diese Zeit zurückwünschte, um jede Sekunde noch einmal ganz langsam und intensiv zu genießen. Ich hätte viel dafür gegeben, nur einmal noch so Lachen zu können, dass mir danach tagelang die Bauchmuskeln wehtaten.
Dann war da noch jemand, den ich liebte und der es bis heute noch nicht mal wusste. Doch alles, was ich tun konnte, war zu hoffen, dass all diese Seelen auf ihrer Reise glücklich waren, auch ohne meine körperliche Anwesenheit.
Die Erinnerung an alles, was ich so sehr liebte und jetzt zurückließ, löste etwas schmerzlich Schönes in mir aus, denn der Schmerz war ein Gefühl, für das ich dankbar sein musste. Es konnte ein schöner Prozess sein, wenn man diese Lerneinheiten des Lebens zu schätzen wusste.
Alles, was ich liebte, war immer bei mir, erinnerte ich mich. Es gab keine Trennung und schon gar keine Entfernung. Die Liebe war überall und man konnte sie nicht verlieren. Das Leben würde mich immer wieder daran erinnern, wenn ich es für kurze Momente wieder vergaß. Doch es in die Tat umzusetzen war schwieriger, als es nur zu wissen und deshalb tat es noch immer weh, obwohl ich wusste, dass ich das einzig Richtige machte.
Ich musste sie zurücklassen und jetzt mein Leben leben. Ich musste mich auf diese Reise begeben. Auf die Suche, nach dem Warum.
Warum hatte mein Schicksal mich in dieses Flugzeug gesetzt? Ich konnte es kaum erwarten, es herauszufinden.
Wann kam der große Moment, der es mich einfach wissen ließ. Ich es fühlte, fühlte, dass es das war, was ich gesucht hatte. Das es war, was ich finden musste. Das ich endlich angekommen war.
Nach 18 Stunden Flug und einmal umsteigen landeten wir endlich in Mexiko City. Ich war erleichtert und zur gleichen Zeit nervös, denn ich hatte mit dieser Familie in Mexiko zwar auf Skype eine Videounterhaltung geführt, aber schon wieder vergessen, wie sie aussahen.
Ich erinnerte mich kurz an meine Lehre im Baumarkt, als mich die Kunden etwas fragten, ich danach zu einem Mitarbeiter ging, um die Information einzuholen und als ich den Kunden dann wieder suchte, nicht mehr wusste, welcher es war. Gesichter Erkennung war nach wie vor nicht meine Stärke.
Auf den Gängen am Flughafen gab es jede Menge Sicherheitspersonal. Sie hielten enorme Maschinengewehre in ihren Händen. Ihre Hautfarbe war dunkel, etwas rötlich, aber nicht, weil sie an Sonnenbrand litten, sondern weil es nun mal ihre natürliche Hautfarbe war. Sie hatten trotz ihrer angsteinflößenden Uniform, dieses unwiderstehliche, positive Strahlen in ihrem Gesicht. Es gab keinen, der mich nicht herzlich anlächelte und mit dem Kopf nickte. Ihr freundliches Wesen löste so viel Freude in meinem Herzen aus, ich war das wirklich nicht gewohnt von den Menschen in meinem Land.
Ich fühlte etwas in mir, das ich schon lange nicht mehr gefühlt hatte. Das Gefühl, richtig zu sein. Zuhause angekommen zu sein. Es erleichterte mich ungemein.
Ich erwiderte ihr Lächeln und musste dabei schon fast richtig lachen, so verrückt fühlte es sich an.
Ich verstand zwar kein Wort, konnte mir gerade noch zusammenreimen, dass „Hola“ „Hallo“ bedeuten musste, aber ich mochte die Mexikaner jetzt schon. Ich wusste jetzt schon, dass es ein Riesenspaß werden würde, mich mit ihnen mit Händen und Füßen zu unterhalten.
Ich kannte nichts von dieser Welt, alles, was jetzt auf mich zukam, waren neue Erfahrungen und ich war so dankbar dafür, denn seitdem dieser Druck auf mir lastete, einen Job finden zu müssen, nur um mich irgendwie nützlich zu fühlen, spürte ich sofort, dass es nicht das Leben war, was ich wollte. Ich wollte nicht mein ganzes Leben lang meine Zeit gegen Geld eintauschen, um irgendwann endlich von meiner Pension leben zu können. Und wie lange, wenn mich das Leben die ganzen Jahre über aussaugte? Ich wäre nicht stark genug gewesen, um dies zu verhindern. Aber ich wusste auch, dass ich etwas anderes tun musste. Es war nicht meine Bestimmung. Vielleicht war es die Bestimmung vieler anderer, vielleicht war es für sie ok und fühlte sich gut an. Aber nicht für mich. Ich wollte mehr als das, immer schon.
Das Geräusch des Stempels, der auf meinen Pass gedrückt wurde, klang herrlich. Ich durfte sechs Monate lang bleiben und wenn meine Zeit auslief, konnte ich laut Anna, meiner neuen Arbeit- und Unterkunft Geberin, eine Woche in Guatemala Urlaub machen, bei der Rückreise nach Mexiko würde ich weitere sechs Monate Touristenvisum bekommen.
Ich erkannte sofort jede Menge Leute mit Schildern, die auf jemanden warteten, den sie offensichtlich nicht kannten. Der Anblick amüsierte mich, denn ich dachte eigentlich, dass es sowas nur in den Filmen gab. Ich kannte die Welt ja bisher auch nur von Filmen.
Ob mein Name wohl auch auf einem dieser Schilder stand?
Ich fand ihn nicht, setzte ich mich auf eine Bank, wartete und beobachtete die Menschen. Ich erinnerte mich bei Gott nicht an die Gesichter der Familie und hatte keinen Schimmer mehr, wie diese Leute überhaupt aussahen.
Ich konnte nur hoffen, dass sie mich erkannten, sobald sie mich sahen.
Was aber, wenn es sie gar nicht gab und es nur ein Scherz war, wenn es Entführer waren?
Ich vertraute so sehr auf meinen Schutzengel und mein Herz, die mich dorthin führten, wohin ich ankommen sollte, dass kein einziger negativer Gedanke es bisher geschafft hatte, zu mir durchzudringen. Ich musste weiterhin vertrauen, also tat ich das auch.
Ich weiß nicht, warum Hoffe nur auf ein Zeichen in deinen Augen Das mir sagt, Bleib
Und doch weiß ich, ich würde nicht bleiben
Sondern mich auf die Suche begeben
Immer suchend
aber zu blind um es zu sehen Du warst immer da, genau neben mir Ich gehe und sage auf Wiedersehen
ich werde es niemals vergessen ich glaube noch immer daran
dass eines Tages dieses Wunder geschieht
Wo kann ich hingehen, damit du mich findest Was muss ich tun, damit du mich fühlst
Was kann ich tun, um dich zu halten
So weit weg und doch so nah Und ich weiß, du bist bei mir
Du warst schon immer da Finde zu mir eines Tages
Wenn du bereit für ein Wunder bist
Warte ich auf dich Und wir
wir werden einen Weg finden
wenn unsere Zeit kommt