Читать книгу Wohin gehen wir, mein Herz - Andrea Popp - Страница 5
Empfangsbeben
ОглавлениеEine halbe Stunde war bereits vergangen, noch immer beobachtete ich die Leute in der Hoffnung, ein bekanntes Gesicht zu erkennen, da sprach mich plötzlich ein Mann von der Seite an. Ja, das war der von dem Video!
Als ich ihn sah, fragte ich mich, wie ich diese Erscheinung vergessen konnte. Fernando, der Familienvater hatte graue lange Haare zu einem Zopf geflochten. Sein Aussehen erinnerte mich an einen alten Indianer, obwohl seine Hautfarbe eigentlich viel zu hell dafür war.
»Wie geht es dir? Wie war der Flug? Alles O.k.?«, fragte er, auf Englisch, da er als Mexikaner kein Deutsch und ich kein Spanisch verstand. Der sympathische Mann nahm mir meinen Rucksack ab und ich watschelte wie ein verlorenes Küken hinterher.
Als wir das Flughafengebäude verließen, kam eine Hitzewelle auf mich zu, wie ich sie noch nie zuvor gespürt hatte. Es war bereits 18:30 Uhr. Wie konnte es um diese Zeit noch so heiß sein? Diese Hitze empfand ich aber als so angenehm, dass ich schon wieder ein Lächeln im Gesicht hatte. Ja, hier könnte ich mich wohl fühlen.
Wir stiegen in sein Auto und fuhren los. Erst als ein kurzes Schweigen entstand, dachte ich wieder darüber nach, dass er auch ein Entführer sein konnte und alles nur gespielt war. Auch die deutsche Frau hätte eine von ihnen sein können, um europäische, hübsche und leichtgläubige Mädchen anzulocken. Sogar die Kinder, die im Video mit dabei waren, hätten sie nur als Tarnung dazu holen können. Verrückterweise dachte ich jetzt sogar, dass auch, wenn es so war, es ebenso sein sollte. Es machte mich nicht nervös, diese Gedanken zu denken, im Gegenteil, ich vertraute so sehr darauf, dass ich geführt wurde, und alles was geschah nur dazu diente, um endlich anzukommen.
Wir parkten vor einem Restaurant, in dem ich nun die ganze Familie kennenlernte. Natalie, seine achtjährige Tochter, Tobias, ein sechs jähriger Junge, Alma, das Baby, auf das ich hauptsächlich aufpassen würde und Anna, die Mutter, die ursprünglich aus Deutschland kam. Natalie sprach relativ gut Deutsch, jedoch mit Akzent, ihr kleiner Bruder beherrschte die Sprache, wie der Vater, gar nicht oder kaum.
Alles schien eigentlich ziemlich normal. Die Familie war freundlich und echt, das erkannte ich sofort. Obwohl sie auch eine echte Familie sein konnten, die ein Spiel spielten. Ich versuchte, diese dummen Gedanken innerlich, darüber lächelnd, wegzudrängen und das Abendessen zu genießen, obwohl ich überhaupt keinen Hunger hatte und nur noch ins Bett wollte.
Wir übernachteten in der Wohnung von Fernandos Eltern in Mexiko City, da wir morgen früh für ein paar Tage nach Acapulco an den Strand fahren würden und es von hier aus näher war. Man hörte noch immer die Polizeisirenen. Außerdem war die restliche Lautstärke auf der Straße keinesfalls mit der Stille in meinem Dorf zu vergleichen.
Auf dem Weg in die Wohnung erfuhr ich, dass die Polizei die Lichter und Sirenen die ganze Zeit über eingeschaltet lassen durfte, nur um auf ihre Anwesenheit aufmerksam zu machen. Ich dachte schon, es gäbe die ganze Zeit Einsätze, und schon erinnere ich mich auch an einige naive Aussagen von Bekannten, dass Mexiko gefährlich war. Das einzige, was ich als gefährlich betrachtete, war in der Routine des langweiligen Lebens, das sie alle lebten, überleben zu müssen.
Noch immer zweifelte ich nicht daran, dass die Entscheidung, hierherzukommen, die richtige war und langsam schlief ich ruhig und zufrieden im leisen Wiegenlied der Polizeisirenen ein.
Zum Frühstück fand ich die Familie und einen vollgedeckten Tisch, mit allen möglichen Köstlichkeiten vor. Es gab sogar einen Angestellten, der uns alles brachte, sich um alle Arbeiten und den Haushalt kümmerte. Ein echter Diener, ich dachte, sowas gabs auch nur in den Filmen.
Die lange Fahrt zum Strand war wie ein interessanter Kinofilm für mich. Ich betrachtete die vorbeiziehende Landschaft. Mal durchquerten wir Wüstengebiete, dann wurde es wieder tropischer. Auf den Straßen standen Leute, die etwas verkauften, neben einigen knochigen Straßenhunden, gab es sogar Esel, Pferde und Kühe, die einfach so über die Straßen spazierten, als würden sie niemandem gehören.
Jedes Mal, wenn ich das Fenster runterließ, strömte diese angenehme Hitze wieder auf meinen Körper. Ich liebte diese Wärme. Schade nur, dass die anderen die Kälte im Auto bevorzugten und mir aufgrund der übertrieben kalten Klimaanlage schon wieder die Nase lief.
Wir blieben nach ca. einer Stunde Fahrt vor einer großen Halle stehen. Ich wusste nicht, was wir dort machten, aber folgte den anderen einfach. In der Halle gab es viele Heurigen- Tische und Bänke. Es roch nach Essen. Es war wohl eine Art Gasthaus.
Wir wurden von den Leuten angestarrt, als wir einen leeren Tisch suchten und uns dann setzten. Ich wusste nicht, was ich bestellen sollte, weil ich nichts, was auf der Speisekarte stand, kannte oder verstand.
Ich überließ Anna die Entscheidung. Sie bestellte mehrere verschiedene Speisen für alle zusammen. Wir mussten uns aber, bevor wir aßen, die Hände desinfizieren. Obwohl ich kein Sauberkeitsfanatiker war, ließ ich mich von den Kindern zum Waschbecken führen. Ich wollte nicht die Schuld einer Diskussion sein, in welcher die Kinder ihren Eltern mitteilten, dass es mir nicht wichtig war, und ihnen deshalb auch nicht mehr.
Ich freute mich darauf, neue Geschmäcker auszuprobieren, aber von dem, was auf dem Tisch landete, schmeckte mir nichts, weil es irgendwie alles nach Nichts schmeckte und ich aß nur widerwillig, weil ich irgendetwas essen musste.
Die Leute glotzten schon seit wir die Halle betreten hatten, ohne Scham die ganze Zeit zu uns rüber. Musste wohl an den langen hellbraunen Haaren von Anna und Natalie, an dem blonden Baby und uns allen liegen, die wir sehr hellhäutig im Vergleich zu den ganzen dunkelhäutigen Mexikanern waren. Irgendwie wirkten wir sogar schick angezogen, wenn ich die Menschen um mich herum betrachtete. Einige hatten Löcher in ihrer Kleidung, andere sahen so aus, als hätten sie sich schon ewig nicht mehr gewaschen. Ich fühlte mich etwas unwohl, wenn ich daran dachte, dass sie dachten, wir würden denken, dass wir etwas Besseres waren, als sie. Immerhin hatten wir uns auch als einzige unsere Hände desinfiziert.
Das Hotel, in dem wir nach zwei weiteren Stunden Fahrt ankamen, war mit Abstand der luxuriöseste Ort, den ich je betrat. Natürlich aber die Art von Luxus, die die meisten Menschen kannten, ohne dabei einen einsamen, bequemen Strohballen am Feld unter dem Sternenhimmel oder die Ruhe eines Waldes miteinzubeziehen. Schon das Restaurant gestern Abend in Mexiko-Stadt war so vornehm. Ich fühlte mich etwas unwohl an diesen Orten, weil ich das Gefühl hatte, nicht ganz reinzupassen.
Am selben Tag noch begann ich mich mit Alma anzufreunden. Die Kleine krabbelte mir hinterher und gab mir den Namen: »Didl Didl Di«.
Vor dem Schlafengehen beobachtete ich den Sonnen-untergang von meinem Zimmer im zwölften Stock aus. Die ganze Wand bestand aus einem einzigen Glasfenster. Die Aussicht raubte mir den Atem. Ich sah nicht den Strand, sondern das Ende der Stadt und den Anfang eines enormen Palmenwaldes. Die Sonne tauchte den Himmel in ein zartes Gelb - Orange und ich verspürte wieder diese schöne Sehnsucht in mir, die mich wissen ließ, dass ich meinem Ziel näher war, als je zuvor.
Ich konnte die erste Nacht nicht schlafen, verließ das Hotel und ging barfuß draußen am Stadtrand spazieren. Einige Arbeiter gossen dort die Pflanzen vor den benachbarten Hotelanlagen, begrüßten mich mit einem freundlichen »Hola!« und wollten mit mir ein Gespräch beginnen. Ich ärgerte mich, dass ich nichts verstand und konnte mich noch nicht einmal dafür auf Spanisch entschuldigen, aber trotzdem freute ich mich riesig darüber. Ich fühlte mich hier, unter so vielen fremdem Menschen schon mehr zu Hause, als jemals in meinem eigenen Land.
Zum Frühstück gab es Hummer, Meeresfrüchte, Obst, Gemüse und frisches Gebäck. Ich griff mir aber nur ein bisschen was von dem Obst und wurde darauf aufmerksam gemacht, die Schale meines Apfels nicht mitzuessen, weil man nie wusste, wer das schon aller in der Hand hatte. Es war mir ehrlich gesagt egal, aber um keinen negativen Eindruck zu machen, tat ich ihnen den Gefallen.
Hauptsache ich musste nicht meine Hände desinfizieren. Ich versuchte, dankbar zu sein, denn ich wusste auch, dass mein Immunsystem um vieles resistenter sein musste, als das dieser Menschen.
Da die Hotelmitarbeiter meinen nächtlichen Spaziergang heute Morgen schon gepetzt hatten, bat mich Anna, zu meiner eigenen Sicherheit, nachts nur in der Nähe des Hotels an den Strand und nicht auf die Straße und in die Stadt zu gehen, denn Mexiko war nicht wie Österreich.
Ich nickte nur, sagte ihr nicht, dass ich das selbst schon bemerkt hatte und es genau der Grund war, warum ich es so liebte.
Trotzdem ging ich in der nächsten Nacht wieder eine Runde am Stadtrand, ich versuchte den Strand, aber er reizte mich nicht, er war überall gleich langweilig, egal in welchem Land.
Annas Warnhinweise gingen mir durch den Kopf und lösten ungewollt einen Hauch von Unsicherheit in mir aus, den ich versuchte, wegzudrängen oder in Adrenalin umzuwandeln, um mein Abenteuer noch viel spannender zu gestalten. Schon wieder wurde mir etwas in meinen Kopf gepflanzt, das ich dort gar nicht haben wollte.
In der dritten Nacht wachte ich irgendwann auf und konnte nicht wieder einschlafen. Ich stellte mich vor das riesige Fenster, starrte in den wolkenbedeckten Himmel. Fünf Minuten später bewegte sich plötzlich der Boden unter meinen Füßen. Ich erlebte gerade das erste richtige Erdbeben meines Lebens und das schon am dritten Tag meiner Abenteuerreise.
Abenteuer konnte man es jetzt wirklich schon nennen. Ich hatte keine Angst, als das ganze Hotel zu wackeln begann und auch nicht, als die Kinder aufgeregt in mein Zimmer platzten und mit mir zusammen ins Zimmer ihrer Eltern liefen, wo sie dann ängstlich unter die Bettdecke krochen.
Ich konnte ihre Angst nicht nachempfinden, denn ich fand das alles einfach nur spannend und aufregend. Ich musste versuchen, das Grinsen in meinem Gesicht zu unterdrücken, um nicht total gestört zu wirken.
Ich wusste, ich war aus einem bestimmten Grund hier, und der war nicht, heute zu sterben.
Das Beben legte sich, ich ging wieder in mein Bett und stieß dabei eine dezente, leise Lachattacke aus. Schön, dass hier wenigstens überhaupt irgendetwas Spannendes passierte. Das war genau das, was mir in meinem Leben immer fehlte.
Am nächsten Morgen packten wir schon unsere Sachen, denn die Kinder hatten Angst vor einem möglichen Tsunami. Endlich fuhren wir nach »Chalma«. Ich konnte es gar nicht erwarten, mein neues Zuhause kennenzulernen.
Das Schütteln des Autos weckte mich Stunden später. Es war bereits dunkel, ich drückte mein Gesicht ans Fenster und versuchte, irgendetwas zu erkennen. Wir befanden uns auf einem erdigen, matschigen, unebenen Weg, der wahrscheinlich gar nicht für Autos gedacht war. Mit dem Geländewagen war es aber kein Problem.
Ich konnte kaum was erkennen, aber aufgrund dieses Weges und der extremen Dunkelheit musste dieser Ort sehr weit weg von der Zivilisation liegen. Pflanzen und Blätter streiften den Wagen von beiden Seiten. Der Weg führte in ein Gelände und durch Gras, auf dem wir letzten Endes auch parkten.
Ich öffnete die Autotür und vernahm sogleich ein so süßes Aroma, das mich von Kopf bis Fuß durchdrang und meinen Körper als ganzen elektrisierte. Fernando bat mich, ihm zu folgen, wobei ich immer wieder über Wurzeln und Steine stolperte. Der unebene, schmale Weg war nicht sichtbar in der Dunkelheit und ich versuchte, nur dem Licht der winzigen Taschenlampe in Fernandos Hand vor mir zu folgen, ohne dauernd hinzufallen. Immer wieder wurde ich von Blättern und Ästen ins Gesicht gepeitscht und konnte dabei vor lauter Freude in meinem Herzen nur noch wie eine Verrückte leise lachen, während ich versuchte, das Grünzeug mit meinen vorantastenden Händen beiseitezuschieben. Es war so aufregend!
Auch im Haus angekommen, gab es kein Licht. Die Familie schief in einem anderen Gebäude und da die Unterkunft, die für mich gedacht war, mitten in der Nacht zu schwer zu erreichen war, sollte ich heute hier schlafen.
Ich dachte kurz darüber nach, mit der Taschenlampe, die Fernando, nachdem er verschwunden war, dagelassen hatte, noch einmal hinauszugehen, um die Gegend zu erkunden, hielt es aber dann doch nicht für so eine gute Idee, also sah ich mich nur noch etwas in dem Gebäude um, in dem ich mich befand.
Vom Schlafzimmer tastete ich mich hinüber in ein großes Zimmer, dessen Wand auch nur aus Glas bestand. Mit dem Licht der Taschenlampe konnte ich nicht viel mehr als meine eigene Spiegelung erkennen.
Im Raum gab es einen großen roten Teppich. An der Wand hingen Traumfänger, davor stand eine große Trommel. Es roch nach Räucherstäbchen. Sonst gab es hier nicht mehr, nur diesen Raum, das Schlafzimmer und das Büro, durch das wir gekommen waren. Draußen sangen die Grillen ihre Lieder und obwohl ich nichts sehen konnte, fühle ich, dass die Natur, die mich umgab, gigantisch sein musste. Ich legte mich ins Bett und versuchte einzuschlafen. Als es immer leiser wurde, hörte ich plötzlich Trommelschläge.
Für einen kurzen Moment schien es so, als würde mein Herz kurz innehalten, um sicherzugehen, dass das wirklich kein Traum war und dort draußen im Dschungel mitten in der Nacht wirklich jemand auf eine Trommel schlug.
Mein Magen fühlte sich seltsam an, ich musste mir eingestehen, dass ich noch nie auf diese Art und Weise so wunschlos glücklich war. Der einzige Wunsch, den ich und mein Herz gerade hatten, uns raus ins Abenteuer zu stürzen und den Trommelschlägen zu folgen.
In meinem Bauch tummelten sich Flugzeuge und Schmetterlinge. Ich wusste gar nicht, wie ich mit diesem Glücksgefühl und dieser Freiheit, die sich in mir ausbreitete, umgehen konnte, denn all das war für mich irgendwie ganz neu.
Ich konnte es kaum erwarten, meine neue Heimat endlich zu erkunden, musste aber dafür noch ein paar Stunden warten. Die letzten Jahre waren langweilig, wenn ich sie mit diesem neuen Abenteuer hier verglich.
Ich vermisste und bereute überhaupt nichts. Mit einem Lächeln im Gesicht schlief ich nach stundenlangem Gefühlschaos irgendwann ein.
Das ist meine Zeit, um frei zu sein meinem Herzen folgend