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Kapitel 4
ОглавлениеSantiago de Compostela glich einem Irrenhaus.
Es dauerte eine Weile, bis ich es begriff: Am Straßenrand zu parken, konnte ich vergessen, es gab einfach keine freien Parkplätze, nirgends – schon gar keine, in die der Bus mit Anhänger gepasst hätte.
Und ich dachte, die kämen hier alle zu Fuß hin! Jakobsweg. Pilgern! Nicht fahren!
Falsch gedacht.
„Lass uns mal den Wohnmobilstellplatz anfahren“, schlug Schorschi vor. Er wies auf ein Hinweisschild und beugte sich dabei zwischen mir und Lisbeth nach vorne. Kaum hatte er den Kopf auf meiner Höhe, nieste er.
„Entschuldigung“, nuschelte er, drehte sich wieder weg und zog dabei geräuschvoll die Nase hoch.
„Hier, ein Taschentuch“, hörte ich Sonja.
„Gib mir auch mal eins“, bat Bea und nieste ebenfalls.
„Au weia, geht das jetzt von vorne los?“, fragte Sonja. „Ich dachte, ihr wärt alle wieder gesund?“ Man hörte die empörte Krankenschwester heraus. „Alexander, Lisbeth, kurbelt bitte eure Fenster wieder hoch!“
„Ich dachte, ich hätte es hinter mir.“ Schorschi schnäuzte sich vernehmlich.
Als hätte er damit ein geheimes Zeichen gegeben, begann plötzlich jeder zu hüsteln.
Ich hatte die Hand bereits an der Fensterkurbel, überlegte es mir aber plötzlich anders. Frische Luft war jetzt das Letzte, worauf ich verzichten wollte, obwohl ich ziemlich sicher war, dass ich mich bei den anderen längst angesteckt hatte.
Neben mir rieb sich Lisbeth mit einer heftigen Handbewegung über die Nase. Ihr Fenster hatte sie bereits geschlossen, jetzt warf sie mir einen vorwurfsvollen Blick zu und nickte auffordernd. Ich beschloss, es zu ignorieren.
„Ihr wart krank?“, fragte ich stattdessen.
Sie zuckte die Schulter. „Die meisten von uns. Wir sind schließlich nicht mehr die Jüngsten, da kann das vorkommen.“
„Ich hatte sogar eine schwere Bronchitis!“, rief Bea fröhlich von hinten, dann hustete sie.
Na großartig! Da fuhr ich seit Stunden bei geöffneten Fenstern und Durchzug die spanische Atlantikküste entlang und niemand hatte es für nötig befunden, mich darauf hinzuweisen, dass dies eigentlich ein Bus voller Rekonvaleszenten war?!
Bea hustete erneut, diesmal heftiger. Ich sah förmlich die Viren in den mikroskopisch kleinen Speicheltröpfchen von hinten heransausen und einen Moment in der Luft verharren, auf der Suche nach einem vielversprechenden Wirt. Sicherheitshalber presste ich die Lippen zusammen.
Was ich jetzt brauchte, war mentale Stärke. Ich musste schließlich auf eine Beerdigung und dann nach Irland!
Mürrisch steuerte ich den Bus vor die Schranke des großen Stellplatzes, zu dem mich die Gruppe schließlich lotste. Drei Euro am Tag fand ich okay, noch mal zwölf extra, wenn man über Nacht blieb. Aber das wollten wir ja nicht. Ich würde heute Abend nach Faro weiterfahren, vermutlich die ganze Nacht hindurch. Mit einem Bus voller alter Menschen, die nun scheinbar gar nicht mehr aufhören wollten, zu schniefen und zu hüsteln.
* * *
Du bist was du denkst.
Innerlich ausgeglichen bleiben wie eine Qualle im Koma, dann konnte einem die Welt nichts anhaben. Wenn ich erst die Vorstellung zuließ, dass mich die Erkältung erwischen würde, dann wäre es um mich geschehen. Glaubte ich aber fest daran, dass sie mir nichts anhaben konnte, dann erwischte sie mich auch nicht.
Eine gemeinsame Freundin hatte Cordula und mir im Laufe unserer Ehe Hunderte von Büchern zu diesem Thema geschenkt. Und ich hatte sie alle gelesen, die meisten allerdings nur, weil sie so doof waren, dass ich mich beim Lesen halb totlachte.
Weder Cordula noch ich waren früher esoterisch veranlagt gewesen, aber ihre beste Freundin dafür umso mehr. Moni ließ keine Gelegenheit aus, alles Mögliche an uns auszuprobieren. Und Cordula ließ es geschehen.
„Nur zur Sicherheit“, meinte sie dann pragmatisch. „Stell dir vor, da ist was dran!“
Meiner Frau zuliebe machte ich jeden Unsinn mit, den Moni vorschlug.
Sie schleppte Räucherstäbchen an und wir nebelten die Wohnung damit ein.
Moni brachte Cannabis mit, wir kifften zum ersten Mal im Leben und fraßen anschließend kichernd den Kühlschrank leer.
Wir ließen uns von Moni astrologisch durchleuchten. Ich bin, glaube ich, Pluto mit sehr viel siebzehn.
Vor allem aber ließen wir die Dauer unserer Ehe auspendeln – bis dass der Tod euch scheidet, ha ha ha!
Über Jahre pustete ich den Staub aus den zahllosen Traumfängern, mit denen Moni uns zu Geburtstagen und Weihnachten überhäufte.
Leider begriff ich viel zu spät, dass Cordula und ich während all dieser Zeit nicht zusammenwuchsen, sondern mehr und mehr auseinanderdrifteten. Sie fand zunehmend Gefallen daran, sich vom Leben und seinen Genüssen abzuwenden und unsere Zukunft aus Teeblättern zu lesen. Ich las am Ende die Kontaktanzeigen von „RUF MICH AN!“-Damen.
Das Ganze esoterische Zeug hatte mir wenig bis gar nichts Gutes gebracht, mit einer Ausnahme, und die war mir in einer Nacht Ende der Neunziger widerfahren.
Wir hatten gerade unsere Hälse verdreht, um nach Ufos Ausschau zu halten, Moni hatte uns deswegen extra in die Eifel geschleppt, wo es angeblich stündlich Sichtungen gab.
Während Cordula sich entsetzlich viel Mühe gab, ihre beste Freundin nicht zu brüskieren, drehte ich dem Drei-Mann-Zelt, in das wir uns heute Nacht quetschen sollten, den Rücken zu und eilte, in Fluchtgedanken versunken, die Landstraße entlang.
Nach nur wenigen Metern blieb ich vor einem Verkehrsschild stehen, dessen Pfeil in die Richtung wies, in die ich lief: Nürburgring.
Wie auf Kommando ertönte hinter einem Hügel das wuchtige Brummen eines PS-starken Motors, der Lichtkegel eines Scheinwerfers flammte am Ende des Waldes auf und verschwand wieder in der Nacht. Über mir glühte ein wunderbarer, vielversprechender Vollmond.
Dies war der Moment, in dem mich das Rennfieber packte.
* * *
Seit drei Stunden saß ich nun bereits in dieser kleinen Nebenkirche in Santiago de Compostela und fror mir den Hintern ab. Ich hätte mich natürlich auch in die große Kathedrale setzen können, aber die war mir zu überlaufen. Und draußen war es mir einfach zu laut.
Ein wenig beneidete ich die anderen um ihre Hingabe. Trotzdem sie so erkältet waren, waren sie ausgeschwärmt, um die Atmosphäre zu genießen.
Ich hielt den ganzen Selbstfindungszirkus, den man hier abzog, für ausgemachten Mumpitz.
Die Menschen redeten sich ihre Götter aus Verzweiflung schön, davon war ich überzeugt. Mit Vernunft war dem ganzen Gottgedanken einfach nicht beizukommen, von meinem kleinen Doktorenhirn jedenfalls nicht. Und naturwissenschaftlich erst recht nicht, das konnte mir auch niemand einreden.
Jemand wollte Glück? Dann sollte er es sich verschreiben lassen! Ich hätte auf Anhieb eine Liste zusammenstellen können mit Substanzen, die einem so viele Engel erscheinen ließen, wie man nur wollte. Santiago de Compostela war übrigens der Sitz wichtiger pharmazeutischer Industrieunternehmen, sicher musste man hier nicht weit laufen, um richtig glücklich zu werden. Schon gar nicht Tausende von Kilometern durch die spanische Einöde.
Mein Hintern fühlte sich taub an, so lange saß ich bereits hier.
Es war zwischendurch so still gewesen, dass ich eingenickt war. Ich träumte von meinem Bett in Bottrop. Meine Güte, wie ich mich danach sehnte!
Stattdessen saß ich wie ein armer Sünder auf einer harten Holzbank in einer spanischen Kirche. Niemand beachtete mich, niemand sprach mich an, und so konnte ich meine Gedanken kreisen lassen. Das hieß: Eigentlich kreisten sie ganz von alleine, und zwar um die Frage, wie in Gottes Namen es mir gelingen sollte, so angeschlagen, wie ich mich fühlte, heute Nacht noch über siebenhundert Kilometer zu fahren?