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Kapitel 1

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Wir waren inzwischen wieder seit Stunden unterwegs – und nun fuhr ich.

Gestatten? Dr. med. Alexander Alexander.

Nein, kein Witz, sondern der Beleg für die Hölle, in die ich hineingeboren worden war.

Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben?

Blödsinn. Nicht mit Eltern, die sich als gebildete Säufer für keine Geschmacklosigkeit zu schade waren: Die Drs. Alexander und Alexander freuen sich, die Geburt ihres Sohnes Alexander bekanntzugeben. Wer macht denn sowas?!

Nun, die Täter waren lange tot und ich vor wenigen Wochen endlich der Arztpraxis-Tretmühle entkommen, nur um meinen Vorruhestand mit einer weiteren Absurdität zu beginnen. Denn gegen meinen Willen lenkte ich gerade einen Bus mit fünf ausgeflippten Senioren Richtung Portugal. Dort hatten sie sich eine Finca gekauft, mitten in der Pampa. Sie meinten, sie hätten sich damit einen letzten Traum erfüllt.

Ich meinte, sie waren verkappte Selbstmörder.

Die Gegend, in der ihr Traumhaus stand, hatte ich gegoogelt. Die letzten Lebewesen waren vor zwei Jahren bereits fortgezogen, Ratten inklusive. Jetzt gab es dort nur noch Ameisen.

Lisbeth, die selbsternannte Chefin der Truppe, so eine Art Rapunzel auf Speed, hatte neben mir Platz genommen.

Rolf, der übergewichtige (ehemalige) Fahrer, lag auf der Bank hinter uns, die anderen drei hatten ihm Platz gemacht und teilten sich die Rückbank.

Jeder normale Mensch hätte Rolf nach seinem Schwächeanfall, den ich noch immer für einen milden Herzinfarkt hielt, einfach in diesem französischen Krankenhaus gelassen, aber Lisbeth war ebenso hartnäckig wie Rolf stur war, und so hatte sie ihn überredet, sich auf eigenes Risiko entlassen zu lassen. Nun ließ er sich von ihr den Schweiß von der Stirn tupfen.

Unser Gespann bestand aus einem alten VW Bus und einem ebenso alten Anhänger. Wie oft hatte ich inzwischen an Tankstellen Luft in dessen Reifen nachgefüllt? Zehnmal? Zwanzigmal? Und was hatte es geholfen? Gar nichts. Schlaff wie ein absterbendes Körperteil schlingerte er seit Hunderten von Kilometern mit seinem Schleichplatten hinter uns her.

Auf der Rückbank wurde gerade wieder gekotzt. Bea hielt sich die Tüte vor den Mund und versuchte, möglichst wenige Geräusche zu machen. Mit ihrer Nickelbrille bediente die Mittsiebzigerin perfekt das Klischee der pensionierten Biologielehrerin, die hartnäckig eine Safari nach der anderen buchte, bis das Geld aufgebraucht war.

Neben ihr saß Sonja, die mollige, gutgelaunte Krankenschwester. Sie holte immer dann, wenn jemand zu würgen begann, ihr Banjo raus, um die Stimmung aufzulockern.

Der letzte im Bund war Schorschi, ein in Ehren ergrauter Handwerker mit gichtgeplagten großen Händen. Er versuchte schon seit Paris, mit einem überdimensionierten Schraubendreher sein mikroskopisch kleines Radio auseinanderzuschrauben, das trotz frischer Batterien keinen der lokalen französischen Sender empfangen wollte. Immer wieder rief er: „Fahr nicht so ruckelig!“

Er trieb mich in den Wahnsinn.

Sie alle trieben mich in den Wahnsinn.

* * *

Es musste inzwischen weit nach Mitternacht sein. Hätte ich einen Bus voller Kinder durch die Nacht gefahren, wäre inzwischen Ruhe und sie würden schlafen. Aber da meine Reisebegleiter, die ausnahmslos die Siebzig hinter sich hatten, ihrer ungewissen, wenngleich überschaubaren Zukunft entgegenfieberten, floss in ihren Adern zu viel Adrenalin, als dass sie hätten eindösen können. Vielleicht hatten sie auch einfach keine Lust, ihre knapp bemessene Restlebenszeit mit Schlafen zu verschwenden.

Meine Hände taten inzwischen entsetzlich weh, so sehr krallten sich meine Finger schon seit ungezählten Kilometern ums Lenkrad. Meine Füße brannten wie die Hölle. Der Rücken schmerzte, mein Magen krampfte, meine Augen brannten vor Tränen der Wut, denen ich unter keinen Umständen vor diesen Leuten freien Lauf lassen wollte.

So ging das nicht weiter. Ich brauchte eine Pause.

Kommentarlos setzte ich den Blinker und steuerte von der Autobahn hinunter auf einen Rastplatz. Etliche Reisende hatten bereits dieselbe Idee gehabt, erst ganz am Ende des Parkstreifens fand ich eine Lücke, die groß genug war, den Busveteran samt Anhänger hineinzumanövrieren.

Als ich den dicken Schalthebel ein letztes Mal in den knarzenden ersten Gang wuchtete und den Schlüssel drehte, erstarb der Motor mit einem Zittern, als wäre er erleichtert, es endlich hinter sich zu haben.

„Ich weiß genau, was dir nun guttun würde“, sagte Lisbeth mit einem entschlossenen Blick auf mich. Sie hatte ihre Tür bereits aufgestemmt und stieg aus.

Hinter uns raschelte es, als die Rentnergang ihre Knochen sortierte.

„Los, hilf mir mal“, kommandierte Lisbeth und machte sich an der klemmenden Seitentür zu schaffen, um die anderen herauszulassen.

Vergeblich.

So ruhig wie möglich ging ich um den Bus, dann atmete ich tief durch und sagte: „Geht zur Seite!“

Inzwischen hatte ich den Dreh raus. Ich übte den nötigen Druck aus und das Türschloss gab nach.

Während die anderen aus dem Wageninneren an die frische Luft drängelten, half Lisbeth Rolf ins Freie.

„Alles gut?“, fragte sie fürsorglich.

Er nickte und stützte sich auf sie. „Alles bestens, Lisbeth! Danke, dass ihr mich nicht zurückgelassen habt!“

Während er sprach, griff ich nach seinem Handgelenk und kontrollierte unauffällig seinen Puls. Alles im grünen Bereich.

Ich ging um den Bus herum, öffnete die Heckklappe, nahm eine Sprudelflasche aus der Wasserkiste und reichte sie ihm.

Neben mir kramte Lisbeth in einer Tüte. „Ah, da ist sie!“, sagte sie zufrieden und hielt triumphierend eine Sprühdose in die Höhe.

„Was ist das?“, fragte ich eher aus Höflichkeit als aus echtem Interesse.

„Rasierschaum für Frauen. Setz dich hin und zieh die Schuhe aus.“

„Was?“

„Nun komm schon, du bist total angespannt, ich massiere dir die Füße!“

„Das wirst du ganz sicher nicht.“ Ich wandte mich ab, aber sie hielt mich zurück. Ich wusste, dass ich sie nicht abschütteln konnte, ohne ihr wehzutun. Sie ging mir ja gerade mal bis zum Kinn und war ziemlich klapprig. Niemand würde Verständnis dafür haben, wenn ich ihr den Arm brach, nur um sie loszuwerden.

Unsere Gruppe hatte sich bereits in der Dunkelheit der Nacht verteilt und stille Örtchen hinter dürrem Buschwerk gefunden.

In den Fahrzeugen, die am Straßenrand parkten, erkannte ich schlafende Fahrer. Ein verdunkeltes Wohnmobil, das etwas weiter hinten stand, wippte verdächtig.

Lisbeth zog mich zu einer Bank. Ich ließ mich darauf sinken und war erleichtert, als sie freiwillig ihren Klammergriff lockerte.

Ehe ich mich versah, hockte sie sich vor mich und begann, meine Schuhe aufzuschnüren.

„Ich weiß, dass du mich für eine durchgeknallte Spinnerin hältst, mein lieber Alexander“, sagte sie ruhig, „aber glaube mir, ich weiß, was ich tue.“

Sich gegen Lisbeth zu wehren, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, funktionierte nicht. Es war besser, sie und ihren messianischen Eifer einfach über sich ergehen zu lassen, als stundenlange Diskussionen zu riskieren, das hatte ich bereits gelernt.

Ich lehnte mich also zurück.

Ihr grauer Scheitel glänzte ein wenig im Mondlicht, die spindeligen Pipi Langstrumpf-Zöpfe, die sie trug, wippten neben ihrem Kopf auf und ab, als sie versuchte, es sich etwas bequemer zu machen.

Als sie mir die Socken von den Füßen streifte, stellte ich überrascht fest, wie warm ihre Hände waren. Sie griff nach der Dose, schüttelte sie kurz und energisch, dann sprühte sie sich etwas Schaum in die Handfläche.

Ich wollte sie fragen, warum sie sich solche Mühe mit mir gab. Unsere Wege würden sich trennen, sobald wir Faro erreichten – falls wir Faro erreichten. Der Ort lag in Portugal und das bedeutete, dass wir noch einen sehr langen Weg vor uns hatten. Der musste nach Adam Riese irgendwie auch über die Pyrenäen führen oder zumindest haarscharf an diesen vorbei, aber immer, wenn ich Lisbeth nach der geplanten Route fragte, lächelte sie nur und sagte: „Vertrau mir. Die Pyrenäen sind atemberaubend. Du wirst sehen.“

Natürlich würden sie atemberaubend sein, vor allem, wenn an diesem Klapperbus bergab die Bremsen versagten und wir mit Vollgas über eine Klippe schossen. Dem Sonnenaufgang entgegen.

Ich zuckte zusammen. Mein rechter Fuß versank mit der Ferse zuerst in einer Handvoll weißem Schaum.

Mein Reflex, ihn sofort wegzuziehen, wurde beinahe im selben Augenblick von dem Wunsch ausgehebelt, ihn in die ungewohnt wohltuende Empfindung hineinzupressen.

Überrascht starrte ich Lisbeths Scheitel an. Wie alt war sie eigentlich genau? Sie war ausgesprochen hager, fast dürr, als hätte sie erst vor kurzem eine schwere Krankheit überwunden. Ich würde sie fragen müssen. Nur nicht jetzt, denn jetzt kniete sie vor mir und umsorgte mich.

Ich wollte aber nicht, dass Lisbeth mich umsorgte. Ich wollte wütend auf sie sein dürfen. Wütend darüber, dass sie mich mit ihrer verlogenen Anzeige angelockt hatte, diese als „Busfahrt“ getarnte Höllenfahrt zu buchen.

Ein leises Stöhnen entfuhr mir, als sie den Druck auf meine Ferse erhöhte. Ich verspürte den Drang, das Kreuz durchzudrücken, ein wenig meine Sitzposition zu verändern. Mir war, als würde mein Steißbein vor Wonne quietschen. Es hatte an der harten Federung der ausgelutschten Bus-Stoßdämpfer in den letzten Stunden entsetzlich gelitten, aber das schien ja niemanden zu interessieren.

„Schließ die Augen und entspanne dich“, befahl Lisbeth in ihrer unnachahmlich bestimmenden Art, und ganz entgegen meiner skeptischen und rebellischen Natur gehorchte ich sofort.

Ihre Finger fuhren sanft aber bestimmend hin und her, ihr Daumen presste mal hier und mal dort, glitt durch den warm gewordenen Schaum und massierte ihn in meinen verknöcherten rechten Fuß.

Die Geräusche der Nacht umsurrten mich. Das ständige Schnurren von Autos, die nur wenige Meter von uns entfernt heranbrausten und sich wieder entfernten, erinnerte mich an Wellen, die unaufhörlich an einen Strand brandeten, nur um sich wispernd wieder ins Meer zurückzuziehen.

Hinter mir zirpten Grillen, ich hörte das Knirschen von leisen Schritten, als Schorschi und die anderen schweigend auf dem schmalen Kiesweg hinter meiner Bank hin und her liefen, um sich die Beine zu vertreten. Versunken in ihre Gedanken zogen sie ihre kleinen Runden, bemüht, die Fahrer der anderen Wagen nicht zu wecken.

Lisbeths Daumen kreiste unterhalb meines Fußballens und eine wohlige Wärme begann sich in meinem Magen auszubreiten. Hatte ich mich eben noch zum Kotzen gefühlt und meine missliche Lage verdammt, so schien sich irgendetwas in mir plötzlich zu entspannen, schien ich mich von innen heraus zu öffnen: für meine Situation und vor allem für Lisbeth, die mit ihren alten Knochen vor mir auf dem schmalen Asphaltstreifen auf ihrer Strickjacke kniete und meine Füße mit Schaum einrieb.

Meine Güte, tat das gut! Ich hatte plötzlich das Gefühl, als könnte ich zum ersten Mal seit vielen Stunden frei durchatmen.

Als der olle Bus vor meiner Wohnung am Straßenrand gehalten hatte und ich begriff, dass ich einen mächtigen Fehler gemacht hatte, hatte sich ein eiserner Ring um meine Brust gelegt, nun flog er lautlos auseinander und ich atmete tief ein und aus.

Ich spürte, wie ein Lächeln über mein Gesicht glitt, als Lisbeths Finger meine Zehen berührten, als ihre Hand sie warm und fest umschloss.

Ich hatte mich eigentlich immer für kitzelig gehalten, aber als sich ein Lachen in meiner Brust bildete, das an die Oberfläche drängte wie eine glucksende Quelle, hatte dies nichts mit kitzeliger Überempfindlichkeit zu tun, sondern eher mit Glück, das sich einen Weg bahnte in meine Augen, in meine Stimme, in meine Ohren. Alle meine Sinne vibrierten.

Ich hielt die Augen geschlossen und wünschte mir, Lisbeth würde nie mehr aufhören, meinen Fuß mit ihrem nach Melone duftenden Frauenrasierschaum einzureiben. Aber genau in diesem Moment tat sie es doch.

Fast wollte ich enttäuscht den Kopf heben, der mir in meiner Entspannung tief auf die Brust gesunken war, da nahm sie meinen linken Fuß in ihre Hände.

Warum nur tat sie dies für mich?

Die Antwort lag auf der Hand.

Ich war so aggressiv und angespannt gewesen, seit wir Rolf aus der Klinik wieder mitgenommen hatten, da hatte sie zu recht befürchtet, ich könnte nicht nur die Kontrolle über mich, sondern auch über den Bus verlieren. Dass sie das nicht zulassen konnte, verstand sich von selbst. Dass sie zu dieser ungewöhnlichen Methode griff, um mich wieder runterzuholen, war alles andere als selbstverständlich.

Während ihre Hände die Innenseiten meiner Ballen massierten, durchflutete mich Dankbarkeit.

Wie war es nur möglich, dass mich dieses magere Althippie-Weibchen so überraschen konnte? Ich hatte ihr nicht genug Verstand zugetraut, von eins bis zehn zu zählen. Oder von siebzig bis achtzig.

Und jetzt saß ich auf einer Bank auf einem namenlosen französischen Rastplatz südlich von Nirgendwo und hatte das tiefe und dringende Bedürfnis, die alte Frau vor mir in die Arme zu nehmen.

Ich konnte mich gerade noch beherrschen. Stattdessen legte ich den Kopf mit geschlossenen Augen tief in den Nacken und stöhnte noch einmal leise auf.

„Danke“, flüsterte ich.

„Gern geschehen“, sagte sie, dann nahm sie das Tuch, das sie mitgebracht hatte, und trocknete erst den einen und dann den anderen Fuß.

Ich öffnete die Augen, traurig, dass es vorbei war. Der Duft von Melone stieg in meine Nase und fast ein wenig widerwillig beugte ich mich vor, um mir die verschwitzten Strümpfe überzustreifen und meine Schuhe wieder anzuziehen.

Lisbeth stand auf und schüttelte ihre spindeldürren Beine. Der lange buntgeblümte Rock, der ihr fast bis zu den Fesseln ging und aussah, als habe sie ihn nach Woodstock in ihren Schrank gehängt, um ihn für diese Fahrt erst wieder herauszuholen, wippte leicht.

Aus allen Richtungen kamen die anderen zurück, als habe Lisbeth ihnen ein stummes Signal gesandt.

Ich sah mich um. Schorschi und Bea stützten Rolf, damit er wieder in den Wagen klettern konnte.

Als ich die wenigen Schritte zum Bus ging, glaubte ich für einen Moment, ich müsste tanzen, so beschwingt und frei fühlte ich mich. Ich wackelte mit den Zehen. Sobald wie möglich würde ich mir Sandalen holen, wie die anderen sie trugen. Mir doch egal, was die Leute sagten.

Als ich gerade einsteigen wollte, meldete sich meine Blase und ich überlegte, doch lieber schnell noch ein Gebüsch aufzusuchen. Leise pfeifend stampfte ich über die kleine Wiese und suchte nach einer Stelle, die etwas weniger stank als alle anderen.

Als ich zurückkam, pfiff ich noch immer. Das Wohnmobil, an dem ich vorbeiging, wippte nicht mehr. Da hatten zwei miteinander ihren Frieden gefunden. Schön für sie.

Als jeder auf seinem Platz saß, schloss ich so leise wie möglich die klemmende Seitentür des Busses.

Lisbeth stieg ein und schloss die Beifahrertür.

Wie durch ein Wunder sprang der Bus beim ersten Versuch an.

„Siehst du?“, sagte Lisbeth schelmisch. „Ich hab dir doch gesagt, er spürt das, wenn der Fahrer gut drauf ist!“

Silbergrau mit Wellengang

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