Читать книгу Silbergrau mit Wellengang - Andrea Reichart - Страница 8
Kapitel 2
ОглавлениеAls wir bereits mehr als dreizehn Stunden unterwegs waren – die Pausen mitgerechnet –, und insgesamt elfhundert Kilometer hinter uns gebracht hatten, wünschte ich mir nichts sehnlicher als ein Bett.
Ich konnte froh sein, dass die Seniorengang nicht zu geizig gewesen war, die französischen Autobahngebühren in ihre Planung einzubeziehen, denn sonst wären wir vermutlich noch auf einer Landstraße herumgeeiert, auf der Suche nach kostenlosen Schleichwegen Richtung spanischer Grenze.
Lisbeth hatte ihre Route genauestens ausgearbeitet und kannte sie als Einzige. Warum sie mich nicht in die Unterlagen blicken ließ, erschloss sich mir nicht. Immer wieder musste ich warten, bis sie mir sagte, wie es weiterging.
Jetzt war es wieder soweit.
„Lisbeth?“
Erstaunt stellte ich jedoch fest, dass sie schlief. Tief und fest. Und ein Blick in den Rückspiegel zeigte mir, dass die anderen es ihr gleichtaten.
Es half alles nichts, ich musste eine Entscheidung treffen, und die fiel zugunsten einer Übernachtung aus. Niemand erwachte, als ich klammheimlich von der Autobahn fuhr.
* * *
Ich fuhr so lange weiter, bis ich endlich das Meer roch, dann suchte und fand ich ein Motel. Meine menschliche Fracht schnarchte friedlich, während ich unser Gespann parkte. Nach nur wenigen Minuten konnte ich vier Doppelzimmer unser Eigen nennen. Ich würde mir mit Rolf das Zimmer teilen, dann konnte ich ihn im Auge behalten.
„Wacht auf, wir steigen hier aus!“, rief ich leise und öffnete ohne viel Federlesen die Beifahrer- und dann die Seitentür.
„Was?“ Lisbeth blinzelte mich verschlafen an.
„Raus aus dem Wagen und ab in die Zimmer“, bestimmte ich und wartete, bis sich alle aufgerappelt, ihre Knochen sortiert und den Bus verlassen hatten. Bibbernd standen sie um mich herum in der frischen Nachtluft.
„Lisbeth und Bea, hier sind eure Schlüssel. Schorschi und Sonja, ihr nehmt das dritte Zimmer. Rolf, du kommst mit mir.“
Noch während sich die anderen zu orientieren versuchten, hievte ich eine Reisetasche nach der anderen aus dem Hänger.
Es dauerte eine Weile, bis sich alle mit ihrem Gepäck zurückgezogen hatten.
Der Blick, den Lisbeth mir zuwarf, war vernichtend. „Diese Übernachtung war nicht eingeplant“, knurrte sie, während sie mir und ihrer Reisetasche zu ihrem Zimmer folgte.
„Geht auf mich. Bis morgen!“ Schon war ich wieder draußen.
Ich schloss den Bus ab, unsicher, ob ihn nicht ein einigermaßen motiviertes Eichhörnchen knacken konnte wie eine hohle Nuss. Dass jemand den Anhänger ausräumen würde, war eher unwahrscheinlich. Jeder meiner Reisebegleiter hatte ein Minimum an Möbeln mitnehmen dürfen, einen Stuhl oder einen Sessel, einen kleinen Wandspiegel oder ein Tischchen. Alles Dinge, die einen Diebstahl nicht lohnten. Nein, der Hänger war sicher. Zufrieden ging ich zurück zu meinem Domizil.
Rolf quälte sich in unserem Zimmer bereits unbeholfen aus seinen Sachen.
„Warte“, sagte ich und half ihm, die Schuhe auszuziehen.
Mit einem erleichterten Stöhnen ließ er sich auf das Bett sinken.
Nachdenklich fühlte ich seinen Puls. Angesichts seines Übergewichts war er so, wie ich vermutet hatte.
Ich besorgte ihm ein Glas Wasser und wartete, dass er seine Medikamente schluckte. Kaum war er auf das Kissen zurückgesunken, seufzte er tief und schlief ein.
Ich jedoch ging erst einmal unter die Dusche.
Was für ein Unterschied zu damals vor zwei Jahren in Heiligendamm an der Ostsee, in dem letzten gemeinsamen Urlaub mit meiner Frau. Der Urlaub, in dem Cordula mich verließ.
Ich hatte wie jetzt unter einem heißen Wasserstrahl gestanden, sehr zufrieden mit mir selbst. Immerhin hatte ich an dem Tag einen Dorsch gefangen. Und ein paar Schollen. Nur knapp dreihundert Meter vom Strand entfernt in dem kleinen 6 PS Angelboot, das ich gemietet hatte.
Jeder andere ließ seinen Fang in einem Eimer verschwinden, ich dagegen schleppte ihn gut sichtbar im Netz an den Strand. Am liebsten hätte ich bei jedem Schritt gerufen: „Cordula! Sieh nur! Das habe ich für uns gefangen!“
Cordula blickte auf mein Netz und schüttelte angeekelt den Kopf. „Du weißt, dass ich Vegetarierin bin.“ Sie wies mit dem Kopf den Steg entlang zu den anderen Fischern. „Vielleicht freuen die sich darüber. Sieh zu, dass du die Leichen loswirst.“
Ich ahnte nicht, dass mir in diesem Augenblick die Frau von der Angel ging, mit der ich die letzten vierzig Jahre verbracht hatte. Nicht immer glücklich, das konnte sein, aber doch nett eingelebt. Trotz aller Zankereien.
Während ich mich einseifte, hörte ich sie ins Bad kommen. Das Rauschen des heißen Wassers und die Nebelschwaden verhinderten, dass ich sofort erkannte, was sie tat. Wir wollten essen gehen, vielleicht schminkte sie sich, um besonders nett auszusehen? Verdient hatte ich es ja.
Als ich das Bad nur wenige Minuten später mit einem Handtuch um die Hüften verließ, hoffte ich, dass Cordula noch nicht angezogen war. Es war noch früh genug für ein wenig Spaß, fand ich, auch wenn es viele Jahre her war, dass einer von uns beiden vor, während oder nach dem Sex gelächelt hatte.
Das Wasser tropfte mir in den Nacken, als mein Verstand endlich erfasste, was meine Augen ihm die ganze Zeit mitzuteilen versuchten. Cordula hatte alles eingepackt, was ihr gehörte.
„Was soll das denn geben?“, fragte ich irritiert.
„Freiheit für uns beide“, antwortete sie und griff nach ihrem Rollkoffer. „Ich habe die Rechnung bereits beglichen. Betrachte das als mein Abschiedsgeschenk. Mach dir noch ein paar schöne Tage hier. Fahr bitte nicht heim, hörst du? Ich will ausgezogen sein, ehe du kommst.“
„Hast du sie noch alle?“, fragte ich und spürte, wie Wut in mir aufwallte. „So ein Theater wegen ein paar Fische?!“
Cordula schüttelte den Kopf, als hätte sie es mit einem ganz besonders doofen Erstklässler zu tun, der einfach nicht verstand, dass auf A unweigerlich B folgte.
„Du hörst von meinem Anwalt.“ Sie sah sich in der Suite um, prüfte, ob sie auch nichts vergessen hatte. Auf dem Schreibtisch stand eine halb leere Flasche Whiskey, daneben das Glas, mit dem ich mir in der letzten Nacht mehr als einmal auf einen schönen Urlaub zugeprostet hatte. Cordula hatte bereits mit Migräne im Bett gelegen.
„Kannst ja den Rest auf eine schnelle Scheidung trinken“, meinte sie zynisch, dann klopfte es bereits und ein Page begann, ihre Sachen hinauszutragen.
Wie vom Donner gerührt blieb ich mitten im Raum zurück.
Mein provisorischer Lendenschurz glitt zu Boden, als sich die Tür hinter meiner Frau zum letzten Mal schloss. In dem Moment war ich nicht nur so nackt wie ein Knabe, ich fühlte mich auch zum ersten Mal seit vielen Jahren genauso hilflos.