Читать книгу Nenn mich Norbert - Ein Norbert-Roman - Andrea Reichart - Страница 7
Kapitel 4
Оглавление„Nobbi!“ Silke streichelte den freudig an ihr hoch springenden Hund mit einer Hingabe, die Kai rührte.
„Lass die beiden doch erst mal reinkommen“, tadelte er seine Frau und hievte den schweren Futtersack aus dem Kofferraum.
‚Claudia hält sich an der Leine fest, als müsste sie Halt suchen‘, dachte Kai, als sie sich von ihrem Hund ins Haus ziehen ließ.
Er schloss hinter ihr die Haustür mit einer akrobatischen Fußbewegung und ließ den schweren Sack in der Küche gekonnt von der Schulter gleiten. Dann nahm er ihr den Mantel ab, nachdem sie den Hund von Leine und Geschirr befreit hatte, und folgte den Frauen ins Wohnzimmer.
Nun saß Claudia mit ihm am Tisch und beobachtete, wie ihr Hund mit Silke durch den winterlichen Garten tobte und die gelbe Frisbeescheibe mit den abenteuerlichsten Sprüngen fing. Er würde vollkommen erledigt sein. Das war gut. Er würde sich in sein Körbchen legen und schlafen.
Kai reichte Claudia ein Papiertaschentuch. Er hatte direkt zwei Pakete mitgebracht, als er merkte, dass sie die Fassung verlor. Wenn Silke weinte, dann schluchzte sie laut und herzerweichend, bebte in seinen Armen und ließ sich nur langsam beruhigen. Egal ob gerade Lassie in der dreißigsten Wiederholung immer noch nicht nach Hause fand, oder sein bester Freund bei einem Unfall getötet worden war. Unmöglich eigentlich, dass Frauen für Blödsinn und echte Tragik stets die gleichen Schleusen öffneten.
Claudia gab im Gegensatz zu Silke beim Weinen keinen Laut von sich. Das war mindestens ebenso beunruhigend. Auf Huberts Beerdigung war sie vollkommen geräuschlos in sich zusammengefallen, und als er sie aufgefangen hatte, war ihr Gesicht nass gewesen. Er hatte einen Sekundenbruchteil lang Blut gesucht aber nicht gefunden, stattdessen nur ein Tränenmeer, das nicht versiegen wollte, begleitet von einem Beben, das ihren Körper schüttelte. Was für ein Zirkus, damals. Ein Freund von Hubert war Gott sei Dank ohne Frau gekommen, der konnte sich um seine brüllende Silke kümmern, während er Claudia zum Wagen schaffte, kaum dass sich die irritierte Trauergesellschaft pietätvoll zurückgezogen hatte.
Zu Claudias Verteidigung konnte er vielleicht sagen, dass der Abschied von Nobbi einfach zu nah dran war am Abschied von Hubert. Aber, Herr im Himmel, sie fuhr doch nur für zwei Wochen fort, und der Hund würde gar nicht merken, wie die Zeit verging, so viel Programm hatte Silke für ihn zusammengestellt.
Kai reichte Claudia ein neues Taschentuch.
„Komm, Mädchen, lass uns über Formalitäten sprechen“, versuchte er sie abzulenken, obwohl er ihre Instruktionen inzwischen auswendig kannte.
„Hier ist sein Impfausweis, falls mal etwas passiert“, Claudia reichte ihm das Impfbuch, und ein Heftchen glitt heraus. „Und Nobbis Gebrauchsanweisung.“
Kai kniff die Augen zusammen und versuchte zu entziffern, was in dem Büchlein stand, als er es durchblätterte. Entweder war er über Nacht noch kurzsichtiger geworden, oder Claudia hatte sich gewaltig mit der Schriftgröße vertan. Der Text war nahezu unlesbar. Zwanzig Seiten, eng beschrieben mit Punkten. Sehr hilfreich.
„Tu mir und vor allem dem Hund einen Gefallen, und lies das, ok?“, bat sie tränenerstickt hinter ihrem Taschentuch.
„Na klar!“, antwortete Kai und versuchte, aufrichtig zu klingen. Kai vermisste seinen Freund, auch wenn er ebenso geschockt gewesen war wie Claudia, als er den vernichtenden Schuldenberg im Nachlass entdeckt hatte. Huberts Erbe hatte das Kartenhaus zum Einsturz gebracht, in dessen Trümmern Claudia noch wochenlang nach Antworten suchte, ehe sie erkannte, dass alles verloren war.
Das Entsetzen ging durch ihren ganzen Freundeskreis. Gab es noch einen unter ihnen, der am Ende war? Diese Frage hatte sie alle lange beschäftigt und Silke vorübergehend sogar zur skeptischen Inquisitorin mutieren lassen, ehe er sie endlich beruhigen konnte.
Geld hatte Claudia nicht ohne Gegenleistung annehmen wollen, wohl aber Hilfe. Der Umzug hatte sie nur den Mietwagen gekostet. Einer hatte Huberts Auto gekauft, ein anderer das Wohnmobil übernommen, ein dritter die Schallplattensammlung. Aber Huberts Gläubiger hatten zu Recht darauf hingewiesen, dass sie eigene Familien zu ernähren hatten, und Claudia hätte sicher den Rest ihres Lebens damit zugebracht, sie auszuzahlen, wenn er, Kai, sie nicht am Ende doch zur Privatinsolvenz hätte überreden können. Aber er kannte die still vor sich hin weinende Frau gut genug um zu wissen, wie sie unter dem Makel des Scheiterns litt. Kraft gab ihr nur noch dieser Hund, der gerade vor Kais Wohnzimmerfenster einen Krater in den gepflegten Rasen buddelte. Kai sagte nichts. Silke saß inzwischen neben ihm und schenkte Claudia Kaffee nach.
Kai musste sich die Nase putzen. Nobbi war nur ein paar Mal durchs Wohnzimmer gelaufen, schon fing das Jucken an. Silke warf ihm einen Blick zu und hob die Augenbrauen. ‚Kein Wort!‘, schien ihr Blick zu sagen, und er schüttelte unmerklich den Kopf. Silke hatte versprochen, zu putzen und zu saugen wie eine Irre und mit dem Hund so oft draußen zu sein, wie möglich, damit er die nächsten vierzehn Tage überleben würde. Und außerdem seien Allergien reine Kopfsache. ‚Genau‘, dachte Kai.
‚Als erstes löst sich die Haut beim Jucken vom Schädel, dann explodiert der Kopf‘.
Claudia warf ihnen aus verheulten Augen einen Blick zu und lächelte. Dann stand sie auf.
„Ich muss los“, sagte sie, ging zur Gartentür und rief den Hund, der sofort auf sie zustürmte und ihr ein Spielzeug vor die Füße warf. Dann begann das Abschiedsritual.
„Frauchen geht jetzt arbeiten“, sagte sie mit fester Stimme und streichelte den Hund, der sich an ihr Knie drückte. „Pass du fein auf. Frauchen kommt gleich wieder.“
Kai schüttelte den Kopf. So ein Blödsinn. Was erwartete sie von dem Tier? Sollte er jetzt nicken? Aber er hütete sich, auch nur einen einzigen Kommentar abzugeben. Claudia gehörte zu den friedlichsten Frauen, die er kannte, aber was ihren Hund betraf, da verstand sie keinen Spaß.
Er war sicher, dass das einzige Wort, das den Hund überhaupt interessierte, der Mehrsilber „Leckerchen“ war, und das konnte ihm auch niemand ausreden. Der Rest war blanker Blödsinn.
Ohne weiteres Aufhebens stand Claudia auf, ging in den Flur, zog sich die Jacke an, drückte erst Silke und ihn wortlos und bückte sich dann ein letztes Mal zu ihrem Tier. Mahnend hob sie ihren Zeigefinger. „Pass du fein auf!“
Dann drehte sie sich um, verließ das Haus und schloss die Tür hinter sich.
Silke und Kai standen im Flur und beobachteten den Hund. Der wartete, bis das Geräusch des abfahrenden Wagens nicht mehr zu hören war, sah sich um, ging zu seinem Körbchen, das neben der Treppe stand, drehte sich ein paar Mal im Kreis, ließ sich fallen, seufzte und legte den Kopf auf die Pfoten. Wie immer.