Читать книгу Die Freispielerin und der Findende - Andrea Riemer - Страница 6

Der magische Brunnen
Treffpunkt der Seelen

Оглавление

Am nächsten Morgen stand Marie ausgeruht und voller Tatendrang gegen sieben Uhr mit großer Freude auf. Sie duschte ausgiebig und kleidete sich bequem. Dann nahm sie ihr Smartphone und den Zimmerschlüssel und ging zum Frühstück.

Janet hatte ihr ein wunderbares und reichhaltiges Frühstücksbuffet angerichtet. Es ließ nichts an Wünschen übrig. Das englische Frühstück ist ein mehrgängiges Mal, das einen historischen Hintergrund hat.

Am Beginn gibt es Fruchtsaft (Orangensaft) oder eine halbe Grapefruit. Auch Trockenpflaumen (prunes) in Saft oder Kompott (stewed fruit) wurden gereicht. Dann folgten Frühstücksflocken bzw. Porridge. Danach gibt es als Hauptgang das das typische full English breakfast, also warmes englisches Frühstück mit bacon (gebratener Frühstücksspeck), sausages (kleine, gebratene Würstchen), poached or scrumbled eggs (Spiegel- oder Rührei), baked tomatoes (gegrillte Tomaten), baked mushrooms (gegrillte Champignons) und den obligaten baked beans (warme weiße Bohnen in Tomatensoße). Alles sehr traditionell. Es roch herrlich. Doch es gab auch selbstgemachte Aufstriche, Toast, Tomaten, Gurken, Oliven, Butter, mehrerlei frisches Obst und ausgesprochen gutaussehende Marmelade, die auch so schmeckte. Zwar nicht ganz britisch, doch so gab es für jeden Geschmack etwas. Der süße Gang bildete den Abschluss. Hinzu wurde Toast mit gesalzener Butter und Marmelade aus Orangen, Zitronen oder Limetten gereicht. Marmalade gibt es in verschiedenen Ausführungen, mit viel oder wenig Schale, bitter-süß (Olde English Thick Cut Marmalade), säuerlich oder süß.

Tea or Coffee war fast zu einer religiösen Frage hochstilisiert worden. Kontinentale Teebeutel gab es hier nicht. Es wurde Tee nach einem traditionellen Zeremoniell zubereitet. Und dann gab es noch die Frage – mit oder ohne Milch, und wenn mit Milch – MIF (Milk-In-First) - oder TIF (Tea-In-First). Diese Frage wurde oft zu einer sozialen Frage gehypt. Naja, man hatte ja sonst nichts an Wichtigkeiten zu tun, dachte Marie lächelnd bei sich.

Marie legte sich ihr Frühstück in einer ihr eigenen Mischung am Teller zurecht und ging zu ihrem Tisch zurück, setzte sich und – first war ihr in diesem Moment ziemlich egal, da sie zur Kaffeefraktion gehörte. Obst, Toast, Marmelade, einige Aufstriche, ein bisschen aufgeschnittenes Gemüse und ein weiches Ei. Das schien ihr für den heutigen Tag passend. Morgen konnte es schon wieder ganz anders sein.

Marie genoss die Freundlichkeit, das bekömmliche Essen, einen erstaunlich guten Kaffee – was das immer für Vorurteile sind, dass es im Vereinigten Königreich keinen ordentlichen Kaffee geben soll - und – sie war voller Vorfreude auf das, was ihr der Tag bringen würde. Der erste Tag ihres so lange erwünschten Aufenthalts in Glastonbury. Auch dafür gibt es den bekannten Anfängergeist, beginner’s mind. Das ist diese unbedingte Offenheit für alles, was einem begegnete. Frei von Wertung und Beurteilung. Einfach ansehen, was einem so begegnete. Diese Haltung erleichtert ihr das Leben ungemein, the beginner’s mind …

So ließ es sich leben an diesem magischen Ort, an diesem für Marie durchaus wichtigen Tag ihrer Wiedergeburt. Nie würde sie diese Momente vergessen, als sie in einen ihr völlig neuen und gleichzeitig so unglaublich vertrauten Seinszustand wechselte und wieder zurückkam, vor einigen Jahren. Was war seither alles geschehen? Sie war ein wenig in ihren Gedanken versunken, ein bisschen berührt und atmete tief durch. Sie wusste, sie hatte den Turnaround, in dem sich so viele Menschen im Kollektiv befanden, längst gemeistert. Sie war längst auf ihrem Meisterweg. Dieses Geschenk war ihr auch Auftrag. Sie beschäftigte sich seither intensiv mit dem Erkennen, dass man selbst reines Bewusstsein ist, auch wenn der Verstand dagegen in ihr noch immer rebellierte und wissen wollte. Doch es wurde immer besser. Sie befasste sich mit Mustern, mit Übernommenem, mit Akzeptanz, Vergebung und Versöhnung. Und sie zog ihre Schlüsse und handelte danach. Erkennen ist zu wenig. Es muss etwas nachfolgen und sich in konkreten Taten manifestieren. Elfenbeinturmhermetik war nie ihre Sache. Sie wollte leben, was sie erkannt hatte.

Auch die Frage ‚Wer bin ich und wie viele?‘ war ihr seither treue Begleiterin. Die Antworten auf diese Frage changierten oft im Tagestakt. Wie mache ich sie alltagstauglich? Wie verbinde ich oben und unten, sodass ich es gut leben kann? Doch genau das machte diese Fragen für Marie aus. Sie konnte sich fast in diesen Fragen verlieren. Das fiel ihr in diesem Moment auf, als sie in Gedanken ihre Kaffeetasse ein bisschen zu laut niederstellte. Niemand nahm im Frühstücksraum davon Notiz. Doch Marie versammelte sich innerlich. Sie hatte einiges vor. Sie hatte sich zu Hause einen Plan gemacht. Doch wie immer ließ sie sich gerne von ihrer Intuition leiten. Pläne sind schon okay, dachte sie. Doch meine innere Stimme ist mein bestes Navigationssystem. Gleichwohl – es ist immer auch schön, Pläne zu machen. Es geht beides. Warum auch nicht?

Heute wollte sie zu The Well, auch Chalice Well, Kelchbrunnen genannt. Ein magischer Ort, voll von Geschichte und Geschichten. In diese wollte Marie heute eintauchen. Sie war bereit dafür. Es schien ihr der perfekte Ausgangspunkt für ihre Reise innerhalb von Glastonbury.

Bereits am Morgen gab es angenehmes Wetter, britisch-sonnig, immer mit der Chance auf einen Regenschauer und etwas Wind. Doch Marie hatte passende Kleidung mit.

So ging sie nach dem Frühstück kurz in ihr Zimmer, machte sich nochmals frisch, nahm ihr Smartphone, das ihr mit dem Navigationssystem den Weg zum Kelchbrunnen zeigen würde, ihre kleine rote Tasche – ohne diese ging gar nichts - und ihre schwarze Jacke samt Mütze und Lieblingsschal. Man konnte nie wissen. Es schien die Sonne. Wobei - es konnte gut und gerne doch noch etwas wärmer werden.

Sie verließ das Hotel und ging über die Silver Street zur Chilkwell Street. Ihr Navigationssystem zeigte ihr den Weg. Nach etwa fünfzehn Minuten war sie bei den Gärten und dem Eingang zum Kelchbrunnen angelangt. Sie verlangsamte ihr Tempo, wohl auch weil die Gärten mit ihrer Ruhe dazu förmlich einluden und sie es überhaupt nicht eilig hatte.

Aufnehmen und Wahrnehmen bedingen ein verlangsamtes Tempo. Es war eine andere Welt, in der sie sich nun aufhielt. Sie war mit solchen Wahrnehmungen bestens vertraut. Doch auch sie war beeindruckt. Es war eine spezielle Stille, in der hunderte von Jahren kulminierten. Was rankten sich Mythen um diesen Ort mit der Quelle?

Marie ging langsam weiter, vorbei an kleinen Pools und Terrassen, an Bänken und Bäumen, die kurz vor der Blüte standen und an zahlreichen kleinen Quellen. Doch es zog sie magisch weiter zu dieser einen Quelle, der Kelchquelle. Marie sah sich immer wieder um und dachte lächelnd - „Ja – nun ist endlich Frühlingsbeginn.“ Dieses Neue, der Aufbruch, das Erblühen. Jedes Jahr war ihr die Zeit wichtig, vor allem nach ihrer Gesundung, die sie eng mit dem Frühlingsbeginn verband. Für sie war er wie ein weiterer Geburtstag. Und der durfte sich gerne auch über mehrere Tage erstrecken.

Es dauerte noch ein paar Tage, dann würde die Sonne vom Zeichen der Fische in jenes des Widders eintreten. Dabei überlief die Sonne den sogenannten Frühlingspunkt. Nun nahm der Jahreskreis einen neuen Anlauf von Werden und Vergehen. Das Leben nahm nach Monaten der Ruhe wieder sichtbar und fühlbar Schwung auf. Es konnte losgehen mit dem Neuen. Doch nur weil das Alte Platz machte und den Raum für das Neue freigab. Und … unter der Oberfläche, im für viele Unsichtbaren, da tat sich immer eine Menge.

Marie sah den kleinen Brunnen mit dem Metallgitter in Form der Vesica Pisca schon von weitem. Die Vesica Pisca, auch Fischblase, ist ein uraltes Symbol und besteht aus zwei ineinander verschlungenen Kreisen. Sie stehen für das Weibliche und das Männliche. Das göttlich Weibliche, the divine femine, und das göttlich Männliche, the divine masculine, finden symbolisch ihre Vereinigung und ihren Ausgleich.

Die Vesica Pisca findet man in allen Teilen der Welt auf verschiedenen Plätzen. Sie gilt als universell verständlich. Zwei Pole, zwei Archetypen in einem Zeichen verbunden. Es braucht immer beides, um im Ausgleich zu sein. Einer der wichtigsten Gedanken dieser heraufbrechenden neuen Zeit ist der dynamische Ausgleich in einem selbst. Das ist vielen unverständlich, da sie es gewohnt sind, im Außen zu suchen. Doch das Außen ist immer nur eine Projektion dessen, was sich im Inneren abspielt. Schafft man den Ausgleich im Inneren, kann es im Außen nur balanciert sein. Es ist anders nicht möglich.

Der Brunnen, den sie von unzähligen Fotos kannte, war in natura ein wenig kleiner als sie ihn sich vorgestellt hatte. Er war ein bisschen abgeschirmt, doch sie fand ihn aufs erste Mal.

Fast ehrfürchtig trat sie nun vor den Brunnen, die Kelchquelle, blieb stehen. Sie ließ die unmittelbaren Eindrücke auf sich wirken. Marie atmete und versank in sich augenblicklich. Sie war in einem meditativen Zustand. Völlig klar und entspannt. Ganz präsent.

Der Brunnen, der immer wieder durch einen Deckel mit der Vesica Pisca bedeckt war, war nun geöffnet. Sie konnte die Vesica aus Metall sofort erkennen. Zudem hörte sie das Wasser leise rauschen. Bald würde der Brunnenrand mit Blüten geschmückt sein.

Jede Tag-und-Nachtgleiche, jede Sonnenwende wurde hier gefeiert. Dazwischen gab es auch markante Tage, die ihre Ursprünge in der keltischen Mythologie hatten. Es waren Schwellenzeiten und Schwellenorte, die natürlich zusammenspielten und Botschaften vermittelten, wenn man sie wahrnehmen wollte. Selbstverständlich konnte man auch alles als Ansammlung von Steinen sehen. Marie hatte zu Schwellenzeiten und Schwellenorten einen besonderen Bezug. Die beiden Achsen aus Zeit und Raum entwickelten sich zu einem natürlichen Orientierungsgitter, das Form gab. Vielleicht lag es daran, dass sie sich in dieses Leben genau die Nullpunkte der großen Achsen mitgenommen hatte. Initiation und Neubeginn waren ihr natürlich mitgegeben.

So war das Jahr in sich logisch strukturiert und auch überschaubar aufgeteilt. Werden und Vergehen nach einem kosmischen Plan, der auch keine großen Erklärungen benötigte. So lebte es sich ohne Smartphone, Fernsehen, Internet, Radio und auch ohne Bücher. Unvorstellbar für die meisten. Doch – hier in Glastonbury konnte man etwas von diesem Geist der Ewigkeit atmen – und mitnehmen, wenn man wollte.

Marie stand nun vor dem Brunnen und sog den Duft der Narzissen, die hier überall blühten, ein. „Ja – das ist Frühling, Neubeginn. So soll es sein,“ dachte sie bestätigend mit einem stillen Lächeln. „Es ist das, was da ist, direkt vor uns. Einfach. Klar. Bestechend. Von unnachahmlicher Schönheit.“ Dann entdeckte sie eine kleine Mauer, die den Brunnen umgab. Sie legte ihre Tasche, die treue Begleiterin auf ihren Reisen, auf die Mauer und nahm Platz.

Ein Moment der Stille war nun gefragt, um in diesem meditativ-entspannten Zustand zu verbleiben.

Wie oft hatte sie sich diesen Moment vorgestellt in ihren Reiseplanungen, die sie nun über den Haufen warf, weil sie sich vom Geiste Glastonbury führen ließ? Sie sog den Moment ein, weil sie wusste, dass dies ein heiliger Ort ist. Hier gilt es dem Sein. Tun hat hier nichts verloren, im Moment. Das kam dann wieder anderenorts.

Marie saß, ganz versunken, auf der kleinen Mauer. Sie spürte den leisen Windhauch, roch den Frühling, der vor der Türe stand. Doch ansonsten war sich völlig in sich. Dies war ein Zustand, den sie liebte. Sie fühlte sich vollkommen eingebunden in den Kosmos, war klar und ganz präsent. Dabei nahm sie oft nicht wahr, wenn sich etwas um sie tat. Es war ein ihr eigener Bewusstseinszustand, den sie in vollen Zügen genoss. Göttliche Intelligenz … wer bin ich und wie viele? … Im Zustand einer göttlichen Neutralität, the divine neutrality, ist diese Frage unerlässlich und gleichzeitig paradoxerweise unwichtig. Beobachtung, nur Beobachtung des Moments.

Wie lange sie so saß, konnte sie im Nachhinein nicht mehr sagen. Völlig unbemerkt hatte sich ein Mann auch auf die erweiterte Mauer rund um den Brunnen gesetzt. Marie nahm ihn erst wahr, als sie kurz die Augen öffnete. Da saß er. Dunkle, zerzauste Haare, unrasiert, zwei auffällige Ketten um den Hals. Einige Ringe an den Händen, die durchaus schön waren, seine Hände. Marie hatte einen Blick dafür. Augen und Hände. Von den Augen konnte sie im Moment nichts sehen. Doch die Hände beeindruckten sie vom ersten Moment an. Er hatte Jeans, eine dunkle Jacke, deren Farbe sie nicht ausmachen konnte, und ein ziemlich verdrücktes T-Shirt in einem sonderbaren Grauton an. Ansonsten nahm sie diesen Mann zwar physisch wahr. Er musste so um die vierzig sein. Doch es war vielmehr eine graue Hülle, die sich ihr präsentierte. Sie erschrak nicht mehr, denn sie war es von vielen Begegnungen gewohnt, dass Menschen leere Hüllen waren. Sie merkten es nicht. Manche hatten nicht einmal eine Seele. Auch das gab es. Sie waren sich selbst fremd und hatten sich von sich selbst völlig entfernt. Ein Schläfer. Vielleicht doch ein bereits Findender?

Wer bin ich und wie viele – diese Frage hatten sich die wenigsten gestellt. Göttliche Intelligenz war etwas aus Leerbüchern und vielleicht in Talkshows von Intellektuellen, die ansonsten nichts zu tun hatten, Diskutiertes. Doch es dominierten die leeren Hüllen, die Schläfer und die Rattenfänger mit ihren einfachen Botschaften. Je chaotischer es war, umso mehr von ihnen traten aus ihren Löchern hervor. Schade.

Marie beobachte den Mann aus dem Augenwinkel. So trostlos. So kraftlos. So einsam. So leer. So schwer. So hohl. So traurig. Das waren ihre Wahrnehmungen in diesen Momenten. Eine leichte Gänsehaut lief über ihren Rücken. Ein Zeichen dafür, dass sie richtig lag mit ihren Erkenntnissen und mit der Momentaufnahme. Doch etwas Unaussprechliches war da. Etwas, das sie vom ersten Augenblick, als sie ihn bemerkte, berührte.

Irgendwie schien er zu bemerken, dass sie ihn wahrnahm und was er in ihr auslöste, unbewusst. Er blickte sie kurz an, um dann wieder in sich zu versinken. Offenbar fragte er sich, ob man einander an diesem Ort ansprechen durfte.

So stand er nach einiger Zeit auf, nahm den gesamten Mut in seine Hände und sprach sie zögerlich und leise fragend in Englisch an. Dabei blickte er scheu und mit einem schiefen Lächeln zu ihr, die ihn offen und frei ansah. Marie merkte, dass dies nicht seine Muttersprache war und fragte ihn nach seiner Herkunft. So stellten sie rasch fest, dass sie eine gemeinsame Sprache hatten. Das machte viel möglich … die Stille des Ortes mit seiner Magie half dabei.

Er stellte sich vor, Philipp Morgensen, Endvierziger, Schauspieler, Musiker, nach Jahren des Ringens und Kämpfens durchaus erfolgreich und gut gebucht, jedoch viel unterwegs, unstet, extrem und fast brachial. Ein Ganz-oder-Garnicht-Typ. Heiß-oder-kalt-nur-nicht-lau. Unfähig, sich anderen Dingen als der Arbeit hinzugeben. Seine Arbeit und sein Leben waren ident. Er ging in ihr völlig auf. Auch wenn vieles, was früher selbstverständlich möglich war, in diesem Umbruch nur mehr ganz anders möglich war. Und doch im Moment völlig leer und ausgebrannt, weil er irgendwie auch mit dem anderen anstand. Wo noch hin? Noch höher? Noch weiter? Noch schneller? Was geschieht bei einer Vollbremsung, wo monatelang keine Arbeit möglich ist? Drohte dann der tiefe Fall, die große Depression? Wer bin ich und wie viele? Ja – diese Frage könnte dann aus der hintersten Ecke auftauchen, ungebeten und höchst unangenehm. Wer bin ich und wie viele?

Es sprudelte förmlich aus ihm heraus. Das Du kam ihm so über die Lippen. Marie akzeptierte es. Nein, das hier ist keine Bühne. Ja, das hier ist das Leben. Nein, das ist keine virtuelle Realität mit Green Screen. Ja, das hier ist anfassbar, physisch, wahrnehmbar. Ja, das hier ist etwas völlig Anderes, etwas, das er so noch nie erlebt hatte.

Sie war erstaunt über seine Offenheit, die seiner Erscheinung völlig widersprach. Das war etwas, das sie in Gesprächen mit Menschen, die rock bottom sind, die ganz am Bodensatz ihres Seins angekommen waren, bemerkte. Da zeigte sich eine unaufgeforderte Offenheit, vor allem wenn man einander überhaupt nicht kannte. Die Seele wurde förmlich nach außen gestülpt. Man hatte scheinbar nichts zu verlieren. Da konnte man leicht offen sein und musste keinerlei Wertung und Verurteilung fürchten. Irgendwie interessant.

Marie lauschte seinen Worten und merkte, dass dieser Mensch scheinbar völlig unspirituell und doch auf seinem ureigenen Seelenweg war. Spirituelle sind oft schnell mit ihrem Urteil über andere. Dass sie damit gänzlich unspirituell waren, blieb ihnen fremd. Und dass es unter den Spirituellen viele Gruppen gab, die einander oft spinnefeind waren, ist auch nicht unbedingt spirituell.

Marie hatte sich daher der Hermetik zugewandt, die viel differenzierter als die Spiritualität ist. Spiritualität war mittlerweile in vieler Munde. Doch sie blieb oft oberflächlich in ihrer Wahrnehmung. In der Hermetik fühlte sie sich mehr zu Hause, auch wenn es wiederum eine Etikette war. Sie waren eben doch primär Menschen und taten sich so unglaublich schwer damit, dass es mehrere Wahrheiten gibt, die zum Ziel führen können. … Und noch dazu hatte keiner von ihnen die absolute, ewig verbindliche Wahrheit in seinen Händen. Denn die gab es ebenso nicht, wie es Sicherheit nicht gab. Alles menschliche Konstrukte und Fiktionen.

Philipp wollte eine Auszeit von seinem künstlerischen Treiben. Er war im Finden von etwas, wo er gar nicht wusste, was es war. Dazu brauchte er keinen Virus, der ihn am Arbeiten hinderte. Sein ureigener Virus hatte sich bereits vor längerer Zeit in ihn hineingefressen. Das ließ sich nicht mehr verbergen. Er hatte ihn in vielerlei Hinsicht krank gemacht, seine Kreativität angefressen und sein Hirn vernebelt. Sein Herz war verschlossen. Das wirkte sich auch auf seine Arbeiten markant auf. Man kann sein Herz nicht selektiv verschließen. Da gibt es nur ein Entweder-Oder. Ganz oder gar nicht. Ein bisschen das Herz zu verschließen, das geht nicht. Auch wenn sich dessen viele nicht bewusst sind.

Wer bin ich und wie viele?

Marie saß da und nahm wahr. Sie liebte diesen Zustand, wo nichts geschah und alles gleichzeitig passierte.

Seine Worte kamen mittlerweile stoßweise, leise und gepresst. Nicht gerade sprechtechnisch vom Feinsten, doch sehr menschlich. Das gefiel ihr. Stimme und Aussprache waren besonders. Die Timbrierung hatte etwas Flirrendes, unglaublich Einnehmendes, gleich in welcher Tonlage. Es war keine gerade Stimme, kein einförmiger, monotoner Ausdruck. Die Stimmlage irgendwo im Baritonbereich und vor allem äußerst anziehend. Seine Aussprache war nuanciert und klar – trotz der momentanen Atemdefizite. Da waren viel Kraft, viel Klarheit, viel versteckte Energie, die er von irgendwo herholte. Von wo, das schien ihm gar nicht klar zu sein. Wahrscheinlich lief das in ihm unbewusst ab, so sehr war er darauf trainiert. Doch irgendwie war ihm vieles, was ihn ausmachte, in all den Jahren verloren gegangen. Er war müde von zahlreichen Auftritten, fast ausgebrannt und leer. Er war verunsichert, da so vieles nicht mehr planbar und auch gar nicht mehr möglich war. Er wusste, dass, wenn er nicht eine durchgängige Präsenz zeigte, er rasch weg vom Fenster war. Dabei – wäre er sich seiner Substanz bewusst, wüsste er, dass er nichts zu fürchten brauchte. Doch das war ihm fremd, noch. Jetzt war die Angst präsent, geprägt von unzähligen Glaubenssätzen.

Das war die beste Voraussetzung, um sich neu zu erfinden – dachte Marie im Stillen. Durch das Elend, die Angst, den Schatten, den eigenen Morast durchgehen, akzeptieren, vergeben, versöhnen. Das ist die einzige Chance, um ganz und heil zu werden. Es gibt dabei keine Abkürzung, keinen short cut, kein by-passing. Nein. All das gab und gibt es wahrlich nicht. Es war die harte Tour, der Marathon. Das wusste sie. Doch die Ernte war lohnend und vielfältig – und zwar unaufhörlich.

Marie war bereit, zuhören, in ihrer inneren Neutralität zu bleiben, nicht während des Sprechens von Philipp bereits über ihre Antwort nachzudenken. … Wer bin ich und wie viele?

Philipp fühlte sich durch Maries Nicken und Schweigen aufgefordert, weiter zu erzählen. Er hatte sich auf Empfehlung von einem Freund auf den Weg nach Glastonbury gemacht und war ohne Absicht unterwegs. Spirituelles Wellness. Vielleicht. Auch. Möglicherweise. Eventuell. Doch er hoffte, Antworten auf Fragen zu erhalten, die mehr gefühlt denn konkret in ihm unaufhörlich waren und gelegentlich tobten. Von Glastonbury hatte er keine Ahnung außer ein paar romantische Vorstellungen und ein bisschen Hippie sein. Philipp assoziierte den Ort als Auch-Musiker mit dem jährlich stattfindenden Festival. Doch das war erst Ende Juni dran. Bis dahin lag noch eine ganze Jahreszeit dazwischen, die viel mit sich bringen konnte, wenn man es zuließ.

Marie lauschte, nahm wahr, wie sie das immer machte und so kamen sie ins Gespräch. Es ist dieses aktive, vom gefühlten Mitdenken angeleitete Zuhören, das sie so sehr liebte und lebte.

Für Marie war es reizvoll, Philipp näher zu erkunden. Sie hatte keine Erwartungen, war sie doch in sich ganz und heil. Sie hatte alles, und brauchte nichts. Sie musste nichts, doch konnte und durfte sie alles. Sie war ausschließlich sich selbst und der Quelle verpflichtet. Das erleichterte vieles. Marie musste nicht drängen, nicht fragen. Sie konnte lauschen und fühlte sich seit ihrem Gang durch das Labyrinth geschützt, behütet, geführt. Es ist so als ob sie eine völlige Neuprogrammierung seither erhalten hatte und diese auch lebte. Das machte vieles einfacher. Der monatelange Umbruch, den sie bereits Jahre zuvor erlebt hatte, den konnte sie ruhig beobachten und schauen, was sich so zeigte.

Die Ruhe eröffnete ihr immer wieder Neues. So wusste sie, dass sich in diesem Moment zwei Seelen einander begegneten – jenseits von Raum und Zeit. Kein Beziehungsgegrummel, keine Streitereien, kein Ich will, kein jetzt mach‘ doch mal endlich, kein Herumerziehen, kein Hineindrängen in eine Ernsthaftigkeit, keine Eifersucht, kein Konkurrenzkampf, keine Über-Leidenschaft mit Dramen aller Art, kein Entweder-Oder, keine uralten Muster und Trigger.

Von Männern, die sich in ihre Energien hängen wollte, hatte Marie genug. Die Vampire und Dramakings waren Vergangenheit. Die kleinen Jungen, die nie erwachsen werden wollte, weil sie der Mutter nachhingen und in jeder Frau die Mutter suchten – und oft auch fanden, die hatten keinen Platz in ihrem Leben. Die Funktionalen und Pragmatischen, die keine Ahnung von Gefühl und Empfindung hatten und vor Angst alles von sich fernhielten. Alles auserzählt. Gottseidank. Beendet. Kein Wiederholungsbedarf. Ja – sie zog sie gar nicht mehr in ihr Leben. Wenn sie einander doch noch irgendwo begegneten, dann waren diese Männer hilflose, rückwärtsgewandte Jungen, die nichts mehr mit ihr anfangen konnten. Marie hatte ihre Lektionen gelernt. Und das war gut so.

So konnte sie sich gefahrlos dem Gespräch mit diesem Menschen hingeben, denn das war er für sie zuallererst. Der Sinn ihres Zusammenkommens war ein völlig anderer. Das war ihr vom ersten Moment an bewusst und sie war dankbar dafür.

Marie war absichtslos. Philipp interessierte sie als Mensch.

Das Gespräch zwischen beiden entspann sich ungezwungen. Philipp fragte Marie, warum sie nach Glastonbury kam. Marie erzählte von ihrem Sehnsuchtsort und dem Wunsch, schon seit einigen Jahren hier her zu kommen. Sie unterhielten sich über die Magie des Ortes. Über dies und das. Es war ein sanftes Kennenlernen. Wer bin ich und wie viele? Eine Frage, die sich im Zuge des Gesprächs immer wieder leise zeigte.

Die Vereinbarung zwischen den beiden war einfach: Ein Meister, der meinte, noch Schüler zu sein, kam zur Meisterin, um den Nebel hinter sich zu lassen und sein ‚Wer bin ich und wie viele‘ zu entdecken.

Er war neugierig, was Leben aus Maries Sicht bedeuten könnte, wie sie dieses erlernt hatte und auch lebte. „Ganz einfach – ich habe mich aus meinem Leben hinauskatapultiert und wurde wieder zurückbeordert. Das ist nun schon einige Jahre her. Seither hat sich alles in meinem Leben zum Guten verändert. Auch wenn der Weg nicht immer einfach war. Ich habe gelernt, zu vertrauen, zu erkennen, wann ich was zu tun und zu lassen habe. Das erleichtert vieles,“ führte Marie knapp aus.

„Dann bist du zu beneiden,“ stellte Philipp mit leiser, fast ausdrucksloser Stimme knapp fest. Doch diese unglaublich schöne Timbrierung, sie elektrisierte Marie, so scheinbar kraftlos konnte Philipp gar nicht sein. Diese Stimme, dieser Ausdruck, diese Nuancierung.

„Ich meine, dass wir nie Leben tauschen wollen. Wenn man einen angenehmen Zustand erreicht hat, dann ist es oft schwer zu vermitteln, wie man dazu kam. Zudem ist ‚angenehm‘ eine subjektive Kategorie, die sich jeglichem Vergleich und Wettbewerb entzieht. Doch glaube mir, Neid ist völlig unangebracht. Du wolltest, wenn du mehr wüsstest, keineswegs mit mir tauschen. Und das ist gut so. Du hast deine Aufgaben. Ich habe meine Aufgaben,“ sagte Marie deutlich hörbar.

Es ist das Missverständnis vieler, wenn sie meinten, anderen ginge es besser als ihnen. Dies ist Ausdruck eines gravierenden Selbstwertdefizits. Es ist auch der Mangel an Erkenntnis für den jeweils zugeeigneten Platz im Kosmos. Wettbewerb und Vergleich als Sargnägel für wahres Lebensglück?

Philipp sank wieder in sich zusammen. Doch für Marie war eines bereits jetzt klar. Der Weg war aus ihrer inneren Fülle und Philipps momentaner, scheinbaren inneren Leere geboren. Scheinbar, denn sie nahm viel mehr in ihm wahr als er selbst. Sie konnte und wollte geben. Er konnte und wollte nehmen – und auch entdecken. So entwickelte sich ein Fluss zwischen beiden, denn beide waren angehalten, auch die andere Bewegung jeweils zu vollziehen. Nur das machte den Fluss möglich. Nur das machte einen fairen Ausgleich möglich.

„Hast du Lust, mir Glastonbury und seine Orte zu zeigen?“ fragte Philipp Marie unvermittelt. Sie sah in fragend an. Erstmals blickte sie bewusst in seine Augen, die ein unergründliches Blau hatten. Marie war erstaunt, was sie lesen konnte. Es war ein Blick in seine Seele. Und dieser Blick legte unendlich viel frei an Verletzungen, an Verletzlichkeit, an Enttäuschungen, an kräftezehrenden Momenten und Phasen, an Wut, Zorn, Stolz, Kraft, Unsicherheit, an Wissen wollen, an Vergänglichkeit, an verlorener Liebe, an Leben in seiner gesamten Tiefe und Breite. Marie war nicht einmal überrascht darüber. Sie hatte es gewusst. Die Schwere und Dichte, die sie im ersten Moment wahrnahm, überdeckte all die Tiefen und Breiten, die sie jetzt in diesem Augenblick wie einen Film wahrnahm. Was für ein Diamant verbarg sich hinter all dem?...

Die Frage „Hast du Lust, mir Glastonbury und seine Orte zu zeigen?“ hallte in Marie nach. Nein, sie schwebte zwischen ihnen. Das war ursprünglich nicht ihr Plan gewesen, Fremdenführerin zu sein in einem Ort, den sie selbst erst erkunden wollte. Auch hatte sie keine Lust auf die geistig-energetische Entwicklungshelferin. Da war sie durch. Doch irgendetwas in ihr ließ sie antworten: „Lass es mich so sagen. Du kannst mich gerne zu Orten begleiten und sie mit mir erkunden. Erwarte nichts und du erhältst alles, auch die Antworten auf deine Fragen.“

Philipp sah sie das erste Mal so richtig an. Vor ihm saß eine Frau, deren Alter er nur schwer einschätzen konnte. Vielleicht Ende Vierzig. Er konnte es nicht sagen. Auch nicht, dass er sich fast um zehn Jahre nach hinten verschätzt hatte. Graue, kurze, toll geschnittene Haare, die sie ein bisschen verwegen aussehen ließen, bestechend grüne Augen, kaum geschminkt und in schwarz gekleidet, bis auf ihre roten Sneakers, eine kleine rote Tasche und ein passendes Halstuch in unterschiedlichen Rot- und Pinktönen. Ihr pinkfarbiges Shirt und ihre rote Jacke konnte er unter der schwarzen Jacke nicht erkennen. Was ihm auffiel - sie lächelte immer wieder fein und weise. Er wurde nicht schlau aus ihr. Sie hatte nichts mit jenen Frauen gleich, die ihn bislang faszinierten. Er spürte, dass sie in sich ruhte, nichts brauchte und einfach sich selbst war. Das verunsicherte ihn. Das verunsicherte ihn sehr. Ihn, dem die Frauen vor die Füße fielen, die ihm nachliefen und ihn anhimmelten, sehr sogar. Philipp and his Groupies Gang. Sie liebten ihn und er liebte ihr Anhimmeln und ihr ihm Nachlaufen. Doch ansonsten hatte er nichts mit ihnen am Hut.

Nichts von all dem präsentierte Marie. Sie war einfach. Sie war und ist Marie.

„Was kann ich von ihr erwarten?“ fragte sich Philipp in Stille.

Marie antwortete umgehend. „Die Antwort habe ich dir bereits gegeben.“.

Philipp war völlig perplex. Konnte sie Gedanken lesen.

„Ja, so ähnlich …,“ meinte Marie leise und lächelte sanft.

Philipp war für einen Moment ziemlich verwirrt. Er musste aufpassen, was er dachte, denn offenbar konnte Marie ihn lesen. Sie lächelte innerlich. Es ging vielen so mit ihr.

„Hier findest du alles, was du zum Werden und Vergehen, zu unseren Nebeln, in denen wir herumgeistern, zur Maya, zum Schleier des Vergessens und zur Bewusstwerdung wissen musst. Du findest so viele Hinweise zur Allverwobenheit, zur Allverbundenheit. Du findest alles zu den vier Elementen, der Eingebundenheit in das kardinale Kreuz an Energien, zum Schöpfungsmythos und dazu, wie du das leben kannst, das Einheitswissen, über acht räumliche Fixpunkte und vier fixe und vier variable Festtage. Schwellenzeiten und Schwellenräume sind hier fester Bestandteil. Alles ist hier auf einem kleinen Flecken vereint. Wenn du offen bist, erhältst du auch Antworten auf deine Frage Wer bin ich und wie viele. Doch gib nichts vor. Bleibe offen und frei. Wer Augen hat, der sehe. Wer Ohren hat, der höre …,“ meinte Marie leise.

„Woher weißt du das alles?“ fragte Philipp, der sich auf eine leichte und lässige Fremdenführertour eingestellt hatte, doch nicht auf eine existentielle Reise mit so viel Tiefgang, auch wenn ihm diese sehr gut zu Gesicht stand, so sehr befand er sich in einer inneren Malaise.

„Das ist kosmisches Wissen. Auch du weißt es, kennst es. Doch du hast es vergessen. Es ist in dir, doch es ist mit vielem aus dem Außen, das scheinbar wichtiger ist, zugedeckt, mit Ängsten, mit Glaubenssätzen, mit Mustern. Es geht immer um den weisheitswissenden, in sich ganzen, selbstbestimmtem Menschen, der in der inneren Einheit natürlich lebt. Damit lebst du gut und wahrhaftig. Alles andere ist aus der Zeit gefallen. Um das zu erkennen, musste die Menschheit tief gebeutelt werden. Doch es lag alles klar und deutlich vor der Menschheit. Wir wissen, dass das Göttliche beim freien Willen des Menschen bislang endete. Doch auch da hat sich etwas verändert. Der freie Wille des Einzelnen wird so lange respektiert, bis der Kosmos feststellt, dass er stagniert und blockiert und das Ganze aufs Spiel setzt. Wenn dieser Zustand wie ein Virus auf das Kollektiv überspringt und sich länger hält, führt er zu krassen Ungleichgewichten, Ungerechtigkeiten und Verzerrungen im großen Ganzen. Auch das akzeptiert der Kosmos einige Zeit. Doch wenn wir Menschen es zu bunt und viel zu lange treiben, wegschauen, ignorieren und es besser wissen wollen, dann greift der Kosmos ein. Da ist keiner von außen da, sondern es geschieht durch das Zusammenspiel von Umständen etwas, das einen aus der Komfortzone und der ach so gewohnten Bahn wirft. Denn: Jedes System, ob Mensch, ob Tier, ob die Natur, ob die Erde, ob der Kosmos, strebt immer nach Erweiterung, nach Entfaltung und nach Ausgleich. Exzesse sind nicht vorgesehen. Leben in ausschließlich einem Pol ist nicht auf Dauer möglich und auch nicht erwünscht. Es ist der Ausgleich, der vorgesehen ist. Genau der fehlt dir. Doch den kannst du dir wieder holen. Das war ja auch dein Ausgangszustand vor vielen Jahren. Du kannst dir die Zahl acht liegend vorstellen; sie ist das Symbol für Harmonie, für die Ausgleichung. Die Lemniskate – sie prägt viele unserer Lebensbereiche. Du stehst vor einer, der Vesica Pisca. Lasse ein wenig deine Fantasie und dein Vorstellungsvermögen spielen. Und dann die Dreizehn. Sie ist das Symbol für das neue Zeitalter, für das Zeitalter der Verbindung auf allen Ebenen des Seins.“

„Allein hier,“ meinte Philipp, „allein an diesem kleinen Ort erinnert mich alles ans Werden und Vergehen, an ein natürliches Wachsen, was ich komplett in meinem Termin- und Auftrittsstakkato vergessen, verlernt habe. Ich war so gierig, immer wieder und wieder zu arbeiten. Jetzt weiß ich, ich bin vor mir selbst davongelaufen. Nichts war schlimmer, als in mein eigenes Angesicht zu blicken. Ich kann nicht einmal sagen, wer und was ich bin, wofür ich stehe und wie es weitergehen kann und soll. Wer bin ich und wie viele?“

„Das kannst du alles wieder erlernen. Es ist verschüttet. Und im Moment ist alles ein bisschen viel. Die Welt wird aus den Angeln gehoben und du tust dir schwer, dich davon abzugrenzen. Göttliche Neutralität ist das ‚Zauberwort‘, das keines ist. Mache kleine Schritte und erkenne - du bist immer im Fluss des Lebens. Mal reißend, mal dahinfließend, träge, bequem, doch immer in Bewegung, aufwärts, vorwärts. Der Kreislauf von Werden und Vergehen ist ein ganz natürlicher Teil davon, genauso wie du ein Teil davon bist. Eines kann ohne das andere nicht sein, weil Leben Entfaltung und Ausweitung ist und damit Bewegung braucht. Der Brunnen hier mit dem Wasser als Symbol für die liegende Acht, für die Vereinigung aus Männlichem und Weiblichen, für das pure, lebendige Einssein, ist ein wundervoller Startpunkt. Unser gesamtes Dasein ist ein Prozess, der seit jeher in Licht und Schatten, in warm und kalt, in hell und dunkel maßgeblich eingebunden ist. Es sind Urqualitäten, die unser Dasein durchwirken. Wir sind eingewoben in die Textur als Licht und Schatten – sowohl in Raum als auch in Zeit. Wir sind Teil der göttlichen Alchemie.“

Stille entspann sich zwischen den beiden. Vor zwei Stunden hatten sie einander noch nicht gekannt. Nun sprachen sie miteinander, erzählten voneinander, von ihren Wünschen, von ihrem Wissen, von Existentiellem.

Marie freute sich auf zahlreiche Entdeckungen an ihrem Sehnsuchtsort.

Philipp wusste gar nicht, was er eigentlich wollte. Er hatte einen Weg begonnen, ohne zu wissen, wo dieser hinführen sollte. Halb zog es ihn, halb sank er hin … kam ihm umgehend in seinen Sinn. Naja – die Klassiker sind ja doch noch zu etwas gut. Und … die Frau interessierte ihn. Dass sie ihn bereits in diesen Momenten faszinierte, konnte er noch nicht vor sich zugeben ... Paradoxon … Dass es sein Herz zusammenzog, erkannte er in diesem Moment noch nicht, oder er wollte es aus Angst nicht erkennen. Dass ihn etwas berührte, das er nicht einordnen konnte, schob er für den Moment weg. Es würde ihm zu wehtun, für den Moment. Doch irgendwann?

Marie fühlte den kühlen Frühlingswind auf ihrem Gesicht. Licht und Schatten spielten rund um den Brunnen. Sie dachte an die bald stattfindende Tag-und-Nachtgleiche, an den eigentlichen Beginn des für sie neuen Jahres. In ihr war Vorfreude auf einen Neubeginn.

Philipp sinnierte, war noch unsicher, was das alles bringen sollte. Kluge Fragen ja. Doch er wollte der Frau nicht zur Last fallen. War sie sein Typ? Wer war sein Typ? Was sind das für eigenartige Fragen? Es ratterte in seinem Kopf, der sich so gar nicht beruhigen wollte. Wann hört das denn auf? … Ich bin es leid, in diesen Kategorien und Schubladen zu denken.

„Darf ich dir noch ein bisschen etwas weitergeben?“ durchbrach Marie die Stille, die ihr zu bleiern wurde.

„Natürlich, entschuldige. Ich bin ein wenig abgedriftet. Das ist eine wahrlich ungewohnte Situation für mich. Du bist so ruhig, so in dir ruhend. Das beunruhigt mich, weil ich wahrnehme, wie weit ich von mir weg bin. Ja – bitte, unbedingt. Lass mich hören,“ entgegnete Philipp.

„Wenn du mich begleiten willst, dann setze dich auch mit der Polarität auseinander. Sie ist allpräsent und sie ist unser vielfältiger Erfahrungsbereich als Mensch und als Seele. Du hast sie vor dir. Kann und soll man diese Polarität überwinden? Was ist an diesem Wechsel, an diesem Zyklus so interessant, so belebend? Wie kann man altes und neues Wissen um das Werden und Vergehen verweben? Was zeigt uns die innere Logik im Jahreskreis von Gaia und welche symbolischen Zusammenhänge und Mythen als Sprache der Seele gibt es? Wie hängen Schwellenorte, Schwellenzeiten und Existenzbotschaften miteinander zusammen … Das sind Fragen, die uns begleiten werden. Und zahlreiche weitere werden am Weg auftauchen. Wir werden einige Antworten erhalten. Wir werden neue Fragen finden. Antworten sind immer für Laien. Fragen sind das Feld des Weisen. Wähle aus, wo du hingehören willst.“

Philipp blickte wieder in Maries grüne Augen und dachte bei sich, „Was wird das? Worauf lasse ich mich da ein? Ich kenne diese Frau nicht und spreche mit ihr über Grundsätzliches, über meine Gedanken, meinen Schmerz, meine tiefsten Gefühle. Da kommt doch sonst keiner heran. Das verstecke ich seit Jahren so unglaublich gut.“ Philipp war zutiefst verunsichert und Marie fühlte das. „Naja, ich habe nichts mehr zu verlieren,“ kam es aus ihm. Er wollte es mit sich versuchen.

Marie schlug Philipp vor, dass sie einander am nächsten Tag um zehn Uhr wieder bei der Kelchquelle trafen. Sie würde sich einiges sowieso für sich überlegen und wollte den Rest des Tages für sich. Er stimmte zu und sie verabschiedeten sich.

Philipp blieb noch sitzen, während Marie durch die Gärten zu einem der Pools ging und sich dort kurz niederließ. Sie reflektierte die Begegnung. Das konnte interessant werden. Sie war frei. Sie fühlte sich wohl.

Nach einiger Zeit machte sie sich auf den Weg zurück in ihr Hotel. Sie genoss die Wärme und ein kleines Essen. Das genügte ihr. Den Rest des Tages ruhte sie, räsonierte, vertrat sich am Nachmittag mit einem kleinen Spaziergang durch die Stadt ein wenig die Beine. Dabei nahm sie sich frische Bratkartoffeln mit, die sie im Gehen aß. Das Frühstück war derart ausgiebig gewesen, dass ihr die Kartoffeln heute genügten.

Und – sie hatte genügend Lesestoff in ihrem Hotel gefunden. Den wollte sie durchforsten. Vielleicht gab es noch etwas Interessantes, das mitgenommen werden wollte. Nach den Kartoffeln ging es ihr dann so richtig gut.

Ja – dieser Tag konnte sich sehen lassen. Zufrieden ging sie zu Bett – im Wissen und in Vorfreude auf das, was kommen mochte. Wer bin ich und wie viele? Diese Frage machte ihre keine Angst. Im Gegenteil – sie war neugieriger denn je, was sich ihr an Antworten präsentieren würde.

Die Freispielerin und der Findende

Подняться наверх