Читать книгу Da ist mehr, noch so viel mehr ... - Andrea Volkelt - Страница 9

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Ein Anfang

Nach meiner Schulzeit im Jahre 1982 trat ich eine Lehrstelle als Bürokauffrau in einem kleinen Familienbetrieb in Rosenheim an. Meine Ausbilderin formte mich nicht nur beruflich. Sie war ein spiritueller Mensch. Das bemerkte ich erst im Laufe der Zeit. Ihre ruhige Art mit Menschen und Situationen umzugehen, faszinierte mich. Neben den Anweisungen fand sie immer wieder Zeit für intensive Gespräche über meine inneren Ziele. Dabei tastete sie sich behutsam vor. Vertrauensvoll sprachen wir über Religionen, Glauben und die Möglichkeit, dass da mehr sein könnte als das, was wir sehen. Bald empfahl sie mir erste Bücher. Neugierig geworden, besorgte ich mir den Lesestoff und nach jeder Lektüre tauschten wir uns aus. Einmal waren es die Nahtoderfahrungsberichte, ein anderes Mal ging es um den Buddhismus und die traditionellen Entwicklungsstufen eines Mönchs. Mit Disziplin, Geduld und innerer Stärke lernte hier mein Protagonist seinen bewussten Zugang zur Seele. Das war für mich eine spannende und bemerkenswerte Lehrzeit.

Nach zwei Jahren Ausbildung wechselte ich unmittelbar in einen holzverarbeitenden Betrieb. Auch dort fühlte ich mich wohl – egal wie hektisch es wurde – im Team blieb immer Zeit für Spaß und Witze. Und den Duft von frisch verarbeitetem Holz liebe ich heute noch genauso wie damals.

Im Juli fuhr ich mit meiner Freundin Evi zum Zelten auf die Insel Elba. Mit unserem Camping-Reiseführer in der Hand steuerten wir einen Platz nach dem anderen an. Der Dritte gefiel uns. Die Campingparzellen waren großzügig angelegt und die Waschhäuser modern und sauber. Während wir das Zelt aufstellten, lugten unsere Nachbarn mit zweifelnden Blicken zu uns herüber.

»Die sind wohl gespannt, ob wir das ohne Hilfe hinbekommen«, flüsterte ich Evi ins Ohr, die neben mir kniete und die Heringe in den Boden drückte. »Aber warte nur, wie sie schauen werden, wenn ich jetzt meinen Gummihammer aus dem Auto hole und die Heringe in den Boden klopfe.«

Sie grinste.

Mit einem »Traraaa und fertig« war unsere Baumaßnahme beendet. Vor dem Zelt stellten wir ein Tischchen und die Stühle auf. Mittlerweile war es schon dämmrig. Schnell deckten wir den Tisch und sahen während des Abendessens der rotgefärbten Sonne zu, wie sie im Meer untertauchte. Wir beschlossen unseren ersten Urlaubstag mit einem Gläschen Wein. Für mich fühlte es sich an wie »angekommen sein« und ich war sehr zufrieden. In dieser Nacht schlief ich tief und fest und von Evi hörte ich keinen Laut. Irgendwann riss uns ein Trommeln aus dem Schlaf, vermischt mit einem Heulen und Pfeifen. Es war bereits hell, die Zeltwände über uns flatterten wild. Erschrocken blickten Evi und ich uns um, bis wir endlich verstanden, was draußen vor sich ging: Rhythmisch prasselte ein Platzregen auf die Zeltsegel, als spiele jemand mit einem Schlaginstrument. Zum Glück war unser Zelt dicht und hielt dem heftigen Sturm stand. An Schlaf war trotzdem nicht mehr zu denken. Wir lagen nebeneinander und ließen diese besondere Stimmung auf uns wirken. Mit der Zeit wurde die Musik leiser und der Regen ließ nach.

Evi krabbelte zum Zelteingang und öffnete den Reißverschluss. Sie lugte hinaus und sagte: »Alles in Ordnung bei uns, aber bei den Nachbarn …«

Schnell befreite ich mich aus dem Schlafsack und spähte ebenfalls hinaus. Tatsächlich lagen einige Zelte zusammengesunken am Boden, Stangen von Vorzelten waren umgefallen und Planen davongeweht. Langsam krochen die umliegenden Leute aus ihren Quartieren und begutachteten die Schäden.

Wir saßen schon beim Frühstück, als uns einer der Nachbarn ansprach, ob wir ihm nicht den Gummihammer für die Heringe leihen könnten.

»Selbstverständlich«, sagte ich, sprang von meinem Stuhl auf und ging zum Auto.

»Habt ihr vielleicht auch noch ein paar Erdnägel, die ihr uns borgen könnt?«, rief er mir hinterher.

Ich kramte eine kleine Sammlung aus meinem Kofferraum und überließ ihm das Werkzeug. Man soll doch niemanden unterschätzen, nur weil man jung, blond und ein Mädchen ist, dachte ich und fühlte mich großartig. Mein Vater hatte immer gesagt: »Es kommt nicht immer auf das WAS, sondern auf das WIE an.«

Am Vormittag spazierten wir bepackt mit Badesachen und Büchern zum Strand. Zwischen dem Schwimmen, Sonnenbaden und Quatschen fanden wir endlich Zeit zum Lesen. Sofort vertiefte ich mich in eine Autobiografie. Sie spielte sich in Indien ab und handelte von der Entwicklung eines kleinen Jungen zum erwachsenen Yogi. Die Ausbildung war streng. Er hatte einen interessanten Lebensweg und schwierige Aufgaben zu bewältigen. In meinem Kopf entstanden bunte Bilder, wie ein Film. In dem Kapitel, das ich gerade las, sammelten sich viele Menschen am Meer. Bewegend wurde beschrieben, wie aus dem Nichts eine riesige Welle aus dem Indischen Ozean rollte und dort den gesamten Strandabschnitt überschwemmte. Die Vorstellung dieses Erlebnisses wühlte mich auf. Und im selben Moment bäumte sich vor uns das Meer auf und eine Welle platschte über mich. Instinktiv riss ich beide Arme hoch und rettete so mein Buch. Tropfnass sprang ich auf. Um uns herum das Geschrei der Menschen, das bei den meisten unmittelbar in Gelächter überging. Niemand hatte mit diesem wilden Gruß des Meeres gerechnet. Evi robbte ihrem Buch hinterher. Die Welle trug es von ihr fort. Endlich fasste sie es. Ein Bild für die Götter, dachte ich und lachte laut. Den Menschen um uns herum ging es ähnlich. Viele sammelten irgendwelche Gegenstände, Bücher, Hefte oder Sonnencremetuben ein.

Langsam beruhigte sich das Ganze. Evi und ich wrangen unsere Badetücher aus und setzten uns in den Sand. Ich wollte unbedingt weiterlesen und fand auch schnell wieder in die Geschichte. Ein paar Kapitel später las ich von Menschen, die Drachen mit vielen bunten Flatterbändern in den Himmel schickten. Sie hielten sie an Schnüren fest und ließen sie vom Wind tragen. Frische, grelle Farben schmückten den Horizont. Überwältigt von den Bildern in meiner Vorstellung, nahm ich kurz Abstand von dem Text und schaute in den Himmel. Hätte ich nicht schon auf dem Boden gesessen, wäre ich aus allen Wolken gefallen. Hier im seichten Wasser an unserem Strand standen junge Leute und Kinder und ließen Drachen steigen. An keinem der Tage zuvor hatte hier jemand derartiges aufgezogen. Für heute ist Schluss mit Lesen, dachte ich. Diese Parallelen sind mir nicht mehr geheuer.

»Evi, schau mal da drüben!« Ich deutete zu den jungen Leuten. Eine Weile betrachteten wir das Schauspiel und ich fragte sie, was sie davon hielt, dass Handlungen, die ich eben gelesen hatte, hier in der realen Welt zeitgleich passierten. »Du kannst mir doch bestätigen, dass vorher weder eine Welle so weit herausgetreten ist, noch dass wir jemals vorher an diesem Strand Menschen mit Drachen gesehen haben, oder?«

Evi schüttelte den Kopf. »Ich kann es mir auch nicht erklären.«

Zurück aus dem Urlaub, überfielen mich meine Kolleginnen mit einer interessanten Neuigkeit: Ein junger Mann war zwischenzeitlich eingestellt worden. Er gehörte zu einer anderen Abteilung, aber er musste schon einen gewissen Eindruck hinterlassen haben, wenn die Damen aus dem Team eine so große Sache daraus machten.

Ich dachte nur: Meine Güte, was die Mädels schon wieder haben …

Wenige Tage später kam besagter Mann in unsere Abteilung und traf auf mich. Oder ich auf ihn. Auf jeden Fall traf es mich wie ein Blitz und zauberte mir schlagartig eine ganze Schmetterlingsmannschaft in den Bauch. Auweia, was war das denn?

Er fragte nach einem Auftrag.

Ich nickte. »Ja, ähm, klar. Moment bitte.« Meine Wangen wurden heiß und ich konnte regelrecht spüren, wie rot sie sein mussten. Das war mir so peinlich. Als ich ihm den gewünschten Auftrag an den Counter brachte, konnte ich ihm kaum in die Augen sehen. Er war mehr als einen Kopf größer als ich. Unsicher linste ich nach oben und blickte in ein schmunzelndes Gesicht. Breit grinsend lächelte ich zurück. Er nahm mir wortlos die Belege aus den Händen, drehte sich um und verließ unser Büro.

Halleluja, ich bin doch kein Teenager mehr, der sich wegen so eines Lächelns so ungeschickt benimmt. Wie kindisch, dachte ich und ging wieder zum Schreibtisch.

Meine beiden Kolleginnen schauten mich bedeutungsvoll an.

»Was?«, fragte ich vermutlich etwas zu laut.

Sie feixten und antworteten fast aus einem Mund: »Nichts. Alles in Ordnung.«

Nun war es etwas schwierig, meine Konzentration wieder auf meine nächsten Aufgaben zu richten. Also ging ich kurz entschlossen für kleine Mädchen. Irgendwie musste ich mich beruhigen. Wie soll denn das bei einem nächsten Zusammentreffen werden?, ging es mir durch den Kopf. Da sollte ich dann doch etwas normaler wirken. Aber was bitteschön ist schon normal, wenn so ein fescher Mann vor mir steht und mein Herz sich fast überschlägt?

Die nächsten Tage wartete ich ständig darauf, dass der neue Kollege wieder unser Büro betrat. Der Tag kam – und er direkt auf mich zu.

»Übrigens, ich bin Sigi, da haben wir es das letzte Mal tatsächlich versäumt, uns vorzustellen.« Er streckte mir die Hand entgegen und sah mich erwartungsvoll an.

»Ähm, ja, das stimmt, ich bin Andrea, freut mich sehr«, antwortete ich und fasste seine Hand. Und in dem Moment, in dem meine kleine Hand mit seiner regelrecht verschmolz, durchflutete mich eine Wärme. Sie breitete sich in meinem ganzen Körper aus und erfüllte mein Herz. Eine wunderbare Geborgenheit durchströmte mich. Für ein paar Sekunden dachte ich, würde die Zeit anhalten. Nichts um mich herum nahm ich wahr, nur das laute Pochen meines Herzens klopfte bis in beide Ohren und ein wildes Flattern machte sich breit in meinem Bauch. Nach einer gefühlten Ewigkeit lösten wir unsere Berührung und schüchtern ließ ich mich auf den Bürostuhl nieder.

Ein paar Tage später und einige kurze Begegnungen mehr trafen wir uns zufällig nach Feierabend auf dem Parkplatz. Aufgeregt und unsicher, wie ich mich verhalten sollte, wollte ich in mein Auto steigen. Ich war nicht mutig genug, ihn anzusprechen. Sigi sah mich, lächelte und sprach mich an. Ich merkte wohl, dass es auch für ihn eine Freude war, mir unentdeckt von weiteren Kollegen zu begegnen. Zuerst plauderten wir noch über Belanglosigkeiten, bis er mich endlich fragte, ob wir uns nicht auf einen Kaffee treffen wollen.

So verabredeten wir uns für das Wochenende.

Voller Aufregung und überpünktlich erschien ich am vereinbarten Treffpunkt. Als Sigi endlich vor mir stand, sahen wir uns lange in die Augen. Da war so ein anziehendes Strahlen in seinem Blick, warm und schützend. Schelmisch und klug und mit einer Tiefe, wie ich sie noch in keinen anderen Augen gesehen hatte. Davon wollte ich mehr.

Der Nachmittag verlief traumhaft. Wir hatten so viel Gesprächsstoff, die Zeit verging wie im Flug. Längst war es Abend geworden und das Café wollte schließen. Vor den Autos quatschten wir weiter, bis uns kalt wurde.

Den Hinweis von Sigi, dass er kommenden Freitag mit seinen Freunden auf einem Faschingsball sei, verstand ich als verborgene Einladung, ebenfalls dort hinzukommen.

Wir waren zwar nicht fest verabredet, suchten uns aber geradezu. Nachdem wir uns dann endlich gefunden hatten, tanzten wir den ganzen Abend durch.

Und schneller als gedacht genossen wir weitere Verabredungen.

An einem Wochenende stellte Sigi mich dann offiziell seinen Freunden vor. Ich war sehr aufgeregt. Was, wenn sie mich nicht mochten? Doch die Sorge war unbegründet. Die Gruppe empfing mich so herzlich, als würde ich schon ewig dazugehören. Wir waren ein netter Haufen, und eine meiner bis heute besten Freundinnen lernte ich dort kennen.

Blöderweise hatte ich meinen Urlaub für das Jahr bereits geplant, als sich die Liebe zwischen Sigi und mir festigte. Gemeinsam mit einer Kollegin aus der Buchhaltung sollte es für drei Wochen in die USA gehen. Ich erzählte Sigi davon und dann erfuhr ich von ihm, dass auch er bereits gebucht hatte. Und das ausgerechnet in den drei Wochen, bevor ich in die USA flog. Das wären sechs Wochen ohne ihn. Schon der Gedanke daran löste ein unangenehmes Ziehen in meinem Magen aus. Ich wollte ihn nicht so lange vermissen müssen und deshalb schmiedete ich einen geheimen Plan. Dabei kam mir ein Mädchen aus der Clique zu Hilfe, die wegen einer Familienfeier nachreisen musste. Ihre Eltern hatten einen Fahrer organisiert, der sie zu den Freunden auf die Insel Rab bringen würde. Das war meine Chance!

Der Tag kam, an dem Sigi mit seiner Clique aufbrach.

Ich war so traurig. Morgens standen wir vor den Garagen, wo der vereinbarte Treffpunkt mit allen anderen war. Sigi packte die Reisetasche in den Kofferraum seines Autos und überprüfte das auf dem Trailer angehängte Motorboot, ob alles gut verschnürt und verzurrt war. Langsam trudelten die Freunde der Reihe nach ein, voller Vorfreude und guter Laune, während meine Stimmung immer trauriger wurde. Unter lautem Gelächter stiegen sie in die Autos. Ich wollte mir den Abschiedsschmerz vor den anderen nicht anmerken lassen und kämpfte mit den Tränen. Ein brennender Kloß drückte sich in meinen Hals.

Sigi kam auf mich zu, umarmte mich und sah mir liebevoll in die Augen. Er vermittelte mir wieder eine tiefe Geborgenheit und gleichzeitig eine Sicherheit, dass ich mir keine Sorgen zu machen brauchte. Es würde alles gut gehen und die Zeit des Wiedersehens würde kommen. Schließlich musste er mich loslassen. Er stieg als letzter ein und startete sein Auto. Der Motor brummte und sie fuhren los. Drei Autos hintereinander.

Da stand ich nun hilflos und unglücklich und winkte ihnen nach, solange ich sie sehen konnte. Unmittelbar danach eilte ich zu meinem Auto. Ich wollte nur irgendwohin, wo mich keiner sah, damit ich meinen Tränen freien Lauf lassen konnte.

Es dauerte, bis ich mich endlich beruhigte, und von diesem Moment an hielt ich mich an dem Gedanken an meinen Plan fest. Eine große freudige Überraschung würde das werden.

Endlich war es soweit, der Tag meines Vorhabens, mit dem Zug nach Rijeka zu fahren und weiter auf die Insel Rab zu reisen, kam näher. Am Freitag brachte mich meine Mutter um Mitternacht zum Bahnhof. Ich stieg ein und setze mich in ein Abteil, in dem bereits eine junge Mutter mit ihrem etwa siebenjährigen Kind saß. Die Frau sprach mich an. Überdreht sprudelte mein geheimer Plan aus mir heraus. Die Frau hörte mir aufmerksam zu und bot mir an, mich vom Bahnhof in Rijeka zur Fähre bringen zu lassen. Sie würde von ihrem Mann abgeholt werden, und er könnte einen kleinen Umweg in Kauf nehmen für meine bevorstehende Überraschung. Glückselig saß ich ihr gegenüber. Wenn´s läuft, läuft´s, dachte ich und konnte mich kaum mehr ruhig halten vor lauter Vorfreude auf das baldige Wiedersehen und Zusammensein mit Sigi. Als der Zug in unseren Zielbahnhof eintraf, stiegen wir gemeinsam aus und gingen auf den Mann meiner Zugnachbarin zu. Die Frau erklärte ihm meinen Plan und brachten mich zur Fähre. Ich bestieg das Schiff und suchte mir an Deck einen schönen Platz. In tiefen Atemzügen sog ich diese wunderbare Luft ein. Den salzigen Duft des Meeres, die Prise, die sofort das Gefühl von Urlaub auslöste und zusätzlich die Freude verstärkte, so nah am Ziel zu sein. Das tat gut. Die Fähre legte ab und langsam merkte ich, wie mir die Müdigkeit in alle Glieder kroch.

Irgendwann rüttelte mich ein braun gebrannter Mann aus dem Schlaf, um mir mitzuteilen, dass wir gut angekommen seien. Da hätte ich beinahe das Aussteigen verpennt. Als Letzte verließ ich die Fähre.

Nun stand ich also auf der Insel Rab und fühlte mich trotzdem irgendwie verloren. Vom Ferienhaus der Clique wusste ich nur, dass es in der Nähe eines Hotels mit angesagter Disco lag. Am Informationsschalter der Fähre fragte ich, ob sie diese Unterkunft kennen. Die Dame am Schalter verneinte und verdrehte genervt die Augen. Vermutlich, weil viele Touristen vor mir schon »blöde« Fragen gestellt hatten. Da fiel mir ein, dass ich die Telefonnummer hatte. Ich sah mich nach einer öffentlichen Telefonzelle um, wechselte mein Geld in die richtige Währung und ging zum Telefonieren. Ich wählte die Nummer und eine automatische Ansage teilte mir mit, dass diese Nummer nicht existierte. Das konnte doch nicht wahr sein! Niedergeschlagen legte ich den Hörer auf die Gabel und verließ die Telefon-Kabine. Jetzt war ich so kurz vorm Ziel und merkte, dass ich unnötig Zeit verlor. Was mach ich, was mach ich, was mache ich?, hämmerten meine Gedanken wie auf einen Amboss. Eine Unruhe übermannte mich und ich ging ein paar Schritte auf und ab, um mich wieder zu beruhigen. Aber das funktionierte nicht. Die Aufregung war zu groß. Die Sonne zu heiß. Und ich inzwischen kurz vorm Verzweifeln.

Plötzlich trat ein junger Mann auf mich zu und fragte auf Deutsch: »Was ist denn dir passiert?«

»Ich will meinen Freund, der seit ein paar Tagen hier ist, überraschen. Jetzt weiß ich die genaue Adresse nicht, und die Telefonnummer, die ich habe, ist auch falsch. Keine Ahnung, was ich jetzt machen soll und wie ich ihn finden kann.«

»Hm«, sagte er, »hast du denn irgendeinen Anhaltspunkt, irgendetwas, was uns Aufschluss geben kann, wo dein Freund untergebracht ist? Hat er dir nicht erzählt, wie es dort aussieht oder ob etwas Besonderes in der Nähe ist?«

»Doch! Eine angesagte Disco neben einem Hotel.«

»Ha! Die kenn ich! Da war ich gestern mit meinen Freunden. Es gibt auch nur eine auf der Insel. Das ist einfach. Ich kann dich hinfahren. Ich hole nur schnell mein Auto vom Campingplatz unten am Meer. Warte hier, ich bin sofort wieder da.«

Jetzt stand ich hier und wusste nicht, ob ich weinen oder lachen sollte vor Erleichterung. Die Tränen wegzwinkernd verharrte ich einen Augenblick und dachte kurz nach, ob ich denn zu einem Fremden einfach ins Auto steigen sollte. Nachdem ich mich jedoch schon so vertrauensvoll mit ihm unterhalten hatte, hörte ich auf mein Bauchgefühl, und als er vor mir anhielt, stieg ich ein. Während der Fahrt plauderten wir. In einer kleinen Gesprächspause grübelte ich, wie es gerade im richtigen Augenblick zu dieser Begegnung gekommen war. Deshalb fragte ich ihn: »Warum bist du denn überhaupt zur Anlegestelle gekommen?«

»Ich hatte plötzlich so ein starkes Gefühl, dass ich meine Eltern anrufen sollte, um mich wieder einmal zu melden. Ich wollte zur Telefonzelle. Als ich dich dann dort so hektisch auf- und abgehen sah, dachte ich, da stimmt was nicht, du könntest bestimmt Hilfe gebrauchen. Ehrlich gesagt hast du richtig verzweifelt ausgesehen.«

Dankbar lächelte ich ihn an. Hihi, das kann kein Zufall sein, da will wohl wirklich jemand, dass ich an mein Ziel komme.

Kurz darauf erreichten wir den Ort. Das Hotel und die Disco waren nicht zu übersehen. Geld für die Fahrt wollte der junge Mann nicht. Ein »Danke« reichte ihm und ich stieg aus.

Angekommen. Was hatte ich ein Glück: Diese netten und hilfsbereiten Menschen, denen ich begegnet war.

Nun war es an der Zeit, meine Freunde zu finden und vor allem: Sigi. Tanja hatte ich von meinem Plan erzählt. Sie hatte alle anderen überredet, an diesem Tag nicht mit dem Motorboot rauszufahren, sondern gemütlich am Hausstrand zu verweilen. Dort saßen sie beieinander und unterhielten sich. Sigi saß mit dem Rücken zu mir. Langsam schlich ich näher, von hinten pirschte ich mich an, hielt ihm die Augen zu und fragte: »Na, wer bin ich?«

Sofort sprang er auf und drehte sich zu mir um. Mit ungläubigem, aber freudestrahlendem Blick schloss er mich in die Arme. Er konnte gar nichts sagen. So verweilten wir eine Zeitlang. Die anderen waren ebenso überrascht und fragten sich, wo ich denn jetzt herkäme.

Tanja klatschte in die Hände und rief einfach nur: »Bravo! Geschafft, Überraschung gelungen!«

Alle jubelten. Sie beendeten den Strandtag und zeigten mir die Ferienwohnung. Jedes Paar hatte sein Zimmer und Sigi somit ein freies Bett für mich. Auf der großen Terrasse stand ein Grill bereit. Eingekauft hatten sie schon und so ging es an die Vorbereitungen für einen Grillabend. Ich wollte nur noch geschwind meine Eltern anrufen und Bescheid geben, dass ich endlich gut angekommen war. Sigi begleitete mich zum angrenzenden Hotel, in dessen Lobby eine öffentliche Telefonzelle stand. Nachdem ich den Anruf erledigt hatte, umarmte er mich und sagte: »Am liebsten würde ich dich gar nicht mehr loslassen. Das ist so eine tolle Überraschung, das hätte ich nie für möglich gehalten. Ich freue mich riesig.«

Fest umschlungen standen wir da. Meine Müdigkeit war verflogen. Nach ein paar Minuten machten wir uns auf den Weg zurück zu den anderen zum gemeinsamen Abendessen. Wenig später zogen wir uns zurück. Endlich wieder nur wir beide.

Doch leider verging die Zeit wie im Flug. Sandra war nun mit dem Fahrer nachgekommen und der Montag, an dem ich mit ihm zurückfuhr, rückte näher. Kurzerhand entschied Sigi, seinen Urlaub zu verkürzen und mit nach Hause zu fahren, damit wir beide noch ein paar Tage zusammen hatten, bevor ich meine dreiwöchige Reise nach Amerika antrat.

Es war mehr geschenkte Zeit miteinander, die wir ausgiebig genossen. Jede freie Minute verbrachten wir miteinander, bis der Tag meiner Abreise kam. Sigi brachte meine Kollegin Gabi und mich zum Flughafen. Wir gaben die Koffer ab und frühstückten noch zusammen. Die letzte Umarmung. Ich wollte Sigi nicht loslassen und er mich auch nicht. Meine Tränen musste ich runterschlucken, der Hals brannte.

Gabi räusperte sich und sagte: »Sorry Leute, aber wir müssen jetzt.«

Ich ließ ihn los, blickte mich ständig um, damit ich noch mal und noch mal winken konnte. Aber nach der Zollabfertigung verloren wir uns aus den Augen. Gabi hakte sich bei mir ein und führte mich langsam weiter. In dem Versuch, mich aufzumuntern, plapperte sie wie ein Wasserfall. So lange, bis der Flieger startete.

Nach der Mahlzeit und zwei Bordfilmen schlief ich ein. Diese Pause tat mir gut. Und danach fühlte ich mich besser.

In Los Angeles startete die zweiwöchige »internationale Busreise für junge Leute«. Wir durchfuhren den Westen und nächtigten jeden Tag in einer anderen Unterkunft. Wir sahen den Grand Canyon, die Wüste um Las Vegas, San Francisco. Und unsere Reisebegleiterin konnte alles wunderbar erklären.

Doch zwischendurch übermannte mich auch immer wieder die Sehnsucht und ich ließ keine Gelegenheit aus, nach Hause zu telefonieren. Das war allerdings nur mit Münzen möglich. Ich musste zuerst an Quartermünzen kommen. Dafür ging ich jedes Mal in ein Geschäft und bat um Quartermünzen für 10 Dollar. Das Kassenpersonal verneinte immer, weil sie ihr Wechselgeld nicht einfach herausgeben konnten. Als ich allerdings erklärte, woher ich kam, dass ich nach Deutschland telefonieren wollte, weil ich Sehnsucht hatte, griffen alle in die Kassen oder einen extra Tresor, um mir meine Dollarnoten in Quartermünzen zu wechseln. Dann suchte ich mir eine Übersee-Telefonzelle. Ich musste immer vier dieser Münzen einwerfen, die Verbindung aufbauen lassen und erst, wenn sich der Angerufene meldete, wurde ich vom Operator gefragt, ob ich das Gespräch annehmen wollte. Dafür musste ich möglichst viele weitere Quarter einwerfen. Währenddessen durfte Sigi keinen Ton sagen und beim ersten Mal befürchtete ich, dass er zwischenzeitlich auflegen würde. Das war spannend, aber dann konnte ich ihm das erklären und die Folgegespräche verliefen ohne weitere Aufregung, ob die Vermittlung klappen würde. Es waren immer nur wenige Minuten. Aber seine Stimme zu hören, tat mir unendlich gut und ich konnte hinterher gut gelaunt die Reise fortsetzen.

Zwei Wochen tingelten wir mit der Gruppe umher. Die dritte Woche verbrachten Gabi und ich in Santa Barbara. Wir fanden ein Hotel in Strandnähe. Ideal für entspannte letzte Tage bis zu unserer Abreise Richtung Heimat. Der Tag kam und voller freudiger Erwartung bestiegen wir das Flugzeug.

Wir landeten pünktlich in München. Die Zeit, bis unsere Koffer auf dem Förderband erschienen, zog sich in quälende Länge. Ich konnte es nun wirklich kaum noch aushalten, mich endlich in Sigis Armen zu sehen. Kurz vorm Ziel und doch so weit weg. Ungeduldig tippte ich ständig mit dem Fuß, bis Gabi mich darauf aufmerksam machte, dass es nerve. Okay, ich musste mich zusammennehmen und meine innere Unruhe bändigen. Ich atmete tief durch. Endlich sahen wir unsere Koffer. Wir schnappten sie uns und eilten ohne weitere Zwischenfälle durch den Zoll Richtung Ausgang. Da stand auch schon Gabis Mutter und winkte uns zu. Während der Autofahrt erzählte Gabi unentwegt von unserer Reise. Ich lächelte und genoss die Bilder, die ihre Schilderungen mir in Erinnerung riefen, mit der Idee, genau diese Erlebnisse bald mit Sigi teilen zu dürfen. Vor meinem Elternhaus luden sie mich ab. Etwas müde und gleichzeitig aufgeregt sperrte ich die Haustüre auf. Doch es war niemand da. Gut, es war ein Wochentag, alle arbeiteten, aber trotzdem hatte ich gehofft, dass irgendwer da sein würde. In der Küche stand ein Himbeerkuchen auf dem Tisch. Als Willkommensgruß. Ich blieb nicht lange daheim, denn ich hatte, wie man so schön sagt, Wespen im Popo. Mit dem Rad fuhr ich zu Oma und Opa. Dort berichtete ich von meinem Urlaub und lud sie für später zu Kaffee und Kuchen ein. Ich tauschte das Rad gegen das Auto meines Großvaters, damit ich zur Arbeitsstelle meiner Mutter fahren konnte. Opa brauchte das Auto heute nicht mehr und er wusste, dass ich mobil bleiben wollte. Sigi, nahm ich mir vor, auf jeden Fall heute noch zu treffen. Auf dem Weg zu meiner Mutter hielt ich in Rosenheim an einer Ampel an – und wen entdeckte ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite in seinem Wagen? Das war ja unglaublich. Was für ein Zufall. Sigi entdeckte auch mich, und ohne uns mit Handzeichen verständigen zu müssen, hielten wir nach der Überquerung der Kreuzung jeweils am Straßenrand an, rannten aufeinander zu und flogen uns regelrecht in die Arme. Tränen der Erleichterung und Freude rannen über meine Wangen, die Sehnsucht hatte ein Ende. Jetzt war alles gut. Sigi war für die Firma zu einem Kunden unterwegs und konnte sich die Zeit frei einteilen. So war er zu diesem Zeitpunkt losgefahren, weil er darin die größte Chance sah, mich zu Hause anzutreffen, um mich zu begrüßen. Natürlich verabredeten wir uns für den Abend. Ich stieg wieder ins Auto und fuhr weiter zur Arbeitsstelle meiner Mutter. Sie arbeitete damals in der Bibliothek eines Gymnasiums. Als ich an der Tür klopfte und die Klinke drückte, war sie allerdings verschlossen. Enttäuscht setzte ich mich auf die Treppe und wartete.

Plötzlich hörte ich Schritte im Treppenhaus. Meine Mutter bog um die Ecke. Jetzt wurde mir klar, dass sie die Bibliothek kurz zugesperrt hatte, um mich vom Sekretariat aus zu Hause anzurufen. Sie war kurzzeitig in Sorge gewesen, weil sie mich nicht erreichen konnte, erklärte sie. Umso schöner, dass wir nun wieder zusammen waren.

Am Abend kam dann endlich Sigi zu uns nach Hause. In meinem Zimmer erzählte ich ihm von meinen Reiseerlebnissen. Er hörte aufmerksam zu, während sein sanfter Blick auf mir ruhte. Dabei strich er mit einem Finger meinen Arm entlang und spielte mit einer meiner Haarsträhnen.

Nach einer Weile beendete ich meinen Reisebericht und legte mich in seinen Arm. Wir lagen schweigend auf meinem Bett und lauschten dem Herzschlag des anderen. Das war alles, was wir in dem Moment brauchten: Luft und Liebe und die Nähe zueinander.

Und dann sagte Sigi: »Lass uns doch zusammenziehen.«

Da ist mehr, noch so viel mehr ...

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