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1Der Schimmelreiter

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Ein Meer, das nicht gelegentlich damit drohte, einen vom Deich zu pflücken und mit sich zu reißen, war für Kaja kein Meer.

Mit einem Grollen, das in jeder Faser ihres Körpers nachdröhnte, rannten die Wellen gegen den Deich an, sprangen übereinander hinweg wie übermütige Raubtiere. Gischt und Schaum spritzten hoch und Kaja ins Gesicht. Dann verloren die Wellen an Kraft, liefen knapp unter der Deichkrone aus, mit einem Zischen, enttäuscht, dass ihnen ihre Beute entgangen war. Der Wind riss Kaja die Kapuze vom Kopf, zerrte an ihren roten Dreadlocks und zerfetzte die Wolkendecke. Für einen Moment blitzte der fahle Mond hervor, nur zu einem Drittel voll. Kaja warf den Kopf zurück und heulte mit den Elementen um die Wette. Die nächste Böe trug den Schrei davon, fast ungehört, und ließ ihren Atem stocken. Sie wischte sich über das nasse Gesicht und lachte.

Ein kleiner Schwarm Möwen trieb dicht an ihr vorbei, ihre gellenden Schreie durchstachen für einen kurzen Moment das Wutgebrüll des Meeres und das Toben des Sturms. Kaja breitete ihre Arme wie Flügel aus und wirbelte um die eigene Achse. Nur einmal abstoßen und sie könnte genauso fliegen wie die Vögel, ganz bestimmt!

Wieder ein Windstoß, er riss an ihrem Ölzeug, sie taumelte auf den Hang neben dem Trampelpfad und kämpfte um ihr Gleichgewicht, um nicht in die weit aufgerissenen, schwarzen Mäuler der Wellen zu stürzen.

Mit klopfendem Herzen erreichte Kaja wieder die Mitte der Deichkrone, raffte den steifen, gelben Mantel enger am Hals zusammen und zwang sich, ruhiger zu atmen. Idiotin! Stadtkind! Es hat seinen Grund, dass selbst die Einheimischen bei Sturmflut nur rausgehen, wenn es sich nicht vermeiden lässt.

Aber Kaja konnte nicht anders. Wenn die Fensterläden klapperten, der Wind auf dem Schornstein spielte wie auf einer Panflöte und sich die Pferde im Stall ängstlich zusammendrängten, dann zog es sie nach draußen. Selten fühlte sie sich so lebendig wie in diesen Momenten, als ob sie die Kraft des Sturms mit ihrem ganzen Körper aufsaugen könnte. Deshalb war sie hierhergekommen, aus Frankfurt am Main, weit weg von zu Hause. Um das Salz auf den Lippen zu schmecken, und notfalls auch Sand zwischen den Zähnen, und um komplett durchgebeutelt zu werden. Bis sie zurückkehrte ans warme Kaminfeuer, wo ein Tee auf sie wartete, den Kalle ihr bei allem Grummeln längst bereitgestellt hatte.

Langsam war es so weit, Kaja konnte kaum mehr die Spitzen ihrer neongrünen Gummistiefel sehen. Die zwei Handbreit Hose zwischen Schaft und Mantel klebten an ihren Beinen. Das Wasser hatte außerdem seinen Weg durch den zu weiten Kragen gefunden und sickerte in den Wollmantel, den sie unter dem Ölzeug trug. Der Weg zurück nach Dagebüll würde eine gute halbe Stunde dauern. Ernüchtert drehte Kaja sich um, nun die linke Seite den tobenden Elementen zugewandt, und stapfte los. Eine Handvoll Möwen segelte dicht am Boden über den Deich. Fast streiften sie die einsame Wanderin, bevor sie im Schutz des Binnenlandes verschwanden. Kaja sah ihnen hinterher, als es in ihrem Augenwinkel aufblitzte.

Etwas kam ihr auf dem Deich entgegen. In diesem Moment zog sich der Mond hinter eine Wolkenbank zurück und erschwerte ihr die Sicht. Ein Reiter?

Kaja machte einen Schritt zur Seite, sicherheitshalber landeinwärts. Da war die Gestalt auch schon auf ihrer Höhe, so dicht, dass sie sich fast streiften. Ein Schimmel, nein, die Flanken waren dunkler gefleckt, ein Apfelschimmel. Der Reiter obenauf hatte seine Jacke nicht geschlossen, sie peitschte hinter ihm her wie eine Fahne, und zwei Augen unter dem Helm blitzten Kaja kurz an, ohne Erkennen. Der Hufschlag auf der aufgeweichten Grasnarbe wurde verschluckt vom Dröhnen des Meeres.

Einen Moment blieb Kaja wie erstarrt stehen und schaute dem Pferd hinterher, das wie von allen Geistern gehetzt den Deich entlanggaloppierte. Verdammte Scheiße, wer tat seinem armen Tier das an und jagte es bei diesem Wetter nach draußen? Am Deich war Reiten sowieso verboten, ob oben oder auf den asphaltierten Wegen davor und dahinter – sowohl Nationalpark als auch Küstenschutz hatten da zu Recht Bedenken. Der Reiterhof konnte in Teufels Küche kommen. Das sagte Kaja all ihren Reitschülerinnen tausendmal am Tag! Ihren Schülerinnen … Ja, das Pferd hätte Mira sein können, aber warum sollte Marietta … Die war wirklich alt genug, um es besser zu wissen!

Kaja fischte in der Manteltasche nach ihrem Handy, doch das zeigte kein Netz an. Wie immer, sobald ein bisschen Wind wehte! Sie steckte das blöde Teil wieder ein und lief los, zügigen Schritts in Richtung des heimischen Stalls.

Als endlich die Scheinwerfer der Mole näher rückten und rechts im Dunkel hinter dem Deich die ersten erleuchteten Fenster auftauchten, atmete Kaja auf. Selbst den Pseudoleuchtturm als Landmarke hatte sie bei diesem Wetter irgendwie verpasst. Am letzten Abgang vor den Metallzäunen, die die Baustelle des Badedeichs absperrten und sich leise kreischend aneinander rieben, bog Kaja auf ihre Warft ab. Die Lampe über dem Holzschild, das sie an der Stirnseite ihres Hauses angebracht hatte – ein halbrunder Bogen mit dem Schriftzug „Hof Sturmwolke“, darunter die Umrisse eines Buchs mit einem stilisierten Pferd auf dem Cover –, wippte im Wind. Obwohl das Wasser mittlerweile die warmen Wollschichten besiegt hatte und ihr in den Nacken sickerte, wo es sich mit Schweiß vermischte, ließ Kaja das Haus rechts liegen und steuerte sofort den Stall an. Das Schiebetor war geschlossen und eingehakt. Kaja hob den Riegel, stemmte sich gegen das Holz und schlüpfte zusammen mit einem Windstoß durch den Spalt, um ihn gleich wieder hinter sich zuzuschieben. Der warme Dunst von Heu, Pferd und Pferdeäpfeln umfing sie in der Notbeleuchtung.

Kaja tastete nach dem Lichtschalter. Noch bevor sich ihre Augen an den grellen Schein der nackten Glühbirne gewöhnt hatten, hörte sie Ares’ gedämpftes Begrüßungswiehern. Im Vorbeigehen tätschelte Kaja die schwarze Nase, die sich ihr über die Boxenwand entgegenreckte, hielt sich aber nicht weiter auf, auch wenn der Hengst sie dafür später mit Verachtung strafen würde. Die Ponys in den beiden Gemeinschaftsboxen schnaubten und suchten die Nähe des einzigen Menschen. Der Sturm schlug gegen die Tore, und ausnahmsweise beschwerten sich die Tiere nicht darüber, dass der Zugang zur Weide verschlossen war. Rechts hinten befanden sich weitere Boxen für Privatpferde. Kaja bog um die Ecke – und atmete bewusst tief durch.

Die Tür zu Miras Box stand offen. Das Halfter hing am Führstrick am Gitter, darunter lagen Putzzeug und Hufkratzer verstreut. Verfluchte Marietta und ihre Anfälle! So eine Dramaqueen!

Noch einmal checkte Kaja ihr Handy, das weiter tot blieb. Sie drehte sich um und ging den Weg zurück, den sie gekommen war. Rannte fast, aber nahm sich die Zeit, das Licht auszuschalten und die Tür wieder sorgsam zu verschließen. Nicht noch mehr Unfug heute Abend.

Die Haustür war nicht abgeschlossen. Kaja riss sie auf und stürmte am Treppenaufgang vorbei den Flur entlang zur Küche, ignorierte das Wasser, das vom Mantelsaum auf die Dielen tropfte, und das quatschende Geräusch, das ihre Stiefel machten.

„Wo ist dein Handy?“, rief sie, noch bevor sie die Hand an der Klinke hatte. „Hast du Empfang?“

Die altmodische Küche, die sie von den Vorbesitzern geerbt hatten, war hell erleuchtet, die in allen Regenbogenfarben gestrichenen Holzschränke glänzten matt. Das saubere Geschirr stapelte sich auf dem Abtropfgestell und an der Backsteinwand hingen riesige Suppenkellen, Bratenwender und Messer. Auf dem massiven Holztisch stand ein Stövchen mit Kerze und einer Kanne Tee, aus deren Tülle es sacht dampfte. Daneben lagen irgendwelche Maschinenteile auf ölfleckigen Tüchern. Kein Kalle.

„Hey, du Bisamratte.“

Kaja fuhr herum, als ihr Freund im gegenüberliegenden Türrahmen des Wohnzimmers auftauchte, in T-Shirt, Jeans und trotz der Kühle barfuß. Das Grinsen unter seinem dunkelblonden, zu zwei Wikingerzöpfchen geflochtenen Bart erlosch sofort, als er ihren Gesichtsausdruck sah. „Was ist?“

Mit zwei Schritten war Kaja bei ihm. „Hast du Netz?“

„Nein“, sagte Kalle und tastete gleichzeitig nach seinem Handy in der Hosentasche. „Nein“, wiederholte er, nachdem er einen Blick darauf geworfen hatte. „Natürlich nicht, bei dem Wetter.“

„Shit“, fluchte Kaja. Sie mussten sich endlich mal Festnetz zulegen für so einen Fall! „Mira und Marietta sind irgendwo draußen, sie sind am Deich an mir vorbeigesaust, völlig durchgedreht.“

„What the fuck! Spinnt die?“ Kalle zog an einem Bartzopf. Er hatte weniger Erfahrungen mit Pferden als Kaja und behandelte sie, als könnten sie bei jedem Tropfen Regen sofort sterben. „Ich hab sie vor eineinhalb Stunden noch im Stall gesehen, als ich gefüttert hab. Sie wollte eigentlich nur ein bisschen putzen, um Mira zu beruhigen.“ Er fluchte wieder. „Ich hätte aufpassen sollen! Noch mal nachschauen, aber sie hat versprochen, die Tür zu verschließen und …“

Kaja küsste ihn flüchtig – sie musste sich dafür nicht recken – und sagte: „Hat sie auch. Und Marietta ist dreiundzwanzig und erwachsen. So.“ Sie schob Kalle von sich. „Jetzt hör auf mit Mimimi und rück den Autoschlüssel raus.“

„Ich fahre mit.“

„Einer sollte hier sein, wenn sie zurückkommt.“ Falls sie zurückkommt.

„Dann fahre ich. Du bist klatschnass, du holst dir den Tod.“

„Gib mir den verdammten Schlüssel!“ Kaja reckte das Kinn vor. Sie hasste es, wenn er den Beschützer spielen wollte.

Kalle holte Luft. Die Zeit drängte, das wussten sie beide. Mira war ein Pferd, das sich vor seinem eigenen Schatten erschreckte, sie hatte Marietta mehr als einmal abgesetzt in den vergangenen eineinhalb Jahren, in denen sie den Hof führten. Das Mädchen humpelte möglicherweise irgendwo durch den Sturm, während das Pferd herumirrte, sich ein Bein brach, mit den Zügeln verhedderte oder am Stacheldraht den Bauch aufriss. Also seufzte Kalle nur und suchte seine Jacke, um den Schlüssel aus der Tasche zu kramen.

Der neunzehn Jahre alte Nissan, sonnengelb, sah vielleicht nicht aus wie ein Geländewagen, war aber hochbeinig genug, um nicht gleich an jeder Bodenwelle aufzusetzen. Der Wind schob von der Seite und Kaja musste das Lenkrad mit beiden Händen festhalten, um in der Spur zu bleiben. Auf dem Deich zu fahren war völlig unmöglich. Mit einem Pferd konnte man vielleicht noch die Schafzäune überwinden – viel zu gefährlich, du dumme, dumme Person!, schimpfte Kaja innerlich weiter auf Marietta ein –, nicht aber auf vier Rädern. Ganz davon abgesehen, was sie alles kaputt machen könnte an dem Bauwerk, das verhinderte, dass sie alle absoffen. Zum Glück waren die Dämme gerade erst Stück für Stück auf neun Meter erhöht worden. Nur am Dagebüller Badestrand bauten sie noch den letzten Abschnitt –wahrscheinlich nahm der Sturm heute einiges von dem frisch aufgeschütteten Material gleich wieder mit.

Den Weg zum Meer hin hatte die Flut natürlich überspült, also blieb nur die Straße hinter dem Deich, von der aus Kaja herzlich wenig sehen konnte von dem, was oben abging. Immerhin standen die Tore, sonst mit Vorhängeschlössern gegen ignorante Touristen gesichert, offen, wahrscheinlich, um den Hilfs- und Rettungskräften den Zugang zu erleichtern, sollten sie bei dem Wetter irgendwo am Deich eingreifen müssen. Bei jedem asphaltierten Übergang nutzte Kaja die Gelegenheit, fuhr zur Krone hinauf, stieg aus und spähte in die wirbelnde Nacht hinaus. Der Mond tat ihr nicht den Gefallen, sich durch die Wolken zu kämpfen, und die Wellen schluckten das Scheinwerferlicht nach wenigen Metern. Das Jaulen des Windes übertönte ihre Rufe, kaum dass sie aus ihrem Mund heraus waren. Wie es erst den Leuten auf den Halligen da draußen ging? Normalerweise sah man die Lichter in der Ferne blinken, aber selbst die waren verschwunden. Einmal glaubte Kaja, in der Ferne zwei Deichgänger zu erkennen, und überlegte, zu ihnen zu laufen und sie zu fragen, ob sie die Reiterin gesehen hatten. Im nächsten Moment war sie sich nicht mal mehr sicher, ob ihre Augen ihr nicht einen Streich gespielt hatten, also ließ sie es bleiben.

Je weiter sie fuhr, desto unruhiger wurde Kaja. Wer sagte, dass Marietta am Deich geblieben war? Sie konnte überall hin geritten sein! Vielleicht Schutz gesucht haben, nachdem sie wieder zu Verstand gekommen war, während Kaja immer weiter in die falsche Richtung fuhr. Wie sollte sie inmitten dieses Mahlstroms ein einzelnes Pferd finden?

Am Hauke-Haien-Koog umrundete sie einmal den See, scheuchte eine Schar Wildgänse auf, die sich mit lautem Protestgeschnatter weiter landeinwärts mitreißen ließen, und stoppte kurz an dem leerstehenden Bauwagen, den die Jugendlichen der Umgebung manchmal als Treffpunkt benutzten. Aber auch hier keine Spur von Marietta oder Mira.

Bis sie endlich Schlüttsiel erreichte, war viel zu viel Zeit vergangen. Sicher hatte das galoppierende Pferd längst einen ordentlichen Vorsprung. Die Schleusentore standen weit offen und Wasser toste ins Speicherbecken im Hinterland. Kaja bildete sich ein, zu spüren, wie es an der Straße unter ihren Reifen hinwegspülte. Wieder parkte sie und kämpfte sich zum Fährhaus hinauf. Einen Moment blieb sie stehen, vergaß fast zu atmen. Am Ende des Landungsstegs explodierte die Brandung geradezu im Scheinwerferlicht, feuerte die weiße Gischt haushoch empor, bis sie in glitzernden Kaskaden wieder herunterregnete. Kaja schauderte und wusste nicht, ob aus Ehrfurcht oder Angst.

Hotel und Restaurant waren immer noch geschlossen, allerdings gab es nebenan einen Warteraum für Fährgäste. Touristen waren hier so spät am Abend und so früh im Jahr keine gestrandet, aber wie Kaja gehofft hatte, nutzte ein Deichgänger den Glasbau, um sich kurz aufzuwärmen. Freiwillige wie dieser behielten bei Sturmfluten im Auftrag des Katastrophenschutzes die dreihundert Kilometer Küste im Auge.

„Nee, en Peerd, dat har ik sehn“, war leider alles, was der Mann in dunkelgrünen Watthosen über dem Rollkragenpulli beitragen konnte. Ein Pferd hätte er gesehen, so viel Platt verstand Kaja gerade noch. Dann bot er ihr Tee aus seiner Thermoskanne an. Sie lehnte dankend ab und steuerte den Weg nach Fahretoft an.

Es war nach halb zehn, als sie ins Neubaugebiet und den Christian-Jensen-Weg einbog. Bevor sie klingelte, trat Kaja auf den millimeterkurzen, wintergelben Rasen und ging ein Stück um das weitläufige, helle Holzhaus herum, in der Hoffnung, auf der Brachfläche dahinter einen zitternden Apfelschimmel zu entdecken. Leider nicht. In Mariettas Haushälfte waren die Rollläden oben, die Fenster dunkel. Deshalb drückte Kaja den Klingelknopf, über dem „Familie Rain“ stand.

Mariettas Mutter öffnete so schnell die Tür, als hätte sie im Hausflur gelauert. Selbst so spät trug sie die blonden Haare, die sie an ihre Tochter vererbt hatte, perfekt hochgesteckt, dazu einen weißen Hausanzug. Ihre dezent geschminkten Augen in dem blassen Gesicht weiteten sich.

„Oh Gott, was ist passiert?“

„Eigentlich hatte ich gehofft, Sie könnten mir das sagen. Hat sich Marietta gemeldet?“ Vielleicht klang Kaja etwas harscher als beabsichtigt. Das passierte ihr manchmal mit dieser Familie.

„Nein, warum?“ Frau Rain schlug die Hand vor den Mund. „Ich habe ihr gesagt, es ist zu gefährlich, bei dem Wetter zum Hof zu fahren. Es ist nur ein Pferd, das ist es nicht wert, dein Leben zu riskieren, habe ich gesagt. Sie kümmern sich schließlich, nicht wahr? Aber Marietta wollte unbedingt selbst nachsehen …“

Kaja verbiss sich einen Kommentar zu dieser passivaggressiven Frage. Es gab jetzt Wichtigeres. „Können Sie sie anrufen? Mein Handy hat keinen Empfang.“

Frau Rain drehte sich um und eilte ins Haus zurück, ohne Kaja hereinzubitten. Wahrscheinlich konnte sie froh sein, dass sie ihr nicht die Tür vor der Nase zuknallte. Wäre auch schwer gewesen bei dem Wind.

Kaja stapfte über die Schwelle und stemmte die Tür hinter sich zu. Tropfend blieb sie auf der lila-grauen Design-Fußmatte stehen, die aussah wie zusammengefilzt. Kurz schnitt Kaja sich selbst in dem mit hellem Holz eingefassten Garderobenspiegel eine Grimasse, schob sich ihre Dreads über die linke Schulter und rieb sich über die raspelkurz rasierte rechte Kopfseite. Mittlerweile sah sie aus wie eine ertrunkene Bisamratte, Ölzeug hin oder her.

„Sie geht nicht ran!“, schallte Frau Rains Stimme durch den Türspalt gegenüber. Im nächsten Moment tauchte sie im Rahmen auf. „Was ist denn nur passiert? Ein Unfall? Mit dem Auto?“

„Das hätte ich kaum mitgekriegt. Sie ist mit Mira raus in den Sturm. Ich hab sie am Deich gesehen, aber das ist schon über eine Stunde her.“

„Oh mein Gott, dieses Pferd, ich wusste, dass Marietta sich noch verletzt mit diesem Tier.“

„Ich glaube eher, Mira verletzt sich mit ihr.“

Aber da war Frau Rain schon wieder im Wohnzimmer verschwunden. Unwillkürlich rieb Kaja sich die Oberarme, was nutzlos war. Die Heizung im Postauto war noch nie besonders gut gewesen und sie war durchgefroren bis auf die Knochen.

Jetzt hörte sie den tiefen Bass des Vaters und atmete ein wenig auf. Sollte der seine Frau zur Vernunft bringen. Kaja verstand nicht, was Herr Rain sagte, und ging ein Stück in Richtung Tür, ließ dabei eine Schlammspur auf den weißen Kacheln zurück.

Ein Blick durch den Spalt zeigte, dass Frau Rain vor dem lila-weißen Ledersofa auf und ab lief, das Telefon wieder am Ohr. Auf dem hellen Holztisch standen zwei Weingläser.

„Sasha? Sasha, hier ist Lorena. Ist Marietta bei dir?“ Sie lauschte auf die Antwort, und ihre manikürten Fingernägel krampften sich um das Mobilteil. „Hast du sie heute gesehen? Nein … Ja, ja, sie ist nicht … Danke.“ Frau Rain ließ das Telefon sinken. Ihre Stimme schraubte sich eine Oktave höher, als sie sich zu ihrem Mann umdrehte, der sich aus dem Ledersessel hochstemmte. „Wir müssen die Polizei rufen! Den Notruf! Wahrscheinlich liegt sie irgendwo …“

Herr Rain machte Anstalten, sie an den Schultern zu fassen, doch sie war schon wieder am anderen Ende des Zimmers und drückte auf den Tasten herum.

Die arme Sasha wurde wahrscheinlich auch noch ganz kirre nach diesem Anruf.

„Ich fahre zum Hof zurück“, rief Kaja. „Vielleicht ist Marietta längst wieder da.“ Sie hatte keine Lust, von den Bullen ans Telefon geholt zu werden. Sie hatte ja alles gesagt.

„Wir danken Ihnen.“ Herr Rain nickte ihr zu und lief dann seiner Frau hinterher.

Kaum war Kaja auf ihren Hof eingebogen, kam Kalle ihr entgegen – Mira war noch nicht wieder aufgetaucht, ob mit Reiterin oder ohne. Auch die Polizei kam nicht. Zumindest nicht in dieser Sturmflutnacht.

Sturmflutnacht

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