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2Der Kran

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Kurze Nacht hin oder her – Kajas innere Uhr weckte sie pünktlich um halb sechs, wie ihr ein Blick aufs Handy bestätigte. Kalle grummelte, als sie sich von ihm löste und unter der Dachschräge wegduckte. Im Vorbeigehen sammelte sie sich blind Klamotten vom Stuhl, schnupperte am Shirt und griff sich dann ein anderes. Kaja trat in den kurzen Flur und schlurfte durch das Lesezimmer-Büro, wobei sie sich nach und nach die Sachen überstreifte, auf einem Bein hopsend, um in die Stoffhose zu kommen. Eigentlich zu dünn für den Winter, aber für die paar Meter bis zum Stall würde es reichen. Sie setzte sich auf die oberste Treppenstufe und schlüpfte schnell in ihre Flauschsocken.

Den Weg zur Toilette fand Kaja im Dunkeln, Licht machte sie erst in der Küche im Erdgeschoss. Ihre Kleider von gestern trockneten auf einem Ständer vor sich hin und verwandelten den ganzen Raum in ein Tropenhaus. Kaja schenkte sich in die Eulentasse Kaffee ein, der dank Zeitschaltuhr pünktlich zum Aufstehen gekocht war, und öffnete ein Fenster. Ein Schwall eisiger Luft umhüllte sie. Am Himmel über der Pferdeweide waren Sterne zu sehen – keine einzige Wolke mehr. Unbewusst suchte Kaja in dem unendlichen Gewimmel nach dem Quadrat des Pegasus, bis ihr wieder einfiel, dass es in dieser Jahreszeit gar nicht zu sehen war. Wenn sie sich aus dem Fenster beugte, konnte sie rechter Hand gerade so die drei Sterne im Gürtel des Orion ausmachen – abgesehen vom Großen Wagen und dem Pegasus die einzige Konstellation, die Kaja sich merken konnte. Im Vergleich zur tobenden Nacht war es geradezu absurd still da draußen.

Ob Marietta noch aufgetaucht war und Mira zurück in den Stall gebracht hatte? Kaja zog ihr Handy aus der Hosentasche. Der Empfang war wieder da, und zwei Nachrichten über verpasste Anrufe: ihre Mutter und Frau Rain. Letztere hatte auf die Mailbox gesprochen, offenbar kurz nachdem Kaja sie verlassen hatte, denn sie fragte, ob sie auf dem Hof ihre Tochter angetroffen hätte. Nichts Neues also. Vielleicht wussten die Mädels aus der WhatsApp-Gruppe mehr, aber Kaja weigerte sich standhaft, diese Spionage-App zu installieren.

Plötzlich unruhig geworden, nahm sie einen zu großen Schluck und zog eine Grimasse, als sich der heiße Kaffee seinen Weg zum Magen hinunter brannte. Sie schloss das Fenster und stellte die Tasse auf die Fensterbank. Im Hausflur schlüpfte sie in Kalles viel zu große Stiefel – ihre eigenen waren innen noch nass –, warf sich den Mistmantel über und schlurfte, so schnell es ging, Richtung Stall.

Ares’ Begrüßungswiehern hatte einen sehr fordernden Unterton, aber diesmal nahm sich Kaja nicht mal die Zeit für eine kurze Streicheleinheit. Sie bog in den Gang ab – und sah sofort das Halfter, das noch genau an derselben Stelle hing wie gestern. Es wäre ja auch zu einfach gewesen! Ob Frau Rain bei der Polizei was hatte ausrichten können? Wurden die nicht erst nach achtundvierzig Stunden oder so tätig? Selbst im Falle einer potenziell tödlichen Sturmflut?

Obwohl Kaja sich immer ärgerte, wenn sie sich dabei ertappte, dass die Erziehung ihrer Eltern noch immer griff – sie konnte nicht vor sechs Uhr jemanden aus dem Bett klingeln, nur um ihre eigene Besorgnis zu besänftigen. Vor allem, da Mariettas Eltern sicher noch weniger geschlafen hatten als sie selbst. Falls Marietta aufgetaucht war, konnten sie Mira für den Notfall auf einem der Höfe im Hinterland untergestellt haben. Es gab schließlich genug davon, obwohl man niemandem den Traum erfüllen konnte, mit wehenden Haaren und Mähnen am endlosen Sandstrand entlang zu galoppieren.

Kaja begann mit ihrer allmorgendlichen Routine. Öffnete als Erstes die beiden Türen der Offenboxen für ihre eigenen Pferde, die sich sofort unter den Plastiklamellen hindurchdrängelten und die Warft hinunter auf die nebeneinanderliegenden Weiden trabten, Stuten getrennt von Wallachen. Lorcan kniff Kaja im Vorbeilaufen in den Arm, wohl dafür, dass sie die Damen zehn Sekunden vor ihm herausgelassen hatte, und war schon verschwunden, bevor sie ein strenges „Nein“ herausbringen konnte.

Der Schrecken der Nacht war längst vergessen. Schneeflocke, mit ihrem schwarzen Fell nahezu unsichtbar in der Dunkelheit, machte ein paar übermütige Bocksprünge, als wäre sie ein Rodeopferd und kein pummliges Shetty. Precious warf in ihrer Abfohlbox den Kopf hoch und rammte Kaja fast um, als sie die Tür öffnete und den Weg zur Stutenweide freigab. Eilig folgte Precious ihren Freundinnen, wobei ihr unförmiger, grauer Bauch von einer Seite zur anderen wogte.

Die Hofkatzen Pankhurst und Garrud strichen heran – aus welcher Ecke oder durch welchen Eingang auch immer – und stießen ihr abgehacktes Begrüßungsschnurren im Doppelpack aus. Kaja wusste aus Erfahrung, dass sie gar nicht erst versuchen sollte, die beiden Streuner zu streicheln, bevor die ihr Frühstück bekommen hatten. Sie holte die Pappschachtel mit den Katzenkräckern aus der Haferkiste und schüttete eine Portion in die rote, getöpferte Schale, die direkt daneben stand. Sofort steckten die beiden ihre Köpfe hinein und begannen, einträchtig zu knabbern. So unterschiedlich die Katzen aussahen – hier die schlanke, grauschwarz gestreifte Garrud mit Ohren, die zu groß aussahen für den schmalen Kopf, dort Pankhurst, massig wie ein kleiner Hund, mit halblangem, braunweiß geschecktem Fell –, waren sie einfach unzertrennlich. Sie waren sozusagen mit dem Hof dazugekommen, niemand in der Nachbarschaft wusste, woher sie kamen, und Kaja hatte sie getauft, ohne auch nur zu wissen, ob sie wirklich Weibchen waren. Sie hörten eh nie.

Kaja schlüpfte aus Stiefeln und Socken und kletterte die Leiter zum Heuboden empor. Prompt trat sie in eine eisige Pfütze und machte sich eine geistige Notiz, nach der undichten Stelle im Dach zu suchen, wenn es heller war. Der Kräuterduft des Heus war nicht mehr so frisch wie im Herbst, aber sie atmete ihn trotzdem gern ein. In der Jackentasche fand sie das Schnitzmesser und zerschnitt die Verschnürung eines neuen Ballens. Grobe Halme pikten ihre nackten Füße, aber sie hatte genug Hornhaut, um es auszuhalten. Mit der Gabel stocherte Kaja das Heu auseinander, schob einen Haufen, fast so hoch wie sie selbst, über den Boden und ließ ihn durch die Luke nach unten fallen. Dann stieg sie hinterher, grub leise fluchend ihre Schuhe und Socken aus, was Pankhurst und Garrud natürlich für ein Spiel hielten und begeistert mitmachten. Nachdem Kaja den Katzen ihren linken Socken wieder abgejagt hatte, begann sie, das Futter auf die Tröge zu verteilen. Im Vorbeigehen wischte sie die neue Schicht Heustaub vom grellgelben Rahmen mit Oma Agathes Foto, der neben dem Wochenplan für die Reitstunden hing.

Stina steckte wie immer viel zu früh ihre Nase in die Krippe und bekam die nächste Gabel auf den Kopf. Unwillig schüttelte sie die braunen Ohren.

„Selbst schuld, du Fresssack, ist eh alles für dich.“

Für Diabolo weichte Kaja das Heu im Wassereimer ein, gegen seinen Husten. Danach füllte sie eine Schubkarre und schob sie außen um Stall und Haus herum zu den Weiden. Ihre Ponys standen bereits aufgereiht am Elektrozaun – sie nahmen ihr Frühstück gern draußen ein, besonders, wenn Kaja es gewagt hatte, nachts die Türen zu schließen. Kaja verzichtete darauf, die Außenbeleuchtung einzuschalten, sie arbeitete im Licht der Sterne und nach Gefühl, auch wenn ihr der schlammige Boden immer wieder drohte, die zu großen Schuhe von den Füßen zu reißen. Die vertrauten Handgriffe gaben ihr die nötige Ruhe zurück. Schließlich ging sie ins Haus, um ihren Kaffee auszutrinken. Die Privatpferde würde sie erst in eineinhalb Stunden rauslassen, wenn die Sonne aufgegangen war. Ein paar übervorsichtige Besitzerinnen bestanden darauf, ebenso wie Kaja darauf bestand, keine reinen Boxenpferde aufzunehmen.

Als sie in die Küche einbog, kam ihr Kalle durch den Türrahmen entgegen, der in einer Hand eine Tasse trug, den anderen Arm voll mit Maschinenteilen. Die langen Haare offen im Gesicht, die Augen noch fast geschlossen, tappte er an ihr vorbei. Sie drückte ihm einen Kuss aufs Ohr, er riss die Augen auf, ließ alles fallen und fing gerade noch rechtzeitig die Tasse wieder auf, bevor sie in einer Kaffeepfütze auf den Dielen zerspringen konnte.

„Fuck“, knurrte er. „Erschreck mich nicht so!“

Kaja lachte und fing an, die Metalldinger, deren Namen sie sich eh nie merken konnte, vom Boden aufzusammeln. „Wieso bist du überhaupt schon wach, Zombielein?“

Kalle schüttete den letzten Schluck Kaffee in sich hinein und schaute betrübt in die leere Tasse. „Arbeit, was sonst?“

„Was, heute?“ Dienstag war sonst nicht seine Hauptarbeitszeit.

„Hab ich doch erzählt.“

„Hast du nicht.“

„Es steht im Kalender.“ Kalle deutete mit dem Daumen über die Schulter in die Küche zurück.

„Hab ich nicht draufgeschaut.“

Kalle seufzte. „Siebzigster Geburtstag. Brunch, ganz edel. Geht wahrscheinlich über in Mittagessen. Muss jedenfalls früh da sein.“

„Dann musst du vor allem noch erheblich wacher werden“, stellte Kaja fest. „Geh und mach die Kanne alle. Ich räum das weg.“

Sie marschierte wieder zur Haustür hinaus zu ihrer Garagen-Schuppen-Werkstatt. Sie hatte null Ahnung, zu welcher der drei Schrottkarren, die hier in unterschiedlichen Stadien der Demontage standen, die Teile gehörten. Und es war ihr egal, solange das Postauto noch fuhr, der Traktor und der Pferdehänger.

Als Kaja zurück in die Küche kam, hatte Kalle bereits den Tisch abgewischt und stellte seine Ausrüstung zusammen. Angesichts der aufgestapelten Töpfe und Pfannen hob sie die Augenbrauen.

„Die behaupten zwar, das Dorfgemeinschaftshaus hätte alles da, aber wir wissen ja, was das heißt.“ Kalle gestikulierte mit einem Messer, das fast so lang war wie sein Unterarm.

„Wie gut, dass du sofort hellwach bist, wenn du damit hantierst“, sagte Kaja trocken.

Kalle grinste, schob das letzte Messer an seinen Platz, rollte die Tasche zusammen und klettete sie zu.

An gemütliches Frühstück war nicht mehr zu denken, aber das hatten sie ohnehin selten. Entweder aß Kaja allein, weil der Mann noch schlief, oder er rannte wie jetzt hin und her und murmelte Einkaufslisten vor sich hin. Also verzog sich Kaja mit einer dicken Scheibe Butterbrot – selbst gebackenes natürlich – zu ihrer Kaffeetasse an die Fensterbank und schaute zu, wie sich ihr chaotischer Wikinger in einen penibel planenden Mietkoch verwandelte.

„Ich nehme den Hänger mit. Wenn der Herd ganz unmöglich ist, hab ich lieber meinen dabei.“

Kaja reagierte nicht, sie wusste, dass Kalle nur laut dachte und keine Antwort erwartete. Sie benutzte seinen Hänger ohnehin nie, und ohne Auto konnte sie auch mit dem Pferdehänger wenig anfangen. Wenn Marietta Mira zurück zum Hof schaffen wollte, musste sie halt ihr eigenes Auto nehmen.

Kaja half beim Einräumen und grüßte Jesko, der gerade aus der Tür des Nachbarhauses schlurfte, die Augen klein hinter der runden Brille. Er gab nur ein Brummen von sich, ohne die Hände aus den Jackentaschen zu nehmen, und schlug den Weg Richtung Bahnhof ein. Eigentlich konnte der Sechzehnjährige seine Nachbarn gut leiden, aber um Viertel vor sieben war er nie ansprechbar. Kaja grinste nur in sich hinein.

Kalle verschwand im Bad. Als er in der schwarzen Kochhose wieder auftauchte, frisch getrimmt, mit zusammengebundenen Haaren, die silbergraue, taillierte Jacke über dem Arm, küsste sie ihn und drückte eine seiner Pobacken.

„Ey, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz!“

„Das kannst du behaupten, wenn du endlich mal wieder für mich kochst.“

Er streckte ihr die Zunge raus und küsste sie zurück, bevor er sagte: „Ich hoffe, du hast dir die Finger gewaschen nach dem Stall, sonst kann ich mich gleich noch mal umziehen.“

„Oh, du Romantiker! Kein Wunder, dass die Hose feuerfest sein muss.“

„Das ist die Jacke, Schusselchen. Aber den Spruch kannst du dir für dein Buch merken.“ Er strich mit der Hand ihren Rücken hinab. „Feuer in der Kochhose – eine Küchenerotik.“

„Überlass die Titelfindung lieber mir.“ Kaja versuchte, streng zu klingen, aber ihre Mundwinkel zuckten unkontrolliert. Sie schob ihn Richtung Tür. „Du kommst zu spät zum Einkaufen. ‚Schlappe Gurke – faule Eier‘ ist noch abturnender.“

Als der Himmel landeinwärts von Rosa in Gelb überging, ließ Kaja die Privatpferde nach draußen. Eine Weile beobachtete sie, wie Stina den Zaun entlangtänzelte, stampfte und ihre weißen Strümpfe einsaute, was Ares auf der Einzelweide um die Ecke dazu brachte, sich in die Brust zu werfen und den Boden mit seinen Hufen umzupflügen. Dann ging Kaja ans Ausmisten.

Das Handy klingelte, gerade als sie überlegte, eine Pause für einen Zweites-Frühstück-Smoothie einzulegen. Sie warf einen Blick auf das Display und war versucht, den Anruf abzuweisen. Aber das wäre wahrscheinlich nicht fair.

„Hi.“ Kaja stellte die Gabel weg und marschierte ins Haus.

„Guten Morgen.“ Ihre Mutter atmete hörbar auf. „Ich bin froh, dass du wieder erreichbar bist. Dieses Netz ist äußerst unzuverlässig bei euch in der Grenzregion. Wahrscheinlich hast du noch gar nicht mitbekommen, dass ich versucht habe, dich anzurufen.“

„Übersetzung: Schaff dir gefälligst einen Festnetzanschluss an und ruf mich sofort zurück, wann immer ich anklingele.“ Kaja trat sich die Stiefel von den Füßen.

„Das habe ich nicht gesagt. Aber immerhin klingt es so, als sei alles normal. Hat euer Dach den Sturm überstanden?“

„Das Reet hält ein paar Sturmfluten aus, deshalb benutzen die Leute das hier seit Jahrhunderten.“ Dass es das gekachelte Dach des Stalls gewesen war, das aufgegeben hatte, sagte Kaja jetzt besser nicht. Sie hasste es, dass sie automatisch wie ein trotziger Teenager klang, wenn sie mit Helena sprach.

In der Küche klemmte sich Kaja das Handy ans Ohr, kramte Spinat aus dem Tiefkühler, warf eine Handvoll in den Mixer und fing an, Mango zu schälen. Die Fragen ihrer Mutter brachten die Unruhe zurück, die sie den ganzen Morgen erfolgreich verdrängt hatte. Der Hof und die Pferde hatten alles so weit überstanden – aber was war mit Mira und Marietta?

„Nicht alles, was althergebracht ist, ist auch gut, das muss ich dir nicht sagen, oder?“ Ihre Mutter räusperte sich geziert. „Wenn euch das Geld fehlt, es neu machen zu lassen …“

„Mama, wir leben nicht in einer Ruine, wir sind trocken geblieben und ich habe zu arbeiten.“ Kaja schleckte sich etwas Mangosaft von den Fingern. „Gibt es etwas Wichtiges?“

„Mich nach deinem Wohlbefinden zu erkundigen finde ich sehr wichtig.“ Helenas Rückzugsort: der Kühlschrank. Wie immer. Das machte es leichter, ebenso kalt zu antworten.

„Nun, das ist ja geklärt. Danke für deinen Anruf und Grüße. Bis Donnerstag.“ Zehn Uhr, ihre wöchentliche Telefonzeit.

Helena erlaubte sich ein Seufzen. „Bis dann.“

Eine Hand am Knopf des Mixers, die andere auf dem Handydisplay statt auf dem Deckel – Kalle würde sie killen, wenn er das sähe –, suchte Kaja nach Mariettas Nummer. Eine Ansage teilte ihr mit, der Gesprächspartner wäre zurzeit nicht erreichbar. Ebenso wenig wie Sasha. Dabei hatte Frau Rain doch gestern mit ihr gesprochen. Vielleicht war Sasha auf dem Festnetz zu kriegen, aber die Nummer besaß Kaja nicht.

Widerstrebend wählte sie die Rains an. Kaum war das Freizeichen ertönt, wurde bereits abgenommen – zum Glück war es Mariettas Vater. Halb flüsternd teilte er Kaja mit, dass seine Frau endlich ein paar Minuten schlafe, sie nichts von Tochter oder Pferd gehört hatten und die Polizei voraussichtlich heute auf Hof Sturmwolke auftauchen werde.

Kaja zog an ihren Haaren. Nichts von dem, was der Mann gerade gesagt hatte, gefiel ihr, aber da musste sie wohl durch. Sie versprach, sich sofort zu melden, wenn sich etwas Neues ergab. Wenn, nicht falls, das sagte sie trotz ihres sinkenden Magens. Und legte auf.

Was blieb noch? Mittlerweile war es ein strahlend sonniger Februartag mit weiter Sicht, vielleicht lohnte es sich, noch einmal an den Deich zu fahren? Die Feuerwehr anzurufen oder die DLRG … Kaja musste gestehen, dass sie sich nicht sicher war, wer eigentlich für die Küste hier zuständig war. Soweit Kaja wusste, hatte meist Johann, der Fahrer der Lorenbahn, der die Halligen mit Post und Lebensmitteln versorgte, Wattwanderer vom Bahndamm eingesammelt, die vom Wasser eingeholt worden waren. Die Feuerwehr hatte sich um eine Schäferin gekümmert, die ihr Schaf hatte retten wollen und dabei selbst in Seenot geraten war. In einem spektakulären Fall waren THW und die Luftrettung mit Hubschrauber dazugekommen, um einen kilometerweit abgetriebenen Surfer aufzufischen. Alles schön in Sichtweite der Mole, aber Kaja war sich blöd dabei vorgekommen, dort zu stehen und zu gaffen. Vielleicht hätte sie es tun sollen, dann wüsste sie jetzt, wen sie fragen konnte.

Die Rains vertrauten auf die Polizei, aber ob das langte? Andererseits würde es die Bullen kaum beeindrucken, wenn außer den Eltern noch die Besitzerin des Reitstalls anrief und drängelte.

Kaja fuhr sich über ihren raspelkurzen Undercut, suchte Ruhe in dem sanften Kitzeln der Borsten. Sinnloses Gedankenkarussell. Sie trank ihren Smoothie direkt aus der Kanne des Mixers, ging in den ersten Stock hoch, drehte Omnia auf und machte sich endlich über diese furchtbare Buchhaltung her, die sie seit Tagen vor sich herschob. Den Teufel mit dem Beelzebub austreiben, wie ihr Opa Gernot – väterlicherseits und Pfarrer obendrein – gesagt hätte.

Das Schrillen der Türklingel riss Kaja aus ihrer Konzentration. Ein Blick in die Symbolleiste des Computers verriet: fast halb zwei. Als sie aufstand, erfasste Kaja ein leichter Schwindel. Wieder zu wenig getrunken, dabei stand die Wasserkaraffe im Bücherregal direkt neben ihr! Sie nahm schnell ein paar Schlucke, ohne sich um ein Glas zu bemühen, da klingelte es schon wieder.

„Ich komme!“, rief sie, ohne zu wissen, ob man das draußen überhaupt hören konnte, und schlitterte in ihren Schlappen die ausgetretene Holztreppe hinunter. Die Post oder …

Polizei, dachte Kaja sofort, als sie die Haustür öffnete. Zwar trug keiner der beiden eine Uniform, aber sie hatte in ihren wilden Jugendjahren in Frankfurt einen recht guten Riecher für Bullen entwickelt. Hatte was mit diesem bohrenden, tendenziell arroganten Blick zu tun. Die Frau stand Kaja direkt gegenüber, trug eine rote, dick gefütterte Jacke und hatte sich offenbar gerade die dunkle Sportmütze vom Kopf gezogen, das kurze braune, von wenigen grauen Strähnen durchzogene Haar klebte ihr verwuschelt an der Stirn. Ihr Kollege blieb dicht hinter ihrer Schulter, ein stämmiger Kerl, noch ein Stück kleiner als sie, ein Babyface mit einem lächerlichen schwarzen Flaum auf der Oberlippe. Ob die Verbrecher den überhaupt ernstnehmen konnten?

„Kaja Heidebrink?“, fragte die Frau.

„Ja?“ Kaja versuchte, nicht abweisend zu klingen. Immerhin machten die beiden endlich ihren Job, nachdem Marietta schon über fünfzehn Stunden verschwunden war.

„Stefanie Petersen von der Kriminalpolizei in Niebüll. Das ist mein Kollege Liam Kasprzycki. Es geht um Marietta Rain. Sie haben …“

„Entschuldigung“, unterbrach Kaja. „Darf ich bitte Ihre Ausweise sehen?“

„Natürlich.“ Petersen griff in ihre Jackentasche. Kriminaloberkommissarin, aha. Der Mann zögerte einen Moment. Vielleicht glaubte er, es langte, wenn sich einer von ihnen auswies. Kaja sah ihn über die Schulter seiner Kollegin hinweg auffordernd an, bis er ebenfalls sein Mäppchen zückte. Blaues Papier, schwarzes Wappen – Kaja legte einen Finger auf die Plastikfolie, um den Ausweis so ins Licht zu drehen, dass es nicht spiegelte. Sie nahm sich Zeit, sich die Schreibweise des Namens Kasprzycki einzuprägen. Gleichzeitig rumorte es in ihrem Magen, und das war nicht nur der Hunger.

„Warum Kriminalpolizei?“ Kaja zog die Hand zurück und fixierte Petersen, ohne die Haustür freizugeben.

„Können wir das drin besprechen?“

Kaja trat einen Schritt vor und sah sich um. Am Nachbarhaus bewegte sich kein Vorhang, und auf der schmalen Straße war niemand zu sehen. Auffällig war nur der schwarze BMW mit dem ausgeschalteten Blaulicht auf dem Armaturenbrett, der die Einfahrt zum Hof blockierte.

„Warum, was ist los?“

„Sie haben gestern Frau Rain und ihr Pferd am Deich gesehen, richtig?“ Petersen blieb höflich-distanziert, das reizte Kaja nur noch mehr.

„Hab nach ihr gesucht und die Eltern informiert, die Sie angerufen haben, ja. Haben Sie sie gefunden?“

Kasprzycki zog im Hintergrund ein wenig die Schultern hoch und schaute zur Seite. Petersens Blick aus braungrünen Augen war dagegen so intensiv, als lauere die Polizistin auf irgendetwas. „Marietta Rain wurde vor etwa zwei Stunden unweit des Deichs im Watt gefunden. Sie ist tot.“

Nein, das hatte sie sicher falsch gehört. „Tot?“ Das konnte nicht sein.

„Tot, ja. Es tut mir leid. Waren Sie befreundet?“

„Tot?“, wiederholte Kaja noch einmal und ihr Finger wickelte sich wie von selbst in ihre Dreadlocks ein. Es war wieder wie mit Zotti, wie mit Olec. Der Unfall, die Überdosis. Nein, das ist ewig her. Bitte nicht. Deshalb bin ich nicht hierher gezogen!

„Frau Heidebrink? Wollen Sie sich vielleicht setzen?“

Das klang überzeugend besorgt, die Frau war eine gute Schauspielerin. Es konnte sie unmöglich so sehr berühren, wie sie tat. Schließlich war das ihr Job.

Kaja bewegte den Kopf, kein Nicken, kein echtes Kopfschütteln. Alles war taub. Ihr Gehirn weigerte sich, diese Information zu verarbeiten. Nein, sie war mit Marietta bei Weitem nicht so eng befreundet gewesen wie mit den anderen, die sie verloren hatte. Aber sie hatte sie noch gesehen, nach ihr gesucht …

„Was ist passiert?“

„Vermutlich ist sie mit ihrem Pferd ins Meer gestürzt und ertrunken. Die endgültige Bestätigung der Todesursache steht noch aus.“ Petersen fuhr sich durchs Haar.

Diese menschliche Geste riss Kaja ein wenig aus ihrer Erstarrung. Ihr fröstelte, als eine eisige Böe über den Deich herunterkam und ihr in den Pullover fuhr.

„Stall“, sagte sie flach und drehte sich zur Garderobe um. Stiefel und Mantel waren noch etwas klamm, aber es ging.

„Gute Idee“, sagte die Polizistin. „Das wäre ohnehin unsere nächste Bitte gewesen, den sehen zu dürfen.“

Kaja stapfte voran, hakte das Tor auf und tastete nach dem Lichtschalter. Zwar fiel staubiges Sonnenlicht durch die kleinen Fenster, doch es drang nicht bis in alle Winkel. Im Vorbeigehen strich Kaja wieder über Agathes Foto. Auf der Schwarz-Weiß-Aufnahme war ihre Oma deutlich jünger, als Kaja sie kennengelernt hatte, dafür trat die Ähnlichkeit mit dem Gesicht, das sie jeden Morgen im Spiegel betrachtete, umso deutlicher zutage. Vor allem die große Nase. Agathe lachte in die Kamera, Wange an Wange mit ihrem Fliegenschimmel Jungo.

Hilf mir, Oma! Das war wohl das, was bei Kaja jemals einem Gebet am nächsten kam. Schon zu Lebzeiten war Agathe ihr guter Schutzgeist gewesen.

Kajas Blick begegnete dem der Polizistin, die natürlich alles beobachtet hatte. Ohne darauf einzugehen, deutete Kaja auf die letzte Box in der Reihe für Privatpferde. „Alles ist noch genau so, wie Marietta es gestern Abend verlassen hat. Ich war draußen spazieren und wusste nicht mal, dass sie hier war. Als sie an mir vorbeigezischt ist, habe ich sie zu spät erkannt.“

Petersen öffnete den Reißverschluss ihrer Jacke und zog einen Notizblock aus der Innentasche. „Wann war diese Begegnung am Deich?“

„Kurz nach acht. Ich hab aufs Handy geschaut, aber hatte keinen Empfang.“

Die beiden Polizisten gingen die Stallgasse entlang und standen etwas hilflos vor Putzkasten und Halfter. Was wollten sie auch tun – Fingerabdrücke nehmen?

Kaja lehnte sich an die Tür der Stuten-Gemeinschaftsbox und pfiff durch die Zähne. Kurz darauf schob Precious die Plastiklamellen mit der Nase zur Seite, wuchtete ihren unförmigen Körper durch den Türrahmen und kam herübergetrabt. Mit der einen Hand griff Kaja in die borstige Mähne der schwarz-grauen Stute, mit der anderen suchte sie in ihrer Manteltasche nach einem Leckerli. Während Precious mit weichen Lippen nach dem Pellet langte und es krachend zwischen den Zähnen zermalmte, atmete Kaja den beruhigenden, warmen Pferdegeruch ein.

Kasprzycki bückte sich und wühlte im Putzkasten herum, bevor er zu Kaja hinübersah. „Haben Sie irgendwo ein Handy gesehen?“ Seine Stimme war erstaunlich tief für so einen Bubi.

„Mariettas Handy? Nein. Das hat sie wohl kaum hier gelassen.“ Hieß das, sie hatten es nicht bei ihr gefunden?

Petersen kam langsam zurückgewandert und blätterte dabei in ihrem Notizblock. „Was ist mit Ihrem Lebensgefährten, Herrn … Franz Xaver Pastors?“

Natürlich hatte sie sich vorab informiert. Was wohl so alles über Kalle und sie drinstand in deren Computern? Kaja zögerte kurz, fast kam es ihr wie Verrat vor, aber Verschweigen hatte auch keinen Sinn.

„Der war hier. Er hat abends beim Füttern kurz mit Marietta gesprochen. Hat aber nicht mitgekriegt, wie sie weggeritten ist.“

Precious reckte ihren Kopf über die Holzwand und tastete Kaja, so weit sie sie erreichen konnte, nach weiteren Leckereien ab. Schneeflocke kam hinter ihr durch die Lamellen und schnaubte empört, weil ihr nicht zuerst etwas angeboten worden war. Energisch drängelte sie die schwangere Stute zur Seite.

„Ist Herr Pastors im Haus? Das möchte ich gern aus erster Hand hören.“ Die Polizistin hielt respektvoll Abstand, als Precious die Ohren anlegte und warnend einen Hinterhuf hob.

„Nein, er arbeitet, ich weiß nicht, wie lange. Precious, lass das!“ Kaja angelte zwei weitere Pellets aus der Tasche und streckte beide Hände möglichst weit voneinander aus, um sie den beiden Streithühnern gleichzeitig hinzuhalten. Die arme Mira – war die etwa auch tot? Pferde waren nicht die schlechtesten Schwimmer, aber bei den Wellen?

„Was ist mit Mira – mit Mariettas Pferd?“

„Ja … bei diesem Problem wollten wir Sie um Hilfe bitten.“ Petersen seufzte und steckte ihren Block ein. Kaja konnte aus dem Augenwinkel nicht genau erkennen, warum ihr Kollege immer noch am Ende der Stallgasse herumschnüffelte.

„Ich möchte Sie darum bitten, dass Sie und Herr Pastors morgen auf der Dienststelle in Niebüll vorbeikommen, um eine offizielle Aussage zu unterschreiben.“ Kaja verzog leicht den Mund, da sprach die Polizistin schon weiter. „Wir haben, ehrlich gesagt, noch nie mit einem solchen Fall zu tun gehabt und wissen nicht, wohin mit dem Kad… dem toten Tier. Sonst ertrinken bei einer Sturmflut höchstens ein paar Schafe, aber deshalb ruft niemand die Kripo.“

„Das ist leicht rauszufinden, wenn man Google fragt“, konnte sich Kaja nicht verkneifen zu erwidern. Sie schob zwei Paar aufdringliche Nüstern energisch über die Boxenwand zurück. „Es langt, ab!“ Und danke, fügte sie in Gedanken hinzu, bevor sie sich zu der Polizistin umdrehte, die ihre Stirn runzelte.

„Zuständig für die Entsorgung sind, soweit ich informiert bin, die Besitzer“, sagte Petersen. „Es kommt mir ziemlich makaber vor, die Eltern mit so etwas allein zu lassen, wenn sie gerade ihre Tochter verloren haben.“

Kajas Wangen wurden warm. Musste sie sich von dieser Frau daran erinnern lassen, dass jetzt nicht der Moment war, um schnippisch zu sein. „Tut mir leid, Sie haben recht“, murmelte sie. „Es gibt eine Firma in Jagel, die das im Auftrag des Landes erledigt. Unser Hof ist da angemeldet, ich kann mich drum kümmern. Heute kommen die aber nicht mehr her. Man muss bis spätestens vier Uhr in der Früh anmelden, wenn sie ein verstorbenes Pferd abholen sollen.“

„Danke.“ Petersen nickte. „Sie haben sicher einen Transporter? Dann können Sie uns nachfahren, und wir verladen das Tier, bevor die Flut kommt.“

Auch das noch! „Der Hänger ist hier, aber ich hab kein Auto.“ Allein der Gedanke, eine leblose Mira in den engen Transporter hineinschleifen zu müssen und wieder hinaus, bereitete Kaja leichte Übelkeit. Und wenn ihre Kameradinnen später den Tod riechen konnten? Aber irgendwie mussten sie Mira dort wegholen.

Kaja gab sich einen Ruck. „Der Traktor mit dem offenen Hänger wäre besser, wenn Sie eine Möglichkeit haben, Mira da raufzuschaffen.“

Petersen gab ihrem Kollegen, der näher gekommen war, ein Handzeichen, worauf der sein Handy zückte und nickte. „Dafür ist gesorgt.“

Kaja ließ die Beine aus der geöffneten Traktortür baumeln und wünschte sich einen Joint. Zwar kiffte sie seit Jahren nicht mehr regelmäßig und es war garantiert keine gute Idee, mit Petersen direkt neben sich wieder damit anzufangen, aber immerhin wären ihre Hände beschäftigt und ihre Nerven beruhigt. Der Leichenwagen war schon weg gewesen, bevor Kaja mit ihrer ungewollten Eskorte hier aufgetaucht war.

Sie blinzelte auf das Watt hinaus. Auf dem feuchten, in Wellen aufgeworfenen Sandboden mit den kleinen Wattwurmhäufchen glänzten golden halb gefrorene Pfützen. Im Gegenlicht der tiefstehenden Sonne zeichnete sich der Kran wie ein Scherenschnitt schwarz vor dem Horizont ab. Der Arm schwenkte herum, um seine Last auf die Tragfläche des Raupenfahrzeugs abzusenken. Aus dieser Entfernung – sicher zweihundertfünfzig, dreihundert Meter vom Deich – war Mira nur ein unförmiger Klumpen am Ende des Seils. Möwen kreisten über den Fahrzeugen, ihr Kreischen untermalte das Brummen der Motoren.

Einfach so, mitten im Watt. Als ob das Meer plötzlich das Interesse an seinem Spielzeug verloren hätte.

„Sind Sie so nett und geben mir Ihre Telefonnummer, falls es noch Fragen gibt, die wir vor Ihrem Besuch auf der Dienststelle klären müssen?“ Petersen, jetzt wieder mit Mütze, reichte Kaja ihr Visitenkärtchen, auf das sie eine Handynummer notiert hatte.

Kaja verzichtete darauf, der Polizistin zu sagen, dass man die Sturmwolke-Homepage schnell finden konnte. Sie nickte vage, steckte die Karte ein und tastete in der Innentasche ihres Mantels nach einem Flyer. Ja, da war noch einer, zerknittert, aber lesbar.

Petersen strich ihn glatt und faltete ihn zusammen, bevor sie ihn in ihren Notizblock schob. „Warum Sturmwolke?“

„Nach einem Buch“, sagte Kaja und schaute wieder auf das Watt hinaus. Es schepperte, als die Männer offenbar den Karabinerhaken ausklinkten, der das tote Pferd am Kran befestigt hatte.

Genauer gesagt, das allererste Pferdebuch, das sie je gelesen hatte, aber das verriet Kaja nicht. Agathes Geschenk, natürlich. Es war eins ihrer eigenen Lieblingsbücher aus den Sechzigern gewesen. Darin wollte der Besitzer eine junge Stute erschießen, weil ihr Bein gebrochen war. Aber ein Junge brachte ihn dazu, ihm das Tier zu schenken. Er pflegte Sturmwolke gesund, gewann mit ihr ein großes Rennen und kehrte dann dem Ruhm den Rücken zu, weil er sah, wie sehr es seine vierbeinige Freundin angestrengt hatte.

Petersen hatte schon wieder was gefragt. „Hm?“, machte Kaja, ohne den Blick vom Horizont abzuwenden. Das Raupenfahrzeug krallte seine Ketten in den Schlamm und kroch auf sie zu. Der Kran, ähnlich ausgestattet, wendete langsam und folgte, eine Schleppe aus Möwen hinter sich herziehend.

„Warum ein literarischer Reiterhof? Wie muss ich mir das vorstellen?“

„Weil’s das noch nicht gab.“ Warum sollte Kaja vor dieser Fremden ihre Träume ausbreiten? Ausgerechnet jetzt? „Viele, die bei uns reiten, sind Autorinnen und Autoren. Wir treffen uns für Erfahrungsaustausch und Fortbildungskurse.“

„Frau Rain hat regelmäßig an diesen Treffen teilgenommen?“ Der Kugelschreiber der Polizistin klickte.

„Unregelmäßig in letzter Zeit. Erst hat sie mit dem Verlag und dem Lektorat zu tun gehabt, dann ist sie viel unterwegs gewesen für Lesungen und Interviews. Sie haben sicher davon gehört.“ Jeder im Kreis Nordfriesland, der nicht unter einem Stein lebte, hatte davon gehört. Sogar der NDR hatte eine Story gebracht.

„Sie hat mit dem Meerschaum-Verlag in Husum zusammengearbeitet, korrekt?“

„Korrekt“, ahmte Kaja den Tonfall der Polizistin nach.

„Rechnet sich Ihr Konzept? Sie sind … sechsundzwanzig, wie konnten Sie es sich leisten, diesen Hof zu kaufen und aufzubauen?“

Kaja wandte sich der Polizistin zu, versuchte nicht mehr, ihre Gereiztheit zu verbergen. „Hat das irgendwas mit Marietta und Ihren Ermittlungen zu tun?“

Wahrscheinlich hatten die Bullen sie längst durchleuchtet, Schufa und was sie sonst noch so für Spionagetools hatten.

Petersen verzog leicht den Mund. „Warum antworten Sie nur das Allernötigste?“

„Also nicht. Dachte ich mir.“ Kaja kletterte über das Trittbrett hinunter, ließ die Frau stehen und ging um den Anhänger herum, um die niedrige Rückwand hinunterzuklappen.

Jenseits des weiß-roten Flatterbands, das den Fuß des Deichs großzügig absperrte, standen ein paar Spaziergänger, die Kapuzen mit den – hoffentlich – falschen Pelzkragen tief ins Gesicht gezogen.

Die Raupenfahrzeuge rumpelten die mit angeschwemmten Algen bedeckten Pflastersteine hinauf und kamen auf dem Asphaltband neben dem Traktor zum Stehen. „Wo das Meer das Land küsst“, schoss es Kaja durch den Kopf. Mariettas Buchtitel. Wie erbärmlich das in der Realität aussah!

Die Männer in den dunklen, robusten Arbeitsklamotten, klobigen Stiefeln und schwarzen Mützen besprachen sich. Kaja konnte kein Wort verstehen, konnte sich gerade nicht darauf konzentrieren, oder es lag daran, dass sie echtes Friesisch sprachen. Während der Kran sich zurechtmanövrierte, ging Kaja zum Raupenfahrzeug hinüber, reckte sich und berührte Miras Hals. Das Fell war gefroren und knisterte unter ihren Fingern. Die weißen, perfekt runden Flecken am Hals, der grauen Kuppe und den Oberschenkeln leuchteten wie frisch gemalt. Ausgerechnet Mira, die sich immer gern im Schlamm gewälzt hatte, als ob sie ihrem Schimmeldasein trotzen wollte – kam auf diese Weise blitzsauber aus dem Watt, reingewaschen vom Gewitter …

Der Druck in Kajas Kopf nahm zu, als sie den weißen Nasenrücken bis zu den dunkleren Nüstern hinunter streichelte. Die Zunge hing schief aus dem halb geöffneten Maul, die schönen großen Augen mit den langen, weißen Wimpern blickten milchig ins Nichts. Wieso zerriss genau das Kaja das Herz, obwohl doch auch ein Mensch gestorben war?

Sie hatte diese Stute nun einmal besser gekannt als ihre Reiterin. Sie gefüttert, auf die Weide geführt, beim Hufschmied beruhigt, gelegentlich geritten, um Marietta zu zeigen, wie sie die kleinen Marotten austricksen konnte, die sich dieses schreckhafte Wesen angewöhnt hatte …

Kaja wischte sich über die Augen und trat zurück, um Platz zu machen. Die Seilwinde des Krans jaulte auf.

„Wo sind Sattel und Zaumzeug?“, fragte sie Petersen, die sich an den Traktorreifen gelehnt hatte.

„Zur Untersuchung. Es scheint, als habe sich Frau Rain im Steigbügel verheddert und sei nach unten gezogen worden. Passiert das öfter?“

Kaja hatte Dennis von ihrem Ausbildungshof in Hessen vor Augen, wie er kopfüber, das Bein verdreht, über den Reitplatz geschleift wurde. „Sollte eigentlich nicht, aber hin und wieder.“

Der Traktorhänger senkte sich spürbar, als der Kran die vierhundert Kilo Pferd darauf ablud. Kaja zerrte an ihren Dreads, als bräuchte sie noch einen Grund mehr zum Weinen. Wenn sie Pech hatte, musste sie noch weitere vierundzwanzig Stunden diesen schrecklichen Anblick ertragen. Wenigstens war das Wetter kalt genug, dass die arme Mira nicht zu stinken anfangen würde.

Oh, Marietta, warum musste das passieren?

Sturmflutnacht

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